Wirtschaft 4.0

Unter dem Begriff Wirtschaft 4.0 versucht die Bundesregierung einen künftigen wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Zustand zu beschreiben und anzustreben. Er soll sich durch die neuen Möglichkeiten einer umfassenden Digitalisierung auszeichnen. Dabei wird der Mensch als Arbeitnehmer in einem hohen Maße für die Produktions- und Dienstleistungsprozesse überflüssig werden.

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Dieser wirtschaftliche Umbruch wird vielfach als so radikal beschrieben, dass er die wirtschaftlichen Umwälzungen der letzten 200 Jahre in den Schatten stellen soll. Dabei hat man den vergangenen und gegenwärtigen Entwicklungssprüngen die Nummern 1.0 bis 4.0 zugewiesen, um sie leichter beschreiben zu können. Es wird damit ein Bezug zu Programm -„Releases“ in der digitalen Welt hergestellt.

Die erste Umwälzung (Wirtschaft 1.0) kam am 1800 mit der Einführung der maschinellen Massenproduktion.  Die nachfolgende Stufe (Wirtschaft 2.0) ist durch die Einführung von Akkord- und Fließbandarbeit gekennzeichnet. Die Wirtschaft 3.0, deren Beginn in den 1970er Jahren gesehen wird, lässt sich mit der Automatisierung durch Computer und eine umfassende Einführung von IT  beschreiben. Die nun verheißene Wirtschaft 4.0, auch als „Zeitalter der Digitalisierung“ umschrieben, nutzt die Vernetzung und Digitalisierung weiter Bereiche der Wirtschaft, um im Sinne des Kapitalismus noch schneller und noch effizienter zu werden. Wenn man sich die Zeitverläufe der jeweiligen Veränderungen anschaut, fällt sofort ins Auge, dass sich die Zeitintervalle innerhalb der Stufen rasend verkleinert haben.

Die Protagonisten der künftigen Technologie beschreiben deren Entwicklung in den höchsten Flötentönen und versuchen uns das Bild einer Welt zu Füßen zu legen, in der nur noch Milch und Honig fließen. Es ist gut nachzuvollziehen, dass technikaffine Menschen diesem Charme und den sirenengleichen Lockungen dieser Darstellungen erliegen. Es ist ohne Frage ein Sprung des menschlichen Geistes und seiner Ingenieurkunst, der manchem den Atem raubt. Die Entwicklung scheint auch so weit fortgeschritten, dass die Prognosen zu dieser neuen Technologie in ihren Grundzügen auch Realität werden können. Dafür steckt einerseits zu viel geballtes Geld dahinter und andererseits braucht der globale Kapitalismus als Wirtschaftsform ein neues Entfaltungspotenzial. Sonst würde der Mangel an neuem Potenzial m.E. umgehend sein Niedergang einläuten. Da sich aber die allgemeinen Randbedingungen nicht verändert haben (die ökologischen Fragen, der Raubbau der Ressourcen, der Niedergang der Demokratie, u.v.a.m.), kann man davon ausgehen, dass die neue Entwicklung das System nur kurzzeitig beleben wird. Letztlich wird das System wieder vor den gleichen ungelösten Fragen stehen, die auch schon in den letzten 15 Jahren gelten und nicht gelöst wurden. Neben diesen alten Fragen werden neue zusätzliche Probleme auftauchen.

Wie könnte denn die Kehrseite der Medaille im Zeitalter der Digitalisierung aussehen? Das ist deutlich schwieriger zu beschreiben als die Vorzüge einer digitalen Technologie zu preisen. Die Kehrseite ist einer Mehrzahl von Menschen gar nicht klar. So wie viele mit dem Begriff „4.0“ nichts verbinden, umso weniger sind sie sich über die Folgen dieses Technologiewandels im Klaren. Die ersten Anzeichen zur Umsetzung der Technologie sind aber schon festzustellen, werden jedoch selten mit der Technologie in Verbindung gebracht.

