Wirtschaftlicher Boom – Gesellschaftliche Spannungen

Die Privatbank Berenberg hat unter dem 22.Mai 2018 im Rahmen ihrer Reihe Berenberg Makro eine Studie (29 Seiten) zum Thema „Wirtschaftlicher Boom – Gesellschaftliche Spannungen“ veröffentlicht. Als Autor zeichnet Dr. Jörn Quitzau verantwortlich.

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Die Studie folgt stramm den Anforderungen und Klischees der Mainstream-Ökonomie und des Neoliberalismus. Die Mehrzahl der angewendeten Erklärungsmuster sind heute in der Volkswirtschaft üblich, aber decken oft mehr zu als sie erklären können. Trotz der Kritik ist es anzuerkennen, dass Quitzsau den Schritt wagt und Sachverhalte zu erklären versucht, die in der ökonomischen Theorie in der Regel nicht existieren noch wahrgenommen werden. Gesellschaftliche Spannungen sind keine ökonomischen Kategorien und er verweist die Probleme erwartungsgemäß auf die Arbeitsgebiete der eigentlichen Sozialwissenschaften.

Das darf nicht wundern: Die moderne Ökonomie versteht sich mehrheitlich als den Naturwissenschaften näher stehend und weniger den Sozialwissenschaften. Die hochgradige Mathematisierung der Ökonomie kann als eine Folge dieses merkwürdigen Selbstverständnisses verstanden werden.

Quitzau versucht sich in Erklärungen zu Fragen der ‚Gesellschaftlichen Spannungen‘. Seine Erklärungen lassen erkennen, dass seine Perspektive auch in diesen Fragen strikt und eng dem Einmaleins der Ökonomie verhaftet ist. Sie macht ihn blind für jede Erkenntnis, die außerhalb des ökonomischen Denkens liegt. Dabei baut er einen theoretischen Gegensatz auf, der in der Praxis keiner ist oder so auch nicht schlüssig erklärt werden kann:

„Beim gesellschaftlichen Trend zu mehr Individualität und Verschiedenheit verliert das Gemeinsame an Bedeutung.“ Diese Aussage der Studie zeugt von besonderer theoretischer Blindheit: Der Trend könnte ein Beobachtung sein, er ist aber keinesfalls ein Begründung, warum das Gemeinsame abnehmen soll. Die Idee, dass dieses Verhalten durch ökonomische (neoliberale) Forderungen begründet oder zumindest befeuert wird, kommt ihm dabei nicht. Der ‚Trend‘ macht die Zusammenhänge so schön anonym.

Unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik folgt dem neoliberalen Credo, dass jeder einzelne der Schmied seines Glückes sei. Er könne sich keinesfalls auf Solidarsysteme stützen (Ich-AG, Minijobs, u.a.). Die dadurch angestrebte Vereinzelung der Menschen und die einherschreitende Vergötterung des Egoismus und Narzissmus sind deutliche Zeichen einer Entsolidarisierung. Und als Folge verliert das Gemeinsame an Einfluss auf das politische Geschehen. Damit verliert das Gemeinsame aber keinesfalls an Bedeutung für die Menschen.

Es bleibt die Frage, ob tatsächlich mehr Individualisierung und Verschiedenheit – wie behauptet – zu Tage tritt. Ich halte diese steile These für falsch: Individualisierung ist ein Prozess, der vom Individuum ausgeht, das sich schrittweise weiter differenziert. Diese Differenzierung könnte dann zu mehr Verschiedenheit führen. Aber das liegt doch gar nicht vor: Was wir beobachten können, ist eine steigende Vereinzelung (die den Menschen politisch aufgedrängt wird) gepaart mit einen zunehmenden Egoismus, der auch eine Folge der Vereinzelung sein kann. Das ist etwas komplett anderes als die These einer verstärkten Individualisierung.

Führt die Tatsache, dass der Konsum, der gegenwärtig abertausende von Kunden ‚beglückt‘, die mehrheitlich gleich gekleidet sind und denen die gleichen Wünsche vermittelt werden, zu mehr Individualität? Mir kommt bei solchen Bildern eher der Begriff Konformität in den Sinn und das ist m.E. das Gegenteil von Individualität und Verschiedenheit. Je mehr es gelingt, die Menschen zu vereinzeln und gleichzeitig ihre Ansprüche konformer zu gestalten, desto erfolgreicher ist unser Wirtschaftssystem: es kann billig in großen Mengen die weitgehend konformen Bedürfnisse einer massenhaften Zahl von Kunden befriedigen und dabei ziemlich risikolos viel Geld verdienen. Hier degeneriert Vielfalt zur Einfalt!

Eine zweite Aussage der Studie lautet: „ Der Markt liefert den Menschen individuelle, maßgeschneiderte Lösungen:“ Das gilt, wenn überhaupt, nur für einen großen Geldbeutel. Für Otto Normalverbraucher hält der Markt weder individuelle noch maßgeschneiderte Lösungen vor. Der bessere Begriff wäre doch wohl Masse statt Klasse! Wenn der Verbraucher Glück hat, und den Manipulationen des Zeitgeschmacks erliegt, findet er eine Lösung seines Problems: Der Markt liefert nämlich gar nichts. Er stellt bestenfalls etwas zur Verfügung und wenn mir das nicht zusagt, ist mein individueller Ansatz schon am Ende. Zudem wird der Kunde oft durch massive Werbung in einer Weise manipuliert, dass seine Individualität i.d.R. nur auf ganz kleiner Flamme wahrgenommen werden kann.

Dann kommt der neoliberale Hammer: Aus den obigen Markt-Überlegungen, deren Praxistauglichkeit in Frage steht, leitet der Autor dann die These ab: „Bei Kollektivgütern, …, die nicht über den Markt, sondern vom Staat bereitgestellt werden, gilt hingegen: „One size fits all.“ Das erfordert von den Bürgern Kompromissfähigkeit im politischen Bereich, die sie aus anderen Bereichen kaum noch gewohnt sind.“ Es wird also allen Ernstes behauptet, weil der Staat seine Gemeingüter einheitlich und für alle gleich bereitstellt, dass dieses Verhalten einer „One size fits all“ – Strategie entspricht und dass deshalb das ‚Gemeinsame‘ (dessen Eigenschaften der Autor leider nicht herausarbeitet) an Bedeutung verliert. Da fällt mir fast der Griffel aus der Hand.

Max Weber hat hier zum Verwaltungshandeln vor mehr als 100 Jahren die wesentlichen Merkmale zusammengetragen: Handeln für alle nach gleichen Grundsätzen, handeln strikt nach Gesetz, frei von Korruption und Beziehungen, unabhängig von politischer Einflussnahme. Hier legen die Nicht-ökonomen einen großen Wert darauf, dass hier der Grundsatz der Gleichbehandlung(„the law fits all“) gilt. Das ist die eine Seite der Medaille. Für die Gemeingüter, die die öffentliche Verwaltung den Bürgern bereitstellt, gilt primär der Grundsatz der Grundversorgung. Jeder Bürger sollte ohne marktwirtschaftlichen Gewinnaufschlag eine qualitativ intakte Grundversorgung erhalten. Die Vorstellung, die vermutlich hinter dem Argument des Autors steckt, ist der Wunsch der neoliberalen Ideologie, diese Grundversorgung den Regeln eines Marktes zu unterwerfen, damit ein kleiner, exklusiver Kreis damit viel Geld verdienen kann. Das wird aber nicht zum Ausdruck gebracht, sondern es wird i.d.R. die Behauptung in die Welt gesetzt, dass die Aufgabe der Grundversorgung ein privater Unternehmer viel effizienter erledigen könnte. Das Dumme dabei ist, dass die angebliche Effizienz des privaten Unternehmers aufgrund des Monopols, das bei der Grundversorgung herrscht, den Bürger richtig viel Geld kosten wird. Die Frage nach der Qualität wollen wir hier gar nicht ansprechen.

Fassen wir nochmals zusammen: Die Zunahme der gesellschaftlichen Spannungen sind nicht eine Folge des Booms (wie die Überschrift etwa erwarten lässt). Wenn wir von Spannungen innerhalb der Gesellschaft sprechen, dann liegen die Gründe gewiss nicht in einer zunehmenden Individualisierung und Verschiedenheit. Sie sind in den Bestrebungen einer neoliberalen Politik zu finden, den Menschen zu vereinzeln. Er soll für sein Schicksal allein verantwortlich sein. Solidarität mit den Zukurzgekommenen wird gestrichen. Dafür werden der Egoismus und der Narzissmus herausgestellt und bewusst gepflegt. War vor nur 30 Jahren der Egoismus eine fraglos existente, aber fragwürdige Eigenschaft, so wird heute der Egoismus quasi als die ‚Erleuchtung‘ verstanden. Narzissmus wird seit mindestens zwei Jahrtausenden als ein Fehlverhalten oder auch als eine Art Krankheit behandelt. Narzissmus war in der griechischen Klassik ein Stoff für Tragödien. Heute macht man Narzisten zu Präsidenten – auch eine Art Tragödie. Das spaltet die Gesellschaft. Die Gemeinschaft hat ihren Wert an sich verloren. Stattdessen wird der „Hero“ verehrt, der sich (meist) auf Kosten der Gemeinschaft seinen Namen schafft.

Im Text (S. 9 ff.) wird dann die Verteilungsfrage angerissen und weggebügelt. Die Umfrageergebnisse, die der Autor darstellt, führen auf Platz eins die unterschiedlichen politischen Ansichten als Problem an. Die Diskrepanz von Arm und Reich wird als zweiter wesentlicher Grund für gesellschaftliche Spannungen angesehen. Dabei ist die Diskrepanz der politischen Ansichten vernachlässigbar. Dieser mentale Aspekt ist einer freiheitlich-demokratischen Politik inhärent. Der Aspekt von Arm und Reich ist aber ein materieller, gewissermaßen faktischer Gesichtspunkt, der dadurch sein besonderes Gewicht erhält. Er wird vom Autor leider als unbedeutend charakterisiert, weil die Ungleichheit immer schon bestand.

Wenn man dann das dargebotene Schaubild zur Hand nimmt (S. 10) und feststellen muss, dass innerhalb von rd. 50 Jahren 80% der amerikanischen Gesellschaft kaum Einkommenszuwächse zu verzeichnen haben (über die Inflation spricht hierbei niemand) und 20% im gleichen Zeitraum nahezu 200 % zulegen konnten, dann scheint hier doch ein wesentlicher Grund für gesellschaftliche Spannungen zu liegen. Das will natürlich die Klientel einer Berenberg –Bank nicht hören. Also versucht man davon abzulenken.

Man fragt sich, warum es zu diesem Thema keine deutschen Zahlen gibt. Das ist eine unmittelbare Folge der gezielten Aussetzung der Vermögensteuer in den 1990iger Jahren durch die damalige Regierung Kohl. Seit dieser Zeit haben wir in Deutschland zur Frage der Vermögensverteilung im oberen Segment keine valide Statistik mehr. Deutsche Zahlen zu diesem Segment basieren regelmäßig auf windigen Schätzungen, ähnlich jenen, die jedes Jahr bei Forbes die angeblich reichsten Personen der Welt präsentieren. Schätzungen dieser Art sind meist aufgrund der hohen Fehleranfälligkeit konservativ niedrig angelegt und deshalb im Grund aussagenlos.

In der einseitigen Zusammenfassung endet die Studie mit einer Feststellung, die unterschiedlich verstanden werden kann: „Gute Wirtschaftspolitik nimmt die Menschen so, wie sie tatsächlich sind (und nicht wie sie sein sollten)“. Der Autor führt diese Aussage in einigen interessanten Aspekten aus. Er macht deutlich, wieviel mehr Varietät das Verhalten des Wirtschaftssubjekts aufweisen kann. Als logische Konsequenz wäre zu fragen, ob und wie sich diese Varietät auch in den volkswirtschaftlichen Aussagen widerspiegeln? Stattdessen wird stereotyp auf die alten Muster zurückgegriffen und festgestellt: „Die Marktwirtschaft … ist das ideale Wirtschaftsmodell für Menschen, die überwiegend eigennützig handeln und die mit unterschiedlichen (…) Fähigkeiten (…) ausgestattet sind. Der Eigennutz und das Gewinnstreben treiben den Einzelnen zur Leistung an.“ Mit diesem alten Spruch werden all die zuvor beschriebenen Analysen und ökonomischen Verhaltensdifferenzierungen wieder zunichte gemacht. Sie werden wieder über den alten Leisten von Eigennutz und Gewinnstreben geschlagen. Der Begriff des Wettbewerbs fehlt hier noch, um die Mantra unseres Wirtschaftssystems komplett zu machen.

Aber ist das richtig? Die vielfältige Wiederholung macht die Sache nicht besser. Führen diese Begriffe zurück zu mehr Gemeinsamkeit und zu weniger gesellschaftlichen Spannungen? Hat nicht die völlig undifferenzierte Forcierung genau dieser drei Begriffsinhalte die Spannungen ausgelöst? Ist es nicht einzusehen, dass es sehr wohl in einer Gesellschaft eine beachtliche Zahl von Menschen gibt, deren Verständnis von Eigennutz oder Egoismus und  Gewinnstreben nicht ausgeprägt ist? Sie können nicht verstehen, warum sie z.B. ihren ärztlichen Ethos auf dem Altar des Eigennutzes opfern sollen?

Es sind nicht alle Menschen willens und bereit für ein ‚paar Dollar mehr‘ sich ihre (altruistische oder gemeinwohlorientierte) Einstellung abkaufen zu lassen. Es ist nicht so, dass alle Menschen das ökonomische Ideal von ausgeprägtem Eigennutz, Wettbewerb und Gewinnstreben verinnerlicht haben. Und genau diese Menschen repräsentieren im Kern den Kit, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Dieser Kit schafft die Voraussetzungen für Gemeinschaft und Vertrauen, damit die Egoisten sich ihre Vorteilnahme überhaupt leisten können.

Ohne diese Gemeinschaft (zu der sie wenig oder nichts beizutragen wissen) könnten sie auch keinen „Erfolg“ haben. Denn für einen, der Erfolg hat, muss es viele geben, die diese Art von  ‚Glück‘ nicht für sich in Anspruch nehmen können oder wollen. Die Leistung spielt dabei nur bedingt die Rolle, die unser Wirtschaftssystem dem Erfolgreichen zurechnet. Wir fokussieren uns auf die Egomanen, vergessen aber, dass der Egomane ein Milieu benötigt, das ihm die Chance gibt, sich hervorzutun.

Hier herrscht es ein völliges Ungleichgewicht in der (wirtschaftlichen) Betrachtungsweise: Die Egoisten sind die ‚Heros‘ und die, die das Milieu geschaffen haben, damit es Heros überhaupt geben kann, existieren weder im Bewusstsein der politischen Eliten noch in der wirtschaftlichen Theorie. Erst wenn wir beide Seiten der Medaille wirklich verstanden haben, werden wir in der Lage sein, eine Wirtschaftstheorie entwickeln, die der Vernunft (und nicht irgendwelchen die Zukunft kommender Generationen zerstörender Interessen) gerecht wird.

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