„Wachstum“ und die andere Perspektive

Wachstum ist heute die alles beherrschende ökonomische Metapher. Wachstum galt lange Zeit als der große Heilsbringer. Aber bei näherer Betrachtung ergeben sich Ungereimtheiten, ideologische Eigenschaften und Defizite, die zu dem „Zaubermittel“ so gar nicht passen wollen. Einige Gesichtspunkte sollen im folgenden aufgegriffen werden.

» weiterlesen

Wachstum ist gewöhnlich eine einfache Kennzahl, die den Betrag des Bundesinlandsprodukts (BiP) des Vorjahres mit dem BiP des laufenden Jahr vergleicht. Ist der Quotient größer als im Vorjahr, spricht man von Wachstum (und das ist heutzutage die Erwartung). Ist der Quotient kleiner als im Vorjahr suchen die Kommentatoren i.d.R. einen Schuldigen. Die hier gewählte Definition zeigt auch gleich die unterschiedliche Wahrnehmung des Wachstums.

Solange die Kennzahl einen momentanen Zustand beschreibt (und mehr kann diese Kennzahl nicht), kennzeichnet Wachstum gegebenenfalls eine Tatsache. Erst die Interpretationen machen aus der schlichten Beschreibung vielfach eine Sollvorschrift (eine normative Forderung). Die Erwartungen liegen darin, dass behauptet wird, Wachstum sei ein eindeutiges Indiz für unseren Wohlstand und unser Wohlergehen. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass dieser Zusammenhang schon seit den 1970er Jahren nicht mehr besteht. Eine Korrelation gab es nur in den Jahren des Aufbaus.

Was ist Wachstum dann? Was ist der Inhalt der Wachstumserzählung und wie könnte sie entstanden sein? Peter Radford1 macht hierzu einen Vorschlag, der zu erklären versucht, warum Wachstum eine zentrale ökonomische Deutungsmacht darstellt und wie sie sich seit 1870 schrittweise entwickelt hat. „Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass im Jahr 2008 (in der Finanzkrise) eine Ära zu Ende ging, als der schäumende Wahnsinn und die umfassende Korruption des amerikanischen Finanzsystems zu einem erbärmlichen Haufen zusammenbrachen und die Weltwirtschaft mit sich rissen. Seitdem kämpfen wir darum, die diskreditierten Ideen zu ersetzen, die diese Ära hervorgebracht haben. Das ist uns noch nicht gelungen. Das liegt zum Teil an der natürlichen Langlebigkeit der Torheit, solange eine Generation von Menschen (hier der Ökonomen), deren Ruf von ihrem hervorragenden Verständnis dieser Torheit abhängt, an der Macht bleibt2.“ Die Ära, die 2008 in sich zusammenbrach, war die Ideologie des Neoliberalismus. Unter den ‚diskreditierten Ideen‘ finden wir dann (siehe unten) auch die Vorstellung von der scheinbaren Unvermeidbarkeit von wirtschaftlichem Wachstum, die es zu ersetzen gilt.

„Die noch vorhandenen Konzepte, die sich nun als leere Fehlschläge entlarvt haben, zwingen uns dazu, unsere Energie eher auf die Vergangenheit als auf die Zukunft zu verwenden. Wir müssen die Wende in der Geschichte erklären, die einen Großteil des Nachkriegssiegs umkehrte oder vielmehr einfach beendete. Es war ein großer Fehler, den wir rückgängig machen müssen.3

Radford geht bei seiner Argumentation zum Thema Wachstum bis auf die 1870er Jahre zurück und sieht dort den Ausgangspunkt, indem ab diesem Zeitpunkt sich schrittweise ein grundsätzlicher Wechsel in den Eliten (die er „notables“ nennt) vollzieht. Die traditionellen Eliten wie die Monarchie, die Aristokratie, die Kirchen, das Militär erhielten durch das Wachstum, das durch die neuen Technologien ausgelöst wurde, neue Optionen, Anreize und Raum, ihre Privilegien anders zu nutzen.

Diese neuen Optionen haben aber einen stillen Wandel ausgelöst, bei dem die alten Eliten abgelöst wurden: „Es gab eine Revolution. Ein intellektuelles Erdbeben, das einen stillen politischen Putsch ermöglichte. Im Mittelpunkt standen Ökonomen. Doch die meisten ignorierten den zunehmenden Schaden.“

Diese stille Revolution verschob die Gewichte der Eliten. 1941 beschrieb James Burnham4 den Wandel von den alten Eliten zu einer neuen Struktur, die aus Business Executives, Technokraten, Bürokraten und Soldaten bestünde. „ Darin beschrieb er den Untergang des Kapitalismus und seine Ablösung, nicht durch Sozialismus, was damals in der westlichen Welt große Befürchtungen auslöste, sondern durch das, was er ‚Managerialismus‘ nannte. Er sagte voraus, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt in die Hände einer Klasse von Managern fallen, die sie in ihrem eigenen Interesse verwalten würden. Sie würden sowohl die alte herrschende Kapitalistenklasse als auch die kürzlich ermächtigte Arbeiterklasse unterwerfen.5

Diese neue Elite brauchte ein Leitbild, eine Vision, an der sich ihre Strukturen ausrichten konnten. Diese neue Leitidee war – nach meiner Interpretation von Radfords Ausführungen – der Begriff des ökonomischen Wachstums, der dadurch eine politische Wendung und Bedeutung erhielt.

„Dieses schnelle Wachstum – üblicherweise in Begriffen ausgedrückt, zu denen uns Ökonomen überredet haben – ist das Fundament, auf dem die gesamte Moderne heute ruht. Dieses Wachstum wird durch die ständige Entdeckung und Anwendung von Technologien vorangetrieben (…). Innovation wurde zu unserem Motto. Wir gehen davon aus, dass unsere Ära als eine Ära der Innovation definiert werden kann und dass diese Innovation bessere Gesundheit, längeres Leben, breitere kulturelle Präsenz und eine bessere tägliche Existenzsicherheit bietet – wenn auch auf Kosten von Disruptionen. (…) Diese zentrale Bedeutung des anhaltenden schnellen Wachstums für unser modernes Leben ist der Kern unseres aktuellen Interesses. Es brachte den großen Nachteil der Umweltzerstörung und löste Zukunftskosten aus, die einen Großteil der seit 1870 kumulierten ‚Gewinne‘ absorbieren könnten. (…) Und doch machen wir unvermindert weiter. Wir sind dazu gezwungen: nicht zu wachsen, bedroht die Moderne in ihrer Gesamtheit. Die Selbsterhaltung der kapitalistischen Maschinerie, die das Füllhorn hervorgebracht hat, kann nicht aufhören. Sonst stürzt das gesamte Gebäude ein. Ökonomen akzeptieren diese Unvermeidlichkeit im Großen und Ganzen.“6

Diese Aussage ist nachvollziehbar, aber nur richtig, solange wir uns den üblichen Denkregeln unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems unterwerfen. Insbesondere, weil die von Redford getroffene Aussage im Grunde eine intellektuelle Kapitulation darstellt. Wenn ich Redford als Amerikaner richtig verstehe, will er „die Schuldigen“ zur Rechenschaft ziehen. Das ist m.E. nicht zielführend. Schlimmer erscheint mir die Tatsache, dass weder die Ökonomen noch andere Wissenschaftszweige in der Lage zu sein scheinen, kreativ Ideen zu entwickeln, wie wir mit den geringst möglichen Schäden aus der Sackgasse herauskommen können. Deshalb würde ich jede noch so kleine Idee begrüßen, die neue Horizonte eröffnet. Es gibt diese Inseln in einem Meer der intellektuellen Lethargie. Aber die Inseln müssen mehr werden, um über Alternativen zu verfügen. Um die Wahl zu haben!

Um die Ideen Redfords für Deutschland ein wenig konkreter werden zu lassen, soll an eine Veröffentlichung von Ludwig Erhard aus 1957 mit dem Titel „Wohlstand für alle“ erinnert werden. Das war ein Bestseller und so etwas wie ein politisches Versprechen in der damaligen Zeit. In der Nachkriegszeit konnte das Versprechen eingehalten werden, aber schon ab den 1970er Jahren korrelieren die Wachstumszahlen und der allgemeine Wohlstand nicht mehr. Mit Beginn der 1980er Jahre und mit dem Aufkommen des Neoliberalismus blieb das Wachstum weitgehend erhalten, aber die Reallöhne stagnierten bzw. fielen. Eine ‚Schere‘ zwischen jenen, die vom Wachstum profitieren und jenen, die dabei verlieren, wird immer deutlicher erkennbar. Es droht eine Spaltung der Gesellschaft. Das ehemalige Versprechen „Wohlstand für alle“ wurde offensichtlich gebrochen. Wachstum war ein Synonym für zunehmenden Wohlstand: wenn nicht heute, so doch in naher Zukunft. Viele politischen Argumentationen liefen darauf hinaus, den Druck der Straße mit dem Hinweis auf eine rosige Zukunft abzuschmettern.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Mit dem Wachstum und der erwarteten Prosperität wurde aber auch vielfach die politische Systemfrage verknüpft. Solange einer rosigen Zukunft das Wort geredet werden konnte, stand unser demokratisches System nie ernsthaft in Frage. Wenn aber offensichtlich wird, dass durch das weitere Wachstum nur noch eine relativ kleine Geldelite den Rahm abschöpft, kommt verständlicherweise Frust auf. Das Erfolgsmodell unserer Demokratie rückt auf den Prüfstand.

Und nun erscheinen 1972 auch noch die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows) mit der inzwischen anerkannten Aussage, dass die Ikone unserer Prosperität – das Wachstum – keinen Ewigkeitswert darstellt. Das Buch wurde zunächst belächelt, dann heftig bekämpft, aber letztlich mussten nach dreißig Jahren die Gegner die Waffen strecken, weil sich die Welt im Wesentlichen so entwickelte wie 1972 vorhergesagt. Neben der inzwischen akzeptierten Tatsache, dass weiterem Wachstum enge Grenzen gezogen sind, trat ergänzend der Klimawandel auf, der sich mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, zu einer Klimakrise erweitert. Die Erkenntnis, dass wir mit unserer Wirtschaftsweise diesen Planeten zu Grunde richten, erfahren viele Menschen als eine zusätzliche Demütigung. Aber der Zustand des Planeten lässt uns keine Zeit, unsere Wunden zu lecken und unsere Gemütslage zu pflegen. Wir werden handeln müssen. Und für einen Erfolg dieses Handelns sind die Voraussetzungen gegenwärtig denkbar schlecht.

Für viele unserer Bürger galt in den letzten 75 Jahren das Glaubensbekenntnis vom fortwährenden Wachstum. Dieser Glaube wurde durch die Entwicklung der Realität gründlich zerstört. Manche wollen es nicht begreifen, weil sie mit einer solchen Unsicherheit nicht leben können oder wollen. Sie wehren sich, weil ihnen ihre Vorstellung von der Welt zusammenzubrechen droht. Gibt es etwas, was ihnen die Wissenschaften, die Politik oder die Ökonomie stattdessen anbieten könnten? Das Wachstumsnarrativ muss durch eine gleich gute oder sogar bessere Alternative ersetzt werden. Je schneller wir hier etwas auf die Beine stellen, desto einfacher würde sich der notwendige Wandel darstellen lassen und breite Unterstützung finden können.

James Burnhams neue „technokratische“ Elite – sofern sie als solche wirksam wurde – erscheint mir dabei nicht das Problem. Gleiches gilt für die sogenannte Geldelite. Diese Kreise stehen bei Veränderungen natürlich erst mal auf der Bremse, aber sie sind rational genug eingestellt, um zu begreifen, wann sie ihre Einstellung ändern müssen, um ihren Status und insbesondere ihre Privilegien als ‚Elite‘ nicht zu verlieren. Ich sehe das Problem eher in der Emotionalität der Vielen, die man mit rationalen Argumenten nur schwer erreicht. Sie brauchen ein neues „Glaubensbekenntnis“, ein großes Versprechen, das so formuliert ist, dass es eine interessante Perspektive vermittelt, deren Einlösung aber variabel hält.

Stattdessen müssen wir die Beobachtung machen, dass mangels einer sinnvollen neuen Perspektive die ganz alten und verstaubten Glaubensbekenntnisse eines Nationalismus, eines Rassismus und anderer emotionaler Dummheiten aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgekramt werden. Das erhöht den Entscheidungsdruck noch einmal massiv.

Lösen wir uns also gedanklich von der Fokussierung auf das Wachstum. Es bleibt fraglos ein Problem, aber wir können es für den Moment offensichtlich nicht lösen. Was wäre eine Alternative? Wir beobachten Spaltungstendenzen in der Gesellschaft. Wir glauben Frust identifizieren zu können. Welche Möglichkeiten haben wir, um diesen „Frust“ zu adressieren und aufzufangen? Wir können Maßnahmen ergreifen, die einer weiteren Spaltung entgegenwirken. Wir müssen Maßnahmen entwickeln, die die Spreizung der Gesellschaft für jeden nachvollziehbar reduzieren. „Die da oben“ aus der Perspektive großer Bevölkerungsteile müssen wir dadurch einfangen und sie wieder Teil der Gesellschaft werden lassen, indem für die Entwicklung dieser kleinen Schicht künftig erkennbare Einschränkungen realisiert werden. Levermann7 hat die Idee aufgebracht, die Einkommensspreizung z. B. auf 2 Mio. Euro p.a. einzuschränken, große Vermögenscluster im Rahmen der Vererbung aufzulösen (zu diversifizieren) und in einem ersten Schritt das Größenwachstum von großen Unternehmen deutlich zu begrenzen. Hier wird nicht von Enteignung gesprochen, sondern von Entflechtung, gegebenenfalls auch von Entbürokratisierung und Flexibilisierung. Niemandem wird ernsthaft etwas genommen, sondern es wird versucht, einen grundlegenden Strukturwandel zur Vielfalt einzuleiten, der uns möglicherweise dann eine Chance bietet, das Wachstumsproblem sinnvoll und erfolgversprechend anzugehen. Dabei wurde die Idee Levermanns hier einfach umgedreht: erst die Spaltung der Gesellschaft abbauen und dann absolute Grenzen der weiteren Entwicklung setzen, um ggfs. einen Wandel durch Faltung auszulösen.

Unbegrenztes Wachstum bedeutet stetes „Mehr, Höher und Größer“, aber nichts in unserer konkreten Lebenserfahrung ist in der Lage, ständig mehr zu werden ohne eine tiefe Spur der Zerstörung zu hinterlassen. Hinzukommt, dass das Wachstum noch fokussiert wird, indem in der Ökonomie einer Maximierung das Wort gesprochen wird als Ausdruck der Linearisierung unseres Denkens und als Ausdruck singulärer Exzellenz. Maximierung kann schon vom Begriff her nicht für alle oder eine Mehrheit gelten, es ist der Ausdruck einer Spitze, einer Singularität. Wer immer an der Singularität arbeitet, arbeitet auf eine Monopolisierung in der Gesellschaft hin. Das Argument, dass der Wettbewerb diese Monopolisierung verhindern könnte, ist sehr theoretisch, wenn man sich die schon konkret bestehenden globalen Unternehmenskonstruktionen und deren gewaltigen Einfluss auf Politik und Gesellschaft anschaut. Monopolisierung ist aber das Gegenteil von Vielfalt: also Einfalt! Und Vielfältigkeit war und ist in unserer planetarischen Entwicklungsgeschichte der letzten paar tausend Jahre der herausragende Erfolgsfaktor8. Ausgerechnet in der Ökonomie glauben die politischen Akteuren diesen evolutionären Erfolgsfaktor außer Kraft setzen zu können.
……………………………………………………………………………………………………………….

1Peter Radford, In Praise of Rebellion? In: Real-World-Economics Review, No. 105, 2023, S. 2 ff.

2Radford, a.a.O., S.2 (eigene Übersetzung)

3Radford, ebenda, S. 2 (eigene Übersetzung)

4James Burnham, What is happening in the World – The Managerial Revolution, 1941

5Radford, S. 6 (eigene Übersetzung)

6Radford, S. 3 (eigene Übersetzung)

7Anders Levermann, Die Faltung der Welt, Berlin 2023, S.211 ff.

8Vgl. Johannes Krause, Thomas Trappe, Hybris – Die Reise der Menschheit, Berlin 2021

» weniger zeigen

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert