Warum Nationen scheitern

Unter diesem Titel haben die Autoren Acemoglu (Ökonom) und Robinson (Politologe) 2012 ein interessantes Werk über 600 Seiten vorgelegt, das sich mit den „Ursprüngen von Macht, Wohlstand und Armut“ befasst. Das Buch ist lesenswert; man gewinnt eine weitgefasste Perspektive auf die Welt- und Wirtschaftspolitik der Vergangenheit. Man würde erwarten, auch eine Stellungnahme zur gegenwärtigen Situation zu erhalten. Hier aber schweigt des Sängers Höflichkeit.

» weiterlesen

Aber der Reihe nach: Das Buch entwickelt zu Beginn so etwas wie einen „Werkzeugkasten“, in dem deutlich gemacht wird, nach welchen Kriterien die folgenden Aussagen über das Scheitern getroffen werden sollen, wobei das Scheitern offensichtlich daran festgemacht wird, dass es der betreffenden Nation nicht gelingt, Wohlstand zu schaffen oder zu erhalten.

Der „Werkzeugkasten“ wird dann auf eine Vielzahl von historischen Situationen aus den letzten ca. 600 Jahren angewendet, um zu demonstrieren, dass die Werkzeuge ihren Zweck erfüllen können. Und hier liegt m.E. der Wert des Buches: Ich habe seit langem wieder mal Ausführungen zu historischen Veränderungen und Umwälzungen gelesen, die meinen Horizont in vielerlei Hinsicht deutlich erweiterten. Es bleibt bei mir lediglich die Skepsis, ob der umfassende Blick in Teile der Geschichte tragfähig ist.

Der Werkzeugkasten baut auf dem Begriff der Institution auf und unterstellt, dass es sinnvoll ist, zwei Kategorien von Institutionen zu unterscheiden: inklusive und extraktive. Weiterhin unterteilen die Autoren die Institutionen in politische und wirtschaftliche Institutionen. Gelegentlich tauchen auch die physischen Institutionen auf. Der Begriff der Institution erscheint mir zu „glatt“, zu wenig konkret, ich würde es vorziehen, des leichteren Verständnisses wegen von Infrastruktur eines Staates oder einer Gesellschaft zu sprechen.

Der Begriff ‚inklusiv‘ ist relativ schwierig zu fassen. Sein Gegenspieler ‚extraktiv‘ scheint leichter erklärbar zu sein: Institutionen sind extraktiv, wenn sie ‚ausbeutende Strukturen‘ aufweisen; wenn Strukturen entstehen, die auf unkontrollierter Machtausübung einseitig z.B. Eliten Vorteile vermitteln. Da beide Begriffe das Ganze abbilden sollen, beschreibt der Begriff ‚inklusiv‘ das Gegenteil. Einzelheiten wurden versucht, in der nachfolgenden Tabelle zusammenzufassen.

Inklusiv Extrakiv
Politische Infrastruktur (Institutionen) Der Staat ist zentralisiert u. pluralistisch organisiert, Macht ist breit verteilt u. durchgängig kontrolliert, Gleichwertigkeit der Menschen Macht im Staat ist konzentriert u. unterliegt keiner Kontrolle („Eliten“), Chauvinismus (institutionalisiertes Hierarchiedenken) unterstützt die Ausbeutung,
Wirtschaftliche Infrastruktur (Institutionen) Marktzugang, keine Eintrittsbarrieren, freier Ressourcenzugang, Eigentumsgarantie, neutrales Rechtssystem, öffentliche Dienstleistungen u. Regeln gelten für alle Eintrittsbarrieren, Marktzugang

beschränkt, Ressourcenzugang beschränkt, neigt zur Korruption, einseitige Begünstigungswirtschaft keine oder geringe öffentliche Dienstleistungen und Regeln gelten zugunsten der Eliten

Physische Infrastruktur Steht uneingeschränkt allen zur Verfügung, wird auch von allen geschaffen bzw. öffentlich finanziert, private Infrastruktur, Nutzung ist entgeltlich und beschränkt, keine öffentliche Nutzung vorgesehen

 

Die zahlreichen historischen Anwendungen dieses Werkzeugkastens können hier nicht wiedergegeben werden. Ihre Zahl und ihr Inhalt sind überwältigend und können vom Leser nur zur Kenntnis genommen, aber nicht bewertet werden.

Der Titel „Warum Nationen scheitern“ vermittelt den Eindruck, dass das Scheitern eine Ausnahme sein könnte. Aber die Zahl der Friedhofsteine für untergegangene Nationen ist riesig und sehr unübersichtlich. Von vielen wissen wir nichts mehr, von einigen nur noch den Namen und ein paar Daten, weil sie nichts Schriftliches hinterlassen haben. Ich möchte die These wagen, dass allen Nationen grundsätzlich irgendwann das Scheitern droht. Die bisher langlebigste „Nation“ ist m.W. das antike Reich der Ägypter und auch da ist nach etwa 5.000 Jahren wechselvoller Geschichte die Nation durch äußere Einflüsse und natürlichem Wandel der Umstände „gescheitert“, unabhängig von inklusiven oder extraktiven Institutionen. Gefühlsmäßig „scheitern“ die meisten Nationen an externen Effekten wie Invasion, Kolonisation, Krieg und nicht zuletzt an hausgemachten Umweltproblemen

In dem vorgestellten „Werkzeugkasten“ tummeln sich implizit diverse Konzepte, die in dem Buch als solche nicht weiter diskutiert werden. Es erscheint mir als Leser, dass der Werkzeugkasten erst in Folge der Diskussion der historischen Ereignisse gewissermaßen „empirisch“ aus dem geschichtlichen Narrativ abgeleitet und aufgebaut wurde. Diese Annahme könnte auch erklären, warum eine inklusive Gesellschaft angeblich zentralisiert aufgebaut sein muss. Clan-Strukturen gelten regelmäßig als extraktiv. Föderativ aufgebaute Staaten scheinen aber dann eher zur Inklusion zu taugen, weil eine weitgehend einheitliche Willensbildung unterstellt wird. Föderative Staaten kommen aber in der Werkzeugkiste gar nicht vor.

Der Werkzeugkasten ist dem Leser vielleicht auch deshalb suspekt, weil viele seiner Kriterien aus der „Moderne“ stammen. Es ist nicht zu erwarten, dass die verwendeten Begriffe vor mehreren hundert Jahren irgendeine Bedeutung gehabt haben könnten. Sie wären von den führenden Köpfen dieser Zeit überhaupt nicht verstanden worden, weil sie in einem völlig anderen Weltbild gelebt haben. Die Extraktion hat es in dieser Zeit sehr wohl gegeben, aber die inklusiven Kategorien, die offensichtlich „aus heutiger Sicht“ ein Scheitern verhindern sollen, waren damals den Menschen nicht oder nur begrenzt vermittelbar. Unbedingte Hierarchie war an der Tagesordnung, Gott war der Herr und die Menschen in Abstufungen seine Diener. Macht war unteilbar, sie leitete sich teilweise von Gott ab und war deshalb gottgegeben. Extraktion als auch ein Begriff des privaten Eigentums waren das Privileg der Mächtigen, sonst hätten sie ja arbeiten müssen. Alle inklusiven Ideen sind Ideen frühestens seit der Aufklärung. Es ist m.E. nicht sinnvoll, zu versuchen, die alten Tage mit „modernen“ Kategorien (wie Demokratie, Anreize, Gleichheit vor dem Gesetz, u.ä.) zu bewerten. Da kommt nach unserem heutigen Verständnis immer ein Scheitern der Nationen heraus.

Nun kommt der Lackmustest: Es wäre doch sinnvoll und wünschenswert, die vorgestellten und offensichtlich in der Bearbeitung der Vergangenheit bewährten Werkzeuge auf unsere „Gegenwart“ anzuwenden. Ob dieses Vorhaben zu neuen Erkenntnissen führen würde, lässt sich anhand des Buches nicht beurteilen. Das Buch „Warum Nationen scheitern“ enthält sich jeder Bezugnahme auf unsere gegenwärtigen Institutionen, die wir in unseren „Nationen“, in unseren politischen und wirtschaftlichen Systemen aufgebaut haben. Es wäre doch überaus interessant, wenn sich die Autoren mit den verschiedenen gegenwärtigen Institutionen zu einer (vorsichtigen) Prognose veranlasst fühlten, um eine Aussage zu treffen, welche der großen Globalplayer-Nationen über ausreichend inklusive Institutionen verfügen, um eine absehbares Scheitern hinaus zu zögern. Wir verfügen über zahllose Eliten, die es geschickt verstehen, extraktive Tendenzen zu fördern und für sich zu nutzen. Wir haben zahllose Oligopole, die dafür sorgen, dass der Marktzugang kritisch zu beurteilen ist. Und wir haben ein Umweltproblem, bei dessen Lösung wir wohl mit Anreizen und Freiwilligkeit nicht weiterkommen, bevor es nicht gelingt, die Aktionsträger einer Gehirnwäsche zu unterziehen, damit sie die ökologische Zukunft nicht als Störfaktor, sondern als unternehmerische Chance begreifen können. Schumpeters Idee der kreativen Zerstörung lässt grüßen!

» weniger zeigen

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert