Utopien braucht das Land

DIE ZEIT hatte kurz vor Weihnachten in der Ausgabe zum 15.12.2016 einen Aufmacher mit dem Begriff „Utopie“. Der Beitrag ist mir nicht mehr im Detail geläufig. Der Referent des dazugehörigen Artikels nahm Bezug auf Thomas Morus. Seine gesellschaftliche Utopie wurde vor etwa 500 Jahren entwickelt. Man ist sich nicht sicher, ob nicht Teile davon als gesellschaftsbezogene Ironie zu verstehen sind. Ich fand den Artikel der ZEIT unbefriedigend, weil er – so meine Erinnerung – den Gedanken der Utopie entwertet.

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Die selbstgestellte Frage, ob die Gesellschaft noch Utopien braucht, wird vom Autor negativ beantwortet. Für einen Aufmacher-Artikel hätte ich mir da schon ein wenig mehr Analyse erwartet. Ohne Utopien leben zu wollen, kommt der fatalen Aussage gleich, das Ende der Geschichte erreicht zu haben. Manche Neoliberale werden ihm hier wohl zustimmen. Sie sehen mit der Realisierung einer „marktgerechten“ Gesellschaft das für sie denkbare Optimum erreicht und halten aus ihrer Sicht natürlich weitere Utopien für überflüssig.

Ich komme dagegen zu der Meinung, ohne Utopien kann unsere Gesellschaft gar nicht überleben. Was der Artikel aus meiner Erinnerung überhaupt nicht anspricht, ist die Tatsache, dass die Mehrzahl unseres Denkens und Handelns ständig von Utopien geprägt ist. Also von Vorstellungen, die wir für wünschenswert halten, die unser Denken und Handeln leiten, die aber nie, noch nicht, oder noch nicht ausreichend realisiert wurden. Konkrete Beispiele: die Utopie der Gerechtigkeit, die Utopie einer Herrschaft des Volkes, und die Utopie des guten Menschen. Und ich will den Sack der religiösen Utopien gar nicht öffnen, nur einen Blick hineinwerfen: die Utopie vom ewigen Leben, die Utopie der Wiederauferstehung, die Utopie vom Jüngsten Gericht und andere Vorstellungen mehr, deren Realisierung überaus fraglich sind, aber das Leben und Verhalten vieler Menschen trotzdem beeinflussen.

In der Utopie drückt sich in der Mehrzahl der Fälle eine Hoffnung aus. Utopien sind für ihre Anhänger optimistische Beschreibungen künftiger realer oder intellektueller Zustände. Wenn wir sie generell als wertlos betrachten, brechen mühsam gebastelte Lebenskonstruktionen (auch Lebenslügen genannt) zusammen. Wenn das Dasein zum Fürchten ist, gibt manche Utopie einen milde stimmenden Ausblick.

Utopien haben die Eigenschaft, dass sie allzu oft Utopien bleiben. Das was Utopien ausdrücken, lässt sich selten in Gänze erreichen. Die Utopie der Gerechtigkeit beschäftigt uns Menschen mindestens seit der Antike. Offensichtlich haben wir es in 2.500 Jahren nicht geschafft, diese Utopie zu realisieren. Und sie wird uns noch die nächsten Jahrhunderte beschäftigen. Hätten wir aber diese Utopie nicht, dann müsste man sie erfinden. Utopien haben dabei zwei Seiten in ihrer Anwendung: einerseits drückt die Utopie die Sehnsucht z.B. nach Gerechtigkeit aus, andererseits ist die Utopie ein wunderbares Mittel der Machteliten, den Menschen in kleinen Häppchen so etwas wie ein Gerechtigkeitsbemühen zu verkaufen, um damit von der allgemeinen drückenden Ungerechtigkeit erfolgreich abzulenken.

Um die unterschiedliche Wahrnehmung von Utopien gegeneinander zustellen, sei auf den Wahlkampf in den 70iger Jahren von Willi Brandt und der SPD mit dem Slogan „mehr Demokratie wagen“ verwiesen. Das war der Versuch, die Realisierung einer Utopie ein Stück weit voranzutreiben. Ungefähr zur gleichen Zeit erging in USA ein Auftrag aus straff konservativen Kreisen an einen Think Tank, doch bitte eine umsetzbare Studie zu entwickeln, wie eine angeblich ‚ausufernde‘ Demokratie ‚effizienter‘ gestaltet werden kann. Hier bekommt die Angst der vermögenden Eliten plötzlich ein Gesicht. Denn mehr Demokratie wagen, hätte auch bedeutet, die Macht und den Einfluss der damaligen Eliten ein Stück weit in Frage zu stellen. Heute reden wir darüber leider nicht mehr. Demokratie erscheint aufgrund der komplexen Prozesse schwerfällig, ineffizient und – noch viel schlimmer in einer Zeit des allgemeinen Kontrollwahns – sie erscheint unkontrollierbar und das gilt allgemein als Risiko, nicht als Chance.

Oder greifen wir die Utopie der sozialistischen Gesellschaft und ihre Realisierungsversuche auf. Der reale Sozialismus ist an seiner eigenen Unfähigkeit und Inflexibilität zusammengebrochen, aber wurde deshalb auch die dahinter stehende Utopie der Menschen zerstört?

Konservative Kreise neigen dazu, die Utopie im Bausch und Bogen wegen ihres irrealen Charakters abzulehnen. Sie sehen sich als die wahren Realisten, die solche Phantastereien nicht nötig hätten. Doch was ist konservativ? Es ist das irrationale Bestreben, den Status quo festhalten zu wollen. Es ist die Utopie des Status quo. Die Welt verändert sich mit und ohne Utopie. Die, die den Status quo vergöttern, wollen den Lauf der Zeit anhalten. Sie merken nicht, wie sie orientierungslos durch die Umstände Schritt für Schritt verändert werden.

Unsere gegenwärtige Politik des „Weiter so“ ist wohl ein Kind der Utopie des Status quo. Eine Utopie, die in die Zukunft weisen oder die gestaltend eine Vision eines erwünschten Zustandes beschreiben könnte, fehlt. Da die Utopie fehlt, ist es überaus schwierig, eine Strategie zu entwickeln, wie man zu einem gewünschten Zustand kommt. Strategisches Handeln setzt ein Ziel voraus und wo keine Strategie existiert, wird alles Handeln taktisch und verliert seine Richtung – das politische Handeln ähnelt dann einer Kakophonie, denn einer erkennbaren Zielstrebigkeit. Insoweit hat der ZEIT-Artikel leider recht, wenn er davon ausgeht, dass Utopien gegenwärtig keine Chancen haben, weil die Utopie des Status quo allzu übermächtig das kurzfristige politische Handeln bestimmt.

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