Der Bankensektor (ausgenommen der Investmentbankensektor) als auch der Versicherungssektor unterliegen z.B. gegenwärtig einer radikalen Umwälzung, wobei sich zwei Gründe die Hand geben: Zum einen – und das wird stark herausgestellt – ist es die schwierige, politisch gewollte Zinssituation. Als Folge sinkt die Ertragsfähigkeit zum Teil dramatisch. Zum anderen die Fragestellung, warum muss der Zahlungsverkehr immer noch über Banken abgewickelt werden und warum muss der Kunde dafür ein unverhältnismäßig großes Entgelt entrichten? Für welche Dienstleistung? Für die Bereitstellung eines Kontos und eines Internetzugangs? Diese Entwicklung trifft insbesondere die Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Man sieht die Bank monatelang nicht und bezahlt trotzdem deren überdimensionierte Infrastruktur, die noch vor wenigen Jahrzehnten als richtig und sinnvoll erkannt und ausgebaut wurde. Viele Filialen werden schließen und Geldautomaten übernehmen die Bargeldausgabe. Mit anderen Worten: für ihr Basisgeschäft brauchen die Banken nur noch einen Brauchteil des Personals, das heute noch dort beschäftigt ist. Die fortschreitende Digitalisierung führt also dazu, dass offensichtlich wird, dass in dieser und anderen Branchen zu einem hohen Prozentsatz zu viel Personal unterhalten wird. Das ist aber nur die Kostenseite.

Was werden die Unternehmen tun, um sich hier „wettbewerbsfähig“ aufzustellen: sie werden Schritt für Schritt Personal entlassen. Da der Bankensektor insgesamt betroffen ist, werden die „freigesetzten“ Banker kaum eine reelle Chance haben, in ihrem angestammten Kompetenzfeld eine neue Aufgabe zu finden. Diesem Problem sehen sich nicht nur die Banker gegenüber.  – Auch die Autoindustrie wird unter dieser Entwicklung leiden. Hier trifft die Digitalisierung mit der Umstellung auf E-Mobilität zusammen: Die Digitalisierung wird die Werkshallen weiter leeren und die E-Mobilität benötigt technisch einfachere Fahrzeuge in geringerer Stückzahl. Einerseits führen sich nicht nur die PKWs in den vielen Staus und bei der Parkplatzsuche ad absurdum. Es sind einfach in den Ballungszentren zu viel Automobile. Andererseits zeichnet sich ein Trend ab, dass das Auto seinen sozialen Status verliert. Das Automobil verliert seine Exklusivität. Das Auto reduziert sich schlicht auf ein Mittel zur Mobilität. Und das Thema Mobilität lässt sich auch mit anderen Mitteln darstellen.

Eine lange Geschichte auf einen kurzen Nenner gebracht: Die Zahl der Menschen, die in den nächsten zwanzig Jahren ihre angestammte Arbeit durch Digitalisierung verlieren werden, wird laufend zunehmen. Die unterschiedlichen Prognosen kommen auf Freisetzungen von bis zu 50% der gegenwärtig beschäftigten Arbeitskräfte. Wenn man davon ausgeht, dass in Deutschland gegenwärtig über 40 Mio. Arbeitnehmer in Lohn und Brot stehen, dann könnten künftig (in etwa 20 Jahren) bis zu 20 Mio. und mehr Menschen aus der Beschäftigung herausfallen. Das Szenario gilt nicht nur für Deutschland, das gilt im Prinzip für alle entwickelten und differenzierten Gesellschaften auf der Nordhalbkugel. Über die Effekte, die sich für die Südhalbkugel hierdurch ergeben, schweigen sich die Prognosen aus.

Die Prognosen erschrecken nicht nur die unmittelbar Betroffenen. Auch die sogenannten Eliten oder jene, die aufgrund ihres Einflusses und ihres Vermögens die Geschicke des Landes informell lenken, sind genauso verschreckt. Dabei spielt die soziale Komponente nur eine geringe, eher nachgeordnete Rolle. Ihre Sorge gilt ihrem Vermögen und ihrem Einfluss. Wenn um die 20 Mio. Arbeitslose auf der Straße stehen, kann man sich leicht ausrechnen, gegen wen wird sich der Unmut der Arbeitslosen richten wird – gewisslich nicht gegen das abstrakte Phänomen der Digitalisierung. Dieses Szenario macht Angst. Und diese Angst der Eliten ist auch recht gut zu beobachten. Nun ist Angst ein extrem schlechter Ratgeber, zwingt aber manchmal die verbohrtesten Teilnehmer in dem Prozess zum Einlenken und einer moderaten Haltung.

Wie stellt man sich nun Lösungen vor?  Diejenigen, die ihr Glaubensbekenntnis auf den Kapitalismus abgelegt haben, sprechen von „Kreativer Destruktion“ und beziehen sich auf eine Idee von Joseph Schumpeter aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Das klingt alles sehr nett und vielversprechend. Sein Konstrukt der Zerstörung und des Neubaus wurde aber noch nie in einer Situation realisiert, in der der soziale Sprengstoff so groß sein wird wie im Rahmen einer realisierten Digitalisierung. Weiterhin kann man trotzdem annehmen, dass viele dieser Arbeitslosen neue Dienstleistungen entwickeln und sogenannte ‚Solounternehmer‘ werden. Das gibt es schon heute und das Problem ist nicht gelöst, weil diese Solounternehmer mehrheitlich in Altersarmut versinken werden – das erzielte Einkommen reicht zum Leben, aber eben nicht für eine vernünftige Absicherung im Alter.  Man wird diese große Zahl von Arbeitslosen nicht ohne heftige politische Gegenwehr in den Niedriglohnsektor pressen können. Andere Arbeit steht in ausreichendem Umfang aus heutiger Sicht nicht zur Verfügung. Das ist letztlich unverändert eine bedrohliche Kulisse.

Ich war ganz verwundert in einem Kreis illustrer Persönlichkeiten plötzlich den Hinweis auf das ‚unbedingte Grundeinkommen‘ aufzuschnappen. Man wischt sich vor Verwunderung die Augen. Bisher galt dieser Ansatz in diesen Kreisen als „sozialistisch“, als „Gleichmacherei“ oder als schlicht unfinanzierbar. Plötzlich wird der Gedanke salonfähig. Aber nicht, weil den „armen Arbeitslosen“ geholfen werden müsste, sondern ausschließlich zur  Absicherung der eigenen Vermögensverhältnisse. Man macht in einer ziemlich ausweglosen Situation gerne finanziell  Zugeständnisse als die Gefahr zu laufen, das Vermögen und den Einfluss in einer nicht mehr steuerbaren Situation gänzlich zu verlieren.  Ähnlich denken die Unternehmen: 20 Mio. Arbeitslose sind ein kaum aufzufangender Ausfall an künftiger Kaufkraft. Also favorisieren viele Unternehmen eine Lösung des ‚unbedingten Grundeinkommens‘ mit dem Ziel, den Kaufkraftverlust so gering als möglich zu gestalten.  Da das Problem global zu verkraften sein wird, ist auch die umstrittene Politik der ‚Exportmaximierung‘ keine tragfähige Lösung.

Die oben gemachten Ausführungen versuchen in dürren Worten die wesentlichen Zusammenhänge darzustellen, wie sie heute von einer Mehrzahl von Fachleuten gesehen wird. Es gibt noch weitere Herausforderungen: Wir haben uns alle die letzten Jahrzehnte über unsere Arbeitskraft und über die Leistungsfähigkeit als Mitglied dieser Gesellschaft definiert. Angesichts der Problematik, dass schlicht ein großer Teil von leistungsfähigen und leistungswilligen Menschen künftig keine Verwendung finden wird, stellt unser Selbstverständnis als Bürger in Frage.  All die hohlen Versprechungen von der Leistungsgesellschaft sind heute schon fraglich, künftig wird diese Aussage einfach lächerlich. Für viele Menschen ist ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellbar. Es ist bei diesen Menschen mit ähnlichen psychischen Auswirkungen zu rechnen, wie man sie bei längerfristigen Arbeitslosen beobachten kann. Wenige werden einen Ausgleich im Ehrenamt oder in der Nachbarschaftshilfe finden können. Aber das ist keine Lösung für alle!?

Wir haben ein Steuersystem, das u.a. das Arbeitsentgelt zur Bemessungsgrundlage hat. Wenn etwa die Hälfte der Arbeitnehmer künftig kein Arbeitsentgelt mehr bezieht, greift die Steuer ins Leere. Der Staatsapparat kommt ins Stottern, weil wesentliche Teile seiner Einnahmen wegfallen. Statt der Arbeitnehmer müssen dann vermutlich die Einrichtungen besteuert werden, die sie ersetzen. Da es bei diesem Ansatz kein Arbeitsentgelt geben wird, wäre eine Besteuerung der Wertschöpfung dieser Einheiten ein adäquater Ausgleich.

Das Fatale der umrissenen künftigen Situation ist ein schwieriger, kaum beherrschbarer gesellschaftlicher Prozess. Wenn es um eine schlichte Umverteilung ginge, also um ein einfaches Strukturproblem, könnte man hier einen (lastenausgleichenden) Schnitt machen und hat eine neue Ausgangssituation. Aber Geld wird bei einem mit einem künftigen Grundeinkommen versorgten Arbeitslosen nicht das Problem sein: er will sich als geschätztes Mitglied dieser Gesellschaft fühlen können und das kann Geld nicht leisten. Die Anerkennung muss aus der Mitte einer gewandelten Gesellschaft kommen. Und damit wird aus einer „tollen“ Technologie ein möglicherweise unbeherrschbares Gesellschaftsproblem. Das Wort „toll“ gewinnt dabei eine doppelte Bedeutung.

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