Was bestimmt die Vermögensverteilung?

Wer sich die Mühe macht, die Darstellungen der Verteilung des Nettovermögens in unserem Gemeinwesen mit Verstand zu lesen, muss sich m.E. ein paar grundsätzliche Fragen stellen: Ist die Verteilung des Vermögens „gottgegeben“? War sie schon immer so? Wie sieht die Verteilung in vergleichbaren Staaten aus? Welche Gründe werden für die bestehende Verteilung des Vermögens angeführt? Sind diese Gründe richtig oder wenigstens der Problemstellung angemessen? ….

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Hierzu kurz ein paar einfache technische Details: Die gegenwärtig verfügbare Vermögensverteilung stammt aus dem Jahr 2017. In jüngerer Zeit hat man festgestellt, dass die Vermögensangaben insbesondere am oberen Ende viel höher sein müssten und auch viel schneller zunehmen als geschätzt wurde. Seitdem die Vermögensteuer in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgesetzt wurde, ist man auf Schätzungen, Hochrechnungen und freiwillige Auskünfte angewiesen.

Die Bevölkerung des Gemeinwesens (also rd. 83 Mio. Einwohner abzüglich 13 Mio. Einwohner unter 17 Jahren) wird in zehn Dezile aufgeteilt. Dabei werden gedanklich die Einwohner nach ihrem steigenden Nettovermögen wie Zinnsoldaten aufgereiht und dann in zehn einwohnermäßig gleich große Dezile verteilt. In jedem Dezil ist das jeweilig festgestellte Vermögen von rd. 7 Mio. Bürgern erfasst. In den meisten Darstellungen wird pro Dezil ein Durchschnittsvermögen angegeben. Das in dem Dezil erfasste gesamte Nettovermögen kann durch Multiplikation des angegebenen Durchschnittswertes mit der Zahl der dort jeweils erfassten 7 Mio. Bürger selbst ermittelt werden.

Was heißt das konkret?[1] Das erste Dezil endet im Durchschnitt mit Schulden von 12.765 Euro, das zweite Dezil weist im Durchschnitt kein Vermögen (= 0) auf, das dritte Dezil kommt auf 1.804 Euro Vermögen – die fünf ersten Dezile weisen zusammen ein Vermögen von 1,3 Prozent bei rd. 35 Mio. Einwohner aus. Das oberste, das zehnte Dezil erfasst im Durchschnitt ein Vermögen von 609.933 Euro und repräsentiert allein 56,1 Prozent des Gesamtvermögens in Deutschland. Die meisten Leser stürzen sich vermutlich auf die Vermögensangabe des zehnten Dezils und greifen empört anhand des Offensichtlichen das massive Ungleichgewicht der Vermögensverteilung an. Die Zahlen des zehnten Dezils sind dabei m.E. aber die wackeligsten, möglicherweise sind sie mangels valider Information und aufgrund großer medialer Vorsicht viel zu niedrig angesetzt.

Den Hammer sehe ich persönlich eher in der Tatsache, dass über 35 Millionen Einwohner der Dezile 1 bis 5 (= 50%) in diesem Land nur 1,3 Prozent des Vermögens auf sich vereinigen können. Und die Schere geht ständig weiter auf, d.h. dass sich die ersten fünf Dezile nicht verändern, aber die oberen Dezile (5 – 9) und insbesondere das oberste Dezil (10) rasant zu nehmen. Da wir davon ausgehen können, dass wir unter keiner ungewöhnlich hohen Arbeitslosigkeit leiden, stellt sich doch die Frage, was die Gründe für diese Entwicklung sind oder sein könnten. Es gibt mit Sicherheit eine ganze Reihe von strukturellen Gründen, die angeführt werden können; wie z.B. der Niedriglohnsektor, der eingeführt wurde, um die Arbeitslosenstatistik zu schönen und gleichzeitig das Potenzial zu erhöhen, Personal für „einfache“, körperlich anstrengende  Arbeiten zu gewinnen. Weiter müssen wir dem vermögenslosen Bevölkerungsteil (Dezil 1-5) auch Teile der 13 Mio. Jugendlichen zuschlagen, die Angabe gemäß in der Statistik gar nicht erfasst sind, so dass deutlich wird, dass der eher vermögenslose Teil unserer Bürger die 50% recht deutlich übersteigt. Politisch betrachtet repräsentiert der Bevölkerungsanteil ein Volumen, das Einfluss gewinnen könnte, jedoch durch den lebensnotwendigen Broterwerb so in Atem und unter Stress gehalten wird, dass die Politik diese Entwicklung glaubt vernachlässigen zu können.

War das immer schon so? Mit leichten Schwankungen ist die Vermögensverteilung seit Jahrzehnten unverändert. Ähnliches gilt für Österreich und auch mit leichten Schwankungen für die gesamte Europäische Union. Damit ist die Vermögensungleichheit kein typisches Problem der deutschen Strukturen. Es könnte also sein, dass dieses Phänomen eine Folge des etablierten Wirtschaftssystems ist, das in der westlichen Welt zu vergleichbaren Wirkungen führt.

Dabei erscheint es sinnvoll, sich die Frage zu stellen, warum rd. 50% der Bevölkerung der westlichen Welt von den Erträgen des Systems tendenziell ausgeschlossen ist. Bisher wurde von konservativer Seite bevorzugt der Gedanke des Leistungsprinzip ins Feld geführt: diesen 50% mangle es eben an der notwendigen Leistungsbereitschaft. Dieses Argument könnte man in Erwägung ziehen, wenn der Prozentsatz bei einem Zehntel (= 5%) und darunter läge, aber die Vorstellung, dass sich in einem prosperierenden Teil der westlichen Welt 50% der Bevölkerung als „Underperformer“ abgetan werden können, sprengt jede Vernunft. Also sollte man sich fragen, ob hier nicht andere Gründe eine Rolle spielen.

Immerhin können wir darauf zurückblicken, dass wir seit etwa zehntausend Jahren so etwas wie ein ‚Wirtschaftssystem‘ betreiben. Unsere heutige Sichtweise auf das Wirtschaften ist eine Entwicklung der letzten 250 Jahre. Unter der Führung der technologischen Entwicklung gepaart mit den Gedanken einer kapitalorientierten Wirtschaftsweise haben sich normative Grundzüge unseres heutigen Wirtschaftssystems wie Wachstum, Effizienz, Wettbewerb und Individualismus in Form des Egoismus als handlungsleitend durchgesetzt.

Was hat sich gegenüber der Zeit davor verändert? Wir können dabei auf Ausführungen von Aristoteles[2] zurückgreifen, der – anders als in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem üblich – das Wirtschaftsgeschehen zu seiner Zeit (vor ca. 2.500 Jahren) beschreibt und interpretiert. Andri W. Stahel[3] von der Universität Barcelona hat auf dieser Grundlage einige interessante Ideen zusammengefasst. Für unser Thema hier kann man Aristoteles m.E. dahingehend zusammenfassen, dass er das Wirtschaften zur Zeit Athens auf zwei grundsätzlich verschiedene Formen reduziert: einmal geht es um das kluge Haushalten und zum anderen um die Chrematistik. Stahel führt diese unterschiedlichen Ansatzpunkte des Wirtschaftens detailliert aus, wobei er dabei besonders darauf hinweist, dass Aristoteles sich weniger mit Tauschwerten als mit Gebrauchswerten befasst hat.

Konkret bedeutet das, dass der Wert eines Gutes einmal danach bemessen werden kann, wieviel Gewinn sich durch den Kauf und künftigen Verkauf erzielen lässt (Tauschwertbetrachtung). Im anderen Fall geht es um den Gebrauchswert, den das Gut dem Erwerber vermitteln kann[4]. Diese etwas kompliziert anmutende Beschreibung lässt sich vereinfachend als ein Wirtschaften im Sinne von „Versorgung“ (Gebrauchswert) und als ein Wirtschaften im Sinne von Handel mit systematischer Gewinnerzielungsabsicht (auf der Basis von Tauschwerten) darstellen. Die „Versorgung“ basiert auf einer Vorstellung von maßvoller Lebenskunst mit dem Schwerpunkt eines „Guten Lebens“ und unterliegt natürlichen Grenzen, die das ‚menschliche Maß‘ zieht. Der Handel dagegen ist die wesentliche Grundlage der Chrematistik, der „Kunst des Reichwerdens“ oder wie Stahel es profaner ausdrückt: Es ist die Kunst des Geldmachens! (the art of money-making)[5]. Diese Unterscheidung existiert auch heute noch unter anderen Namen: Das eine nennen wir heute „Realwirtschaft“ und die Chrematistik wird heute hauptsächlich im Rahmen des „Finanzmarktes“ wahrgenommen.

Zwar erscheint der Finanzmarkt vielen als grenzenlos. Aber auch das „Geldmachen“ hat letztlich seine Grenzen, denn die wundersame Geldvermehrung verlangt als unerbittliche Gegenleistung die Übernahme des Risikos, dass das Vertrauen in das im Grunde „wertlose“ FIAT-Geld[6] verloren gehen könnte. Nur ist die Frage, wer trägt am Ende dieses reale Risiko des Finanzmarktes – die Akteure der Chrematistik oder der „kleine Mann“, der es mit seinen Steuergroschen über die Jahre wieder richten soll? Wenn die Blase platzt, muss die Finanzwirtschaft gewöhnlich – weil angeblich „too big to fail“ – durch Aufnahme eines riesigen Schuldenberges durch die Staatsregierungen oder die Zentralbanken („what ever it takes“, – Draghi 2008) gerettet werden, um ein größeres Chaos zu verhindern. Da diese Schulden zumindest vorerst nicht getilgt werden (können), verbleibt das damit geschöpfte Geld im Umlauf und befeuert den Beginn der nächsten Blase des Finanzmarktes.

Aus der Darstellung kann man schließen, dass (mindestens) zwei Ausprägungen gibt von dem, was wir „Wirtschaften“ nennen: Einmal gibt es eine Realwirtschaft, deren Schwerpunktziel in der Versorgung mit Gebrauchswerten und notwendigen Dienstleistungen liegt. Und es gibt offensichtlich eine Finanzwirtschaft, die sich zu einem geringen Teil um die ungeliebte (weil gering verzinsliche und personalintensive) Finanzierung der Realwirtschaft kümmert und im Wesentlichen den Finanzmarkt als ihr eigentliches hoch rentables Betätigungsfeld versteht, das die wesentliche Grundlage der aristotelischen Chrematistik darstellt.

Aber wie hängen diese beiden Seiten des Wirtschaftens zusammen? In die Realwirtschaft steigt man üblicherweise ein, indem man seine Arbeitskraft erfolgreich verkauft. Mit dem Erfolg gewinnt man im ersten Schritt die Möglichkeit Rücklagen und Kreditwürdigkeit zu bilden. Erbschaften verkürzen diesen Weg. Mit zunehmenden Rücklagen eröffnet sich einigen Interessierten der Finanzmarkt und bietet die Möglichkeit, neben dem Verkauf seiner Arbeitskraft ein weitgehend leistungsloses Einkommen zu generieren. Es ist deshalb leistungslos, weil das eingesetzte Geld ohne nennenswerten eigenen Leistungsbeitrag bei überschaubarem Risiko seinerseits Geld (Rendite) produziert. So läuft die Theorie.

In der Praxis muss aber der Verkauf der Arbeitskraft nach Abzug der persönlichen Aufwendungen die Möglichkeit bieten, ausreichende Rücklagen zu bilden. Wenn das nicht gelingt und auch das Erben keine Zuflüsse generiert, ist der Weg zu einem leistungslosen Einkommen m. E. in den meisten Fällen verschlossen. Damit lässt sich ein (so scheint es mir) beachtlicher Teil der erheblich schiefen Verteilung von Vermögen erklären. Ab einer bestimmten Höhe des Vermögens verliert auch das Einkommen aus dem Verkauf von Arbeitskraft seine Bedeutung für den Vermögensaufbau. Vermögen kann dann zum Selbstläufer werden. Diese Entwicklung wird auch dadurch unterstützt, dass wir das Arbeitseinkommen, insbesondere in den oberen Einkommensregionen ordentlich besteuern, aber für das Einkommen aus Finanzvermögen ist nur eine Pauschalbesteuerung auf relativ niedrigem Niveau vorgesehen.

Wenn sich das so „einfach“ darstellt, warum gibt es dann noch eine Realwirtschaft? Wir als auch die Finanzwirtschaft leben von der Realwirtschaft, sie stellt unsere tägliche Versorgung sicher. Aber um eine Versorgung darstellen zu können, benötigt auch die Realwirtschaft finanzielle Mittel, die wiederum im Rahmen der Finanzwirtschaft bereitgestellt werden. Das ist der normale Zusammenhang im täglichen Geschäft. Chrematistisch wird die Finanzwirtschaft in dem Moment, indem sie Möglichkeiten bereitstellt, spekulativ (ohne strikt realwirtschaftliche Geschäftsgrundlage) und ohne nennenswerten persönlichen Arbeitseinsatz Geld aus Geld zu machen. Damit entstehen in immer kürzeren Zeiträumen unseriöse „Blasen“, die sowohl die Realwirtschaft als auch die Finanzwirtschaft in Gefahr bringen zu kollabieren. Man darf sich nicht der Vorstellung hingeben, dass mit der Realwirtschaft nicht auch ein Vermögensaufbau möglich ist, aber er erscheint mühsamer und arbeitsintensiver, bildet dafür aber nur selten „Blasen“. Idealerweise kombinieren jene, die es sich leisten können, den realen Vermögensaufbau zusätzlich durch ein vorsichtiges Ausnutzen der Möglichkeiten der Chrematistik.

Ein Gesichtspunkt bleibt oft unbeachtet: Wenn es um Vermögen geht, ist die Erziehung und die Kenntnis der Zusammenhänge von großer Bedeutung. Hier versagt m.E. unser Bildungssystem. Erst wenn ich in groben Zügen verstanden habe, wie Wirtschaften läuft und was Wirtschaften für meine eigene Vermögensbildung beitragen kann, bin ich in der Lage, mir frühzeitig Gedanken darüber zu machen, welchen Stellenwert ich dem Aufbau von Vermögen geben möchte.

Wir sollten es tunlichst vermeiden, alle zu Chrematistikern zu machen, aber wir alle müssen wissen, was das für den einzelnen bedeutet. Aus meiner persönlichen Beobachtung heraus gibt es Menschen, die werden mit einem chrematistischen „Gen“ geboren und bauen dieses oft gezielt aus. Ich nenne sie gerne die „Dealer & Wheeler“. Andere Menschen haben einen komplett anderen Fokus, z.B. viele Menschen, die sich für soziale Berufe entscheiden, sich für andere Menschen einsetzen und dort große Zustimmung erfahren, können mit einer chrematistischen Lebenseinstellung gar nichts anfangen. Das ist nicht ihr Ding und das ist zu tolerieren!

Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in einer Umgebung leben und arbeiten, die von einer hohen Dominanz wirtschaftlichen und chrematistischen Denkens geprägt ist. Die Dominanz ist so heftig, dass wir auch erkennen müssen, dass dieses Denken uns künftig in ernste ökologische Schwierigkeiten bringt. Dabei ist nicht das grundsätzlich wirtschaftliche Denken das Problem. Wir wirtschaften historisch gesehen seit etwa zehntausend Jahren und daran kann nichts grundsätzlich Falsches sein. Aber wir haben zunehmend Wirtschaften mit Chrematistik verwechselt und dabei fallen insbesondere jene hinten runter, denen das „chrematistische Gen“ (das Geld machen um seiner selbst) nicht vermittelbar ist.

Wir stehen an der Wende zu einem anderen Verständnis von Wirtschaften und werden uns wohl mehr auf die historische Entwicklung berufen müssen als auf unser eher chrematistisch dominiertes Verhalten, das wir in den letzten 250 Jahren entwickelt haben.


[1]  Bilder in den Text einzufügen, funktioniert hier technisch leider nicht. Deshalb der Hinweis auf eine Darstellung im Internet:  https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61781/vermoegensverteilung/  Sie ist auch Grundlage der weiteren Ausführungen.

[2]  Aristoteles, Hauptwerke, S. 285 ff. (Politik) , Taschenbuchausgabe Stuttgart 1977

[3] Stahel, A. W., Oiconomics: towards a new paradigm in economics, Aus: Real-World Economics Review, 2021, No. 96, S. 234 ff.

[4] Stahel, A. W.; Why the rich getting richer while the poor stay poor? Aus: Real-World Economics, 2020, No. 93, S. 2ff.

[5] Stahel, A. W., Oiconomics…, S. 235

[6] Unter FIAT-Geld versteht man eine Funktion des Geldes, dessen Wert ausschließlich auf dem Vertrauen der wechselseitigen Prozessbeteiligten beruht. Eine Bindung an Edelmetall oder ähnliche Garantien gibt es seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr.

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