Vorschau statt Rückschau

Wir wurden zum Jahreswechsel mit Rückschauen besoffen gequatscht. Aber alles das, was dort dargestellt wird, liegt schon lange hinter uns. Wir müssen nach vorne schauen und das, was kommt, versuchen zu gestalten. Damit kann man leider keine schönen Bilder malen und in großartiger Erinnerung schwelgen. Dabei drücken uns nicht nur die heftigen Folgen der Pandemie. Wir müssen auch erkennen, dass wir Zeit und Geld vergeudet haben, um den industriellen Status quo unbegründet lange aufrecht zu erhalten.

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Die Zeichen der Zeit wurden von den wesentlichen Industriezweigen der Wirtschaft nicht erkannt. Und die Politik, die alle paar Jahre einen neuen Klimagipfel mit Enthusiasmus unterzeichnet hat, also um die anstehenden Probleme wissen muss, hat nichts Wesentliches dazu beigetragen.

Das Urteil klingt hart, wobei meine Meinung wenig zählt. Aber sinngemäß hat Frau Veronika Grimm, Professorin in Nürnberg und Wirtschaftsweise seit 2020 nichts anderes festgestellt. Und auch ihre Deutlichkeit lässt den Druck erahnen, dem wir ausgesetzt sind. Dabei scheint mir die Erkenntnis im Wesentlichen auch für Europa, wenn nicht sogar global, zu gelten.

Diejenigen, die das Problem lösen wollen, stehen neben den sachlichen Herausforderungen vor der Frage, wie können wir die individuell orientierten Unternehmungen mit ihren Zielsetzungen einfangen, um eine nachhaltige, am Wohlstand aller orientierte gesamtwirtschaftliche Entwicklung durchzusetzen. Das Merkwürdige der Situation liegt doch darin, dass die unternehmerischen Zielsysteme so tun, als ob uns keine Grenzen gesetzt sind und die Volkswirtschaft, insbesondere die Politische Ökonomie, allmählich erkennt, dass das nicht richtig sein kann. Es handelt sich um einen klassischen Zielkonflikt: Die Unternehmen setzen unverändert auf Gewinnmaximierung und unbedingtes Wachstum und die Volkswirtschaft muss erkennen, dass das so nicht weitergehen kann und wir gezwungen sind, unsere Wirtschaftssysteme von einer Sozialen Marktwirtschaft in eine nachhaltige Soziale Marktwirtschaft zu transformieren.

Dabei stellt Richard D. Precht in seinen Interviews sehr eindrucksvoll dar, welcher gewaltige und erfolgreiche Schritt den Europäern in den letzten 200 Jahren gelungen ist, als sie einen grobschlächtigen, menschenverachtenden Kapitalismus in eine Soziale Marktwirtschaft gewandelt haben. Das hat viele Menschenleben gekostet, vielleicht sogar mehr als die während des Prozesses geführten zahlreichen europäischen Kriege. Precht leitet dann meistens über auf die neue Aufgabe, die Soziale Marktwirtschaft in eine nachhaltige zu überführen. Die Krux ist nur, wir haben keine 200 Jahre Zeit. Der Zeitrahmen, den uns die Wissenschaft zuweist, liegt bei 10 -15% der Zeit, die wir uns genehmigen konnten, um eine Soziale Marktwirtschaft aufzubauen. Der Druck ist spürbar und lässt sich auch nicht durch politisch-propagandistische Tricksereien mildern.

Die Politik verharrt auf dem Standpunkt, dass sie die anstehende Problematik dem Verbraucher zur Lösung auferlegen kann. Er gilt in den Augen der Politik als der Schlüssel zur Lösung, neben der Freiwilligkeit der wirtschaftlichen Akteure, diesen Trend zu unterstützen. Die Haltung ist grobfahrlässig und ist durch die Ökonomie beeinflusst, die davon ausgeht, dass der Verbraucher ein unbeeinflussbar entscheidungsstarker Mensch ist, der das ganze Blendwerk der Wirtschaft durchschaut und rational nur seinen Vorteil sucht. Diesen Blödsinn hat die Ökonomie selbst entlarvt: Wie wollen sie bei einem so strukturierten Menschen mit Marketing und Werbung punkten können? Oder glauben Sie, die Wirtschaft ist so dumm, Milliarden für Marketing und Werbung auszugeben, wenn diese Maßnahmen nicht monetäre Früchte tragen würden?

Nun haben wir die großen Linien des Problems beschrieben: Die Unternehmen unterliegen dem Wettbewerb. Es gilt das Mikado-Spiel: wer sich zuerst in die neue Richtung bewegt, hat verloren. Die gesamtwirtschaftliche Perspektive anerkennt die Notwendigkeit der Veränderung und arbeitet unter dem Titel „Die große Transformation“ an den notwendigen Ansätzen, einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Die Politik hat ihre Aufgabe noch nicht begriffen und spielt noch den Moderator zwischen Wirtschaft und Verbraucher. Alle Beteiligten warten auf die erlösenden Führungsmaßnahmen.

