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Die Faltung der Welt

Anders Levermann1 hat unter diesem Titel 2023 ein Buch veröffentlicht, das sich mit dem Widerspruch von expotenziellem Wachstum in einer endlichen Welt auseinandersetzt. Die Ökonomie lebt mit diesem Widerspruch seit langem. Dieser wurde in den letzten fünfzig Jahren immer wieder erfolgreich verdrängt, in dem man auf die scheinbaren und tatsächlichen Erfolge der Wachstumsidee verwies und die absehbar expotenzielle ‚Explosion‘ gezielt ausblendete. Bisher gab es m.W. keine ernst zu nehmende Idee, wie dieses global immer drängendere Dilemma gelöst werden könnte.

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Levermann ist theoretischer Physiker und befasst sich u.a. mit der Komplexität dynamischer Systeme. Die Komplexität und Dynamik solcher Systeme wird mit Hilfe der mathematischen Chaostheorie versucht zu erfassen und deren ‚Gesetzmäßigkeiten‘ darzustellen. Aus den Erkenntnissen dieser Mathematik lässt sich offensichtlich2 ableiten, dass dynamische Systeme, wenn deren Aktivitäten auf unüberwindbare Grenzen stoßen, nicht zusammenbrechen, sondern ausweichen und ihre Aktivitäten innerhalb des verbleibenden Raumes ‚falten‘ (anpassen). d.h. die Grenze zwingt das ursprünglich einseitig trajektorische Wachstum in eine Faltung, die das ‚Voranstreben‘ in eine eher ‚raumfüllende‘ Bewegung umwandeln kann.

Das Verhalten des mathematische Modell eines dynamischen Systems scheint Levermann dazu inspiriert zu haben, sich zu fragen, ob dieses Modell nicht eine Vorlage sein könnte, das Dilemma des expotenziellen Wachstums in einem begrenzten Raum zu lösen. Aus seinen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das Modell nur dann das erwartete Verhalten hervorruft, wenn die Grenze unüberwindlich, also absolut, ist und der verbleibende Raum frei von sonstigen Regulierungen verfügbar ist, damit sich der angestrebte innovative und kreative Prozess der Faltung ungehindert entwickeln kann.

Auf diesem Modell basieren die Vorschläge, die Levermann dann ausführt. Zuvor versucht er dem Leser zu vermitteln, dass die globale Klimasituation aus der Perspektive der Naturwissenschaften in einem Stadium ist, in dem man harte Entscheidungen treffen muss: nicht für morgen, aber z. B. für einen Zeitraum für die nächsten zwanzig Jahre. Die Entscheidung muss heute fallen, um dann in einer Art Übergangszeit (z.B. zwanzig Jahre) die Entscheidung schrittweise zu realisieren. In der politischen Diskussion wird schon seit längerem der Gedanke sogenannter „Leitplanken“ verarbeitet, die die Entwicklung der nächsten Jahre bestimmen sollten. Levermann setzt hier weniger auf Leitplanken als auf wenige klare, unüberwindbare Grenzen (‚Verbote‘), die nicht ein sanftes Weniger von Etwas anstreben, sondern schlicht Null.

Die zwanzig Jahre sind gewissermaßen ein Zugeständnis an die Politik, die sich immer leichter tut, Dinge anzukündigen als sie gleich umzusetzen. Ich bin mir nur nicht sicher, wie diese Entscheidung gefasst werden muss, damit sie von den Gegnern, deren Lobbyisten und von den nachfolgenden Vertretern der Politik nicht wieder aufgeweicht werden können. Es wird mit jedem Jahr die Auseinandersetzung härter werden, denn die ultimative Umsetzung rückt ständig näher: Die Uhr tickt!. Die Entscheidung müsste vermutlich Verfassungsrang erhalten und die notwendigen Maßnahmen müssten einklagbar sein.

Die angesprochenen Grenzen unterscheiden sich grundlegend von den sogenannten mikroökonomischen Maßnahmen, die als Regulierungen nach Levermanns Meinung den Faltungsprozess behindern. Hier bin mir nicht sicher, was in diesem Zusammenhang eine ‚Regulierung‘ ist. Rechtsfreie Räume z.B. sind nach meinem Verständnis in unserem Gesellschaftssystem eher selten. Aber rechtsfreie Räume bewusst schaffen, da kann ich nicht mitgehen, weil die Kreativität und die Innovation, wenn wir sie komplett „von der Leine“ lassen, erfahrungsgemäß nicht nur positive Seiten hat. Die Faltung ist m.E. ein eigenständiger gesellschaftlicher Prozess, dessen Entwicklungsrichtung nicht oder nur grob vorhersagbar ist.

Wenn wir durch das Setzen von absoluten Grenzen (also nicht weniger, sondern radikal Null) einen Strukturwandel auslösen wollen, so setzt das Wort ‚Wandel‘ ja voraus, dass Strukturen vorhanden sind, die es zu verändern gilt. Wir fangen nicht bei Null an, sondern steigen in einen laufenden Prozess ein. Ob unter diesen Voraussetzungen der gewünschte Strukturwandel, wie vom Modell erwartet, einsetzt, erscheint mir unsicher.

Damit sind wir in einem anderen Problemfeld: Modelle leben meist davon, dass sie eine Idee verkörpern und keinen realen Prozess. Modelle werden oft unter einer „tabula rasa“-Fiktion erstellt und müssen dann bei ihrer Umsetzung in einer gelebten Umgebung so viele Zugeständnisse machen, dass die Gefahr besteht, dass die Voraussetzungen, die das Modell zur Funktionsfähigkeit braucht, nicht mehr eingehalten werden können.

Es gibt zwischen Theorie und Praxis so etwas wie eine ‚Unschärferelation‘: Was in der Theorie sauber und scharf bestimmbar ist, verliert bei seiner Übertragung auf reale Um- oder Zustände ihre Eindeutigkeit, die der Sachverhalt in der Theorie (im Modell) noch hat. Deshalb sehe ich in der Faltung ein gewisses gesellschaftliches Risiko: Was ist, wenn sich nach Einführung der absoluten Grenze möglicherweise aus historischen, sozialen oder politischen Gründen keine oder eine unerwünschte Faltung einstellt?

Wenn wir ‚heute‘ eine Entscheidung über eine absolute Grenze treffen, haben wir im Grunde zwanzig Jahre Zeit, diesen Wandel zu begleiten und wirksam zu beeinflussen. Es wird nur notwendig sein, vergleichbar mit der Reduktion des Volumens der EU-Zertifikate zum CO2-Ausstoss, ein Verfahren zu entwickeln, in dem der angestrebte Wandel unaufhaltsam und für jedermann nachvollziehbar verfolgt werden kann.

Es wird mächtige Gegner dieser Grenzen geben, weil einige Beteiligte ihre hochrentierlichen Geschäftsmodelle aufgeben müssen. Ob sie in dem ‚Faltungsspiel‘ (dem Strukturwandel) Erfolg haben werden, ist nicht vorhersagbar. Insbesondere große wirtschaftliche Einheiten, die sich in der Regel nicht durch inhärente Flexibilität und besondere Kreativität auszeichnen, werden unter starkem Druck stehen, weil die Strategie, Flexibilität und Kreativität bei Bedarf zukaufen zu können, nicht mehr aufgehen wird. Die Karten werden insoweit neu gemischt.

Das Faltungsmodell setzt absolute Grenzen nur in Fällen von Prozessen, die selbstverstärkend wirken und damit absehbar auf eine „Explosion“ hinauslaufen. Nach unserem Verständnis ist Wachstum solch ein sich selbstverstärkender Prozess, der mathematisch als eine Expotenzialfunktion beschrieben wird. Am Anfang ist die Kurve flach und unauffällig, um dann in Abhängigkeit von den jährlichen prozentualen Zuwächsen jäh in die Vertikale überzugehen und ins Unendliche zu „explodieren“. Die Wachstumsbegrenzung wird gewöhnlich physikalisch in zwei eng verwobene Kategorien aufgeteilt: einmal muss der CO2-Ausstoß beendet werden und zum anderen der Ressourcenverbrauch. Beide Variablen sind durch unsere Wirtschaftsform als selbstverstärkend zu klassifizieren und wir werden im Rahmen des Ansatzes der Faltung beide durch absolute Grenzen einschränken müssen. Die Einschränkung von CO2 ist dabei wohl zeit-sensibler als die Einschränkung des Ressourcenverbrauchs. Im Hintergrund wabert dann noch ein drohendes Plastikverbot, weil der Einfluss von Mikroplastik in unseren Lebensprozessen nicht mehr beherrschbar ist.

Wir haben nach meinem Verständnis aufgrund der physikalischen Verhältnisse keine andere Wahl. Mit der Physik kann man nicht verhandeln. Wir können die physikalischen Gegebenheiten nur akzeptieren und uns anpassen.

Die Frage ist berechtigt, ob die absolute Grenzziehung bei CO2 und beim Ressourcenverbrauch ausreichen werden, um möglichst viele, wenn nicht alle physikalisch irreversiblen Kipppunkte zu vermeiden. Die Frage ist nur schwer zu beantworten, weil die globale Null-Grenze nicht ohne m.E. tiefgreifende Veränderungen in unseren Strukturen (Stichwort: Strukturwandel) realisiert werden kann. Was sich konkret ändern wird oder muss, ist m.E. aus dem Vorschlag von Anders Levermann aufgrund der bestehenden Komplexität gegenwärtig nicht ableitbar.

Levermann vertritt die Auffassung, dass die absoluten Grenzen Ausnahmen bleiben müssen, weil wegen deren Radikalität hier Vorsicht walten sollte. Zu viel des Guten erstickt möglicherweise mehr als uns recht sein kann. In seinem Buch hat er dann noch drei weitere Grenzen eingezogen, die sich m. E. als eine gesellschaftlich orientierte Konsequenz aus dem naturwissenschaftlich orientierten Ansatz nachvollziehbar ergeben3:

  • Begrenzung der Unternehmensgröße
  • Begrenzung des Erbens
  • Begrenzung der Einkommensunterschiede

Levermann verlässt damit die physikalisch fundierte Sphäre und wird zum politisch denkenden Menschen, der sich fragt, wie eine Gesellschaft bei derartigen Herausforderungen zusammengehalten werden kann. Die ausführlichen Begründungen bitte ich in seinem Buch nachzulesen.

Wenn wir Wachstum durch Faltung ersetzen, so hat dieses Vorhaben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn wir richtig große Unternehmen als wirtschaftlich inattraktive Unternehmensformen besteuern, weil der Handlungsraum für die Faltung kleiner wird und wir nicht mehr in ‚Größe‘ investieren können, sondern in die Vielfalt und Vielfalt ist mit extrem großen Unternehmen, deren Finanzkraft die unserer Staatshaushalte oft weit übertrifft, nicht herzustellen. Es muss der Primat der Politik sichergestellt bleiben.

Die Begrenzung des Erbens ist dann eine m.E. logische Folge, indem Vermögensübertragungen von Todes wegen pro Person auf z.B. 2 Mio. Euro oder Dollar begrenzt werden. Das trifft den Normalbürger nicht. Der Erblasser muss also bei großen Vermögen entsprechend viele Personen mit seiner Erbschaft beglücken. Hohe Vermögensverdichtungen sollen im Sinne der Vielfalt aufgelöst werden. Was mit „Personen“ konkret gemeint sein könnte, müsste noch geklärt werden (natürliche, juristische). Der Staat ist dabei eindeutig keine ‚Person‘, er zieht seinen Obolus über die Steuer ein. Die Idee dahinter ist die Erwartung, dass mit einem Erbe von 2 Mio. Euro sich kaum einer aus den gesellschaftlichen Pflichten eines Gemeinwesens verabschieden kann. Er wird sich einbringen müssen.

Wenn das Erben letztlich eine Rückführung von Vermögen in die Vielfalt darstellt, so ist nach dieser Logik auch der Aufbau von Vermögen im Rahmen von Einkommensunterschieden zu begrenzen. Es geht nicht darum, zu nivellieren, es geht darum, extreme Einkommensentwicklungen einzuhegen. Levermann schlägt vor, das Jahreseinkommen auf z.B. zwei Millionen Euro zu begrenzen. Die Grenze wird durch Besteuerung sichergestellt. Einkommen über 2 Millionen Euro sind zwar möglich, werden aber zu einhundert Prozent besteuert. Es wird sich also nicht lohnen, mehr zu verdienen. Mit zwei Millionen Jahreseinkommen kann man über ein normales Arbeitsleben durchaus ein ansehnliches Vermögen aufbauen. Wenn es dann zum Vererben kommt, gelten wieder die Vererbungsregeln und der Vermögensaufbau beginnt für die Erben von vorne. Damit wird finanzielle Macht nicht mehr (so einfach) vererbt werden können.

Lassen Sie uns nochmals den großen Bogen spannen: Der Neoliberalismus will uns glauben machen, dass es zu dieser Wirtschaftsform keine Alternative gibt. Margret Thatcher werden die Worte in den Mund gelegt: „There is no alternative“ (Tina). In der Ökonomie wurde diese Auffassung wie ein Glaubensbekenntnis rauf und runter gebetet. Nahezu dreißig Jahre lang hat man uns mit der Auffassung hingehalten, dass es möglich wäre, Wachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln. Das hat bis heute nicht einmal im Ansatz geklappt.

Nun kommt aus der Theorie der komplexen und dynamischen Systeme eine Erkenntnis, die es möglich macht, die unbestrittene Kraft des Wachstum umzulenken. Aus einer Wachstums-Trajektorie kann man durch eine radikale Grenzziehung die eher eindimensionale Trajektorie in eine Faltung zwingen. Aus einem schlichten Vorwärtsstreben kann man eine Faltung, einen Eintritt in die Vielheit erwarten. Die Einfalt der Trajektorie wird zur Vielfalt der Faltung. Das könnte der Punkt sein, um festzustellen: „There is a valid alternative.“ Wir brauchen jetzt noch eine historisch relevante Figur, der wir die neue ‚Erkenntnis‘ in den Mund legen können, ohne dass die Person noch die Erkenntnis dabei Schaden nimmt. Die nächsten Schritte müssen sich mit dem Narrativ befