Transformation und politische Wirklichkeit

Die gegenwärtigen Diskussionen über die notwendige Transformation unseres Gesellschaftssystems werden interdisziplinär geführt. Viele Ergebnisse sind m.E. überzeugend, aber auch sehr komplex. Um die Transformation Realität werden zu lassen, fehlt mindestens ein wichtiges Bindeglied. Jene, die glauben, Transformation zu verstehen, können nicht davon ausgehen, dass sich ausreichend Bürger für eine Transformation unter demokratischen Prämissen interessieren.

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Es gibt eine wachsende Gruppe, die sich für Umweltfragen interessieren, ja sogar engagieren, aber deren Kenntnisse über Transformation und deren Konsequenzen sind i.d.R. sehr begrenzt. Der Fokus liegt eher im emotionalen Moment einer „kranken Umwelt“, die es zu „heilen“ gilt, denn in der intellektuellen Durchdringung der komplexen Zusammenhänge.

Der Verweis auf propagandistische Untersuchungen, die davon ausgehen, dass zehn Prozent Aktive (sogenannte ‚Champions‘) genügen würden, um in einer demokratisch verfassten Struktur eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen, springt zu kurz. Die Entscheidung zur Transformation ist doch nur der Anfang. Da sich Änderungen in der Struktur des Zusammenleben nicht vermeiden lassen, kommt es m.E. darauf an, ein Narrativ zu „komponieren“, das der breiten Bevölkerung die Veränderungen plausibel macht und dem es gelingt, sie als vorteilhaft darzustellen. Die Haupteigenschaft des Narrativs muss eine „grandiose Vereinfachung“ der komplexen Vorgänge bei der Transformierung leisten, ohne mit den wissenschaftlichen Grundlagen im krassen Widerspruch zu stehen.

Der Neoliberalismus hat eine solche Simplifizierung in den letzten 50 Jahren erfolgreich geschafft. Die meisten seiner Aussagen, die im Wirtschaftsteil der Gazetten ständig wiederholt werden, liegen irgendwo zwischen „Falsch und Richtig“. Richtig waren die Aussagen nur in ganz speziellen Fällen, unter ganz bestimmten Nebenbedingungen, die in der realen Welt meist nicht anzutreffen sind. Da die Nebenbedingungen regelmäßig bzw. konsequent weggelassen wurden, waren die Aussagen in den meisten realen Fällen schlicht falsch, was aber für ihrer Wirkmächtigkeit als eine Art Mythos kaum negative Folgen hatte.

Zu der Zeit, als der Neoliberalismus seine ersten Erfolge einstrich, kamen 1972 die „Grenzen des Wachstums“ zur Veröffentlichung. Seit der Zeit bemühen sich die Ökologen deutlich zu machen, wo die fehlerhafte Entwicklung hingeht. Der Neoliberalismus konnte jedoch ungehindert seine Kreise ziehen, bis endlich der Druck der Wissenschaft einerseits und andererseits die negativen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftsweise auf unseren Lebensraum so deutlich wurden, dass m. E. die Tage des Neoliberalismus gezählt sind.

Alle seine grandiosen Ziele (unbegrenztes Wachstum, der Markt regelt alles, Wettbewerb ist kreativ, unser System funktioniert nur bei Gewinnmaximierung, Fortschritt definiert sich linear, u.a. m.) werden Stück für Stück kassiert und auf breiter Basis als schädlich für unsere Lebensgrundlagen erkannt. Der Neoliberalismus ist absolut blind für seine externalisierten Effekte, die allmählich überproportional zu Buche schlagen und ihm seine politische Glaubwürdigkeit entziehen[1].

Der Neoliberalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Köpfen der Bürger festgebissen. Die Ausbildung zum Wirtschaftsdiplom ist gepflastert mit neoliberalen Aussagen und der Lehrkörper ist mehrheitlich Diener dieser Auffassung. Mindestens 16 Studenten-Generationen wurden seit 1970 so ausgebildet, das hinterlässt Spuren in den Köpfen und Karrieren. Selbst Bürger, die diese Indoktrination nicht ‚genossen‘ haben, haben sich dank der Medien das einfache 1 x 1 des neoliberalen Ökonomieverständnisses angeeignet. Sie können die Axiome des Neoliberalismus gebetsmühlenartig aufsagen, ohne dass sich die Menschen über die inhaltlichen Konsequenzen ihrer Gebetsmühle im Klaren sind.

Wenn man also die erschreckende Ökonomisierung unserer Lebensumstände zurückdrängen oder gar zerschlagen will, wird man das nicht mit hochkomplexen Sachverhalts-Darstellungen schaffen. Die Wissenschaft, die bisher den wesentlichen Teil der Veränderungsansätze geschaffen hat, sollte sich ein Beispiel an der Vorgehensweise des Neoliberalismus nehmen. Man muss die ökologischen Zusammenhänge in ihrer Komplexität auf so einfache Aussagen reduzieren, dass man erwarten darf, dass jeder halbwegs orientierte Bürger die wesentlichen Aussagen der Transformation meinetwegen in fünf oder sieben „knackigen“ Sätze als Monstranz vor sich hertragen kann. Damit würden die Erkenntnisse auch ‚medienfähig‘. Diese Aussagen dürfen stark vereinfachen, aber sie müssen im Prinzip „wahr“ bleiben.

Es wird einem Versuch gleichkommen, einen Mythos zu einer Zeit zu schaffen, wenn er noch gar nicht von jedermann als solcher erkannt geworden ist. Mythen werden üblicherweise erst im Nachhinein geschaffen, hier gilt es nun einen zukünftigen Mythos zu schaffen. Mythen sprechen den Menschen primär über die Emotion an und weniger über den Verstand – das macht sie universeller einsetzbar.

Oder: die Ökonomisierung kann auch dadurch unterlaufen werden, dass man eine Initiative startet, die sich gezielt die Zerstörung des neoliberalen Mythos zur Aufgabe macht. Der Angriff erfolgt, indem man die neoliberalen ‚Axiome‘ in ihrer Einfachheit auf die „richtigen“ Füße stellt:

  • Es gibt kein unbegrenztes Wachstum. Die Bäume wissen das! Jeder Physiker kennt das!
  • Der Markt kann nur Dinge regeln, die knapp sind und einen Preis haben. Warum sind die Dinge knapp? Waren sie das schon immer? Was ist mit den vielen Dingen, die keinen Preis haben oder keinen Preis haben sollen? Wer regelt diese Seite unseres Lebens?
  • Wettbewerb macht kreativ. Warum eigentlich? Der Satz stammt sinngemäß von Friedrich von Hayek. Der Satz wurde nie verifiziert. Kooperation ist eine deutlich bessere Grundlage für kreatives, angstfreies Handeln. Nur der inhärente Disziplinierungseffekt der Wettbewerbsstruktur geht dabei verloren; das ist auch eine Art der Befreiung.
  • Fortschritt als linearen Prozess im Sinne von Mehr vom Gleichen zu denken, führt in die Irre. In einer endlichen Welt ist Veränderung nicht eindimensional; das zugrunde liegende Bild ist grundlegend falsch.
  • U.s.w.[2]

Jede kommende Bundesregierung ist an den inzwischen einklagbaren Klimaschutz gebunden. Klimaschutz und die damit verbundenen Veränderungen müssen aber den Bürgern positiv „verkauft“ werden. Dies kann nur zu Lasten des neoliberalen Mythos geschehen. Dazu sind Mittel einzusetzen, die die Werbung und die Propaganda schon seit Jahrhunderten praktizieren. Die dreisten Feststellungen des Think-Tanks „Neue Soziale Marktwirtschaft“ zur Unterstützung des neoliberalen Mythos sollten einerseits Mahnung sein, die Verdummung der Bürger nicht zu übertreiben und sollten andererseits dazu führen, das Instrument der Propaganda maßvoll für die eigene Sache einzusetzen.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Transformation müssen so auf ihren Kern reduziert werden, dass sie werblichen Aussagen zugänglich werden. Gelungene Formulierungen sind m.E. so Titel wie „Befreiung vom Überfluss“ (Niko Paech) oder „Was mehr wird, wenn wir teilen“ (Elionor Ostrom). Oder denken wir an eine Aussage des Vater unser: „…und befreie uns von dem Übel…“. Der Mythos des Neoliberalismus kann nur „überholt“ werden, indem schrittweise ein neuer Mythos zu einem völlig anderen Lebensgefühl geschaffen wird. Ein Lebensgefühl ist aber sehr schwer über Vernunft und Verstand allein zu vermitteln. Dabei dürfen die Skrupel nicht zu groß werden, wenn man Methoden in Anspruch nimmt, die auch der Gegenspieler dauernd einsetzt. Man kann Gewohnheiten nicht dadurch brechen, dass man sie permanent verteufelt. Daran sind schon die Kirchen vor Jahrhunderten gescheitert. Man muss sie intelligent in Positive drehen. Das Motto dabei sollte aus dem Kampfsport übernommen werden: ‚Führe die Kraft deines Gegners an den Punkt, an dem du ihn mit wenig Aufwand zu Fall bringst‘.

Die Kraft des Neoliberalismus liegt in seinem zwar kraftvollen, aber intellektuell schlichten Mythos. Bauen wir an einem neuen, besseren Mythos, der näher an der „Wirklichkeit“ liegt. Wir haben dabei leider nicht alle Zeit der Welt, die Uhr tickt. Und machen wir keine falschen Versprechungen. Das ungebremste Handeln im Rahmen des neoliberalen Mythos mit seinen immensen Kollateralschäden, blinden Flecken und negativen Verhaltensmaximen wird mittelfristig unsere Kultur, unsere Umwelt oder ganz einfach unsere Lebengrundlagen zerstören.

In knapp zwei Wochen wird gewählt. Die meisten Parteien trauen sich nicht in die Offensive zu gehen, aus Angst, ihre Machtgrundlage zu verlieren. Ich kann das nachvollziehen, aber nicht akzeptieren. Was sollen die kommenden Generationen von uns Altvorderen denken? Wollten wir nicht die Erde in einem Zustand weitergeben, der wenigstens dem entspricht, den wir vorgefunden haben? Hier ist noch viel zu tun! Und es ist an der Zeit, nicht mehr darüber zu reden, sondern endlich zu handeln! Ich glaube behaupten zu können, das Nichthandeln ins Chaos führt. Ob aber die heute erkennbaren Handlungsstrategien im Rahmen der Transformation unser Wohlstandsniveau sichern, kann nur eine von mehreren Optionen sein, aber immer noch besser als das Chaos! Lieber einen gesteuerten und beherzten Umbau „by design“ als einen chaotischen Prozess „by desaster“! Eine eigenständige dritte Alternative kann ich nicht erkennen. Das sogenannte „Muddling through“ (das Durchwursteln) ist keine anzustrebende Alternative, sondern eine realistische Methode, die sich in der rechtverstandenen Praxis einstellt.


[1] Vgl. John Komlos, Humanistic economics, a new paradigm for the 21st century, in: Real World Economics Review Issue No. 96, S. 201 ff. und die dort angeführte Literatur.

[2]  Vgl. die Auszählung bei John Komlos, a.a.O., S. 204 ff.

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