Die Wissenschaftler haben das längst erkannt und haben den Begriff der „Leitplanke“ (rail gard) in den Prozess eingeführt. Eine Leitplanke begrenzt den Spielraum für alle Unternehmen im gleichen Maße. Anders ausgedrückt: Wenn sich einer im Mikadospiel unter Wettbewerbsbedingungen zu früh bewegt, hat er in aller Regel verloren. Nun bewegt sich bei der „Leitplanke“ nicht der Unternehmer, sondern der Rahmen, in dem Wettbewerb stattfinden kann und darf. Der Rahmen ändert sich (im Idealfall global) für alle Unternehmen und damit ist die Gefahr für den Einzelnen aufgehoben, zumindest deutlich geringer im Mikado-Spiel zu verlieren. Wichtig ist dabei, dass es entgegen der politischen Praxis, systematisch Schlupflöcher zu lassen, diese von den Betroffenen nicht toleriert werden, –weil es für alle die gleichen Rahmenbedingungen geben muss, um Diskriminierung zu vermeiden. Letztere wäre von den Unternehmen einklagbar. Die „Watchdogfunktion“ wäre in diesen Fällen überaus potent besetzt. Diese Institution muss Teil der Strategie sein, weil die Praxis immer Wege der Umgehung suchen wird. Und nur „Betroffene“ wissen um die Schleichwege.

Das ist die eine Seite. Die andere Seite kann man mit der Frage einleiten, ob mit der Leitplanke nicht künftig auch Aktionsraum wegfällt, weil er für alle Unternehmen zur Tabu-Zone erklärt wird. Das ist uns einsichtig, wenn es sich um Betrug und Korruption handelt, aber es wird mit Sicherheit auch Räume betreffen, in denen gegenwärtig verschiedene Geschäftsmodelle ihre Angeln auslegen, um hoffentlich legal erfolgreich zu fischen. Es könnte sich dabei um Geschäftsmodelle handeln, die heute nicht verboten sind, aber im Hinblick auf Nachhaltigkeit keinen Beitrag mehr zu leisten in der Lage sind. Manche können sich anpassen. Aber andere werden alle Register ziehen, dass genau diese Leitplanke so nicht realisiert wird.

Wo finden wir in einer Demokratie Politiker, die hinsichtlich der Einführung von Leitplanken unter dem absehbaren Zeitdruck eine hinreichende Resolutheit an den Tag legen, ohne Gefahr zu laufen, sich bei der nächsten Wahl aus ihrer schwer erkämpften Abgeordnetenposition hinaus zu katapultieren. Er mag mit seiner resoluten Entscheidung das „Richtige“ tun, aber weder seine Partei noch seine Wähler werden ihn i.d.R. dafür honorieren. Wir habe also in dieser Frage ein strukturelles Umsetzungsproblem.

Mancher könnte nun vorschlagen, dass wir an der Demokratie-Schraube drehen können. Etwas weniger ginge ggfs. auch. Das ist m.E. der falsche Ansatz. In der Pandemie haben wir erkennen können, dass die Politik und ihre nationalen Strukturen durchaus in der Lage sind, Herausforderungen zu meistern. Ich würde einen anderen Weg vorschlagen: Die EU ist nicht dafür bekannt, dass sie übermäßig demokratische Strukturen aufweist, weil die Mitglieder davon ausgehen, dass die strikt demokratischen Strukturen bei den EU-Ländern angesiedelt sind. Wir beobachten in vielen Fällen, dass die Mitgliedsländer durch Entscheidungen der EU zur Umsetzung von Maßnahmen gezwungen werden, die sie aus „Rücksicht“ auf ihre Wähler-Klientel nicht umsetzen wollten. Diese Strukturen könnten genutzt werden, um die Problematik der „Leitplanken“ zu lösen. Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass diese Leitplanken nicht als ein fertig geschnürtes Paket auf uns zukommt, sondern die Leitplanken werden nach Prioritäten schrittweise, aber konsequent umgesetzt. Dazu muss die Idee auf die Ebene der EU gehoben werden und weniger die nationale Politik damit befasst sein.

Richard D. Precht weist mit Recht auf die globalen Bezüge hin. Auch hier gilt ein gutes Stück weit die Metapher des Mikado: wer sich zuerst bewegt, läuft Gefahr, zu den Verlierern zu gehören. Wenn aber einer angesichts der Unvermeidbarkeit und dem Vorverständnis der Wählerschaft anfängt und es gelingt, die Dämme der Unvernunft zu brechen, dann ist der Regelbrecher i.d.R. fein raus und all die anderen, die nie geglaubt haben, dass es soweit kommt, sehen verdammt alt aus. Ich glaube, dass die Bürger schon viel weiter sind als die Politiker und die Bürger nur auf die notwendige Führung warten, damit die Umsetzung Platz greifen kann. Selbst in der Wirtschaft kann man feststellen, dass hier neue Erkenntnisse, neue Gedanken und Ideen Einzug halten und sich ein Wandel andeutet, den man vor zwei Jahren aufgrund der zum Ausdruck gebrachten Mentalität der Betonköpfe noch nicht für möglich gehalten hat. Das stimmt doch (ein wenig) optimistisch.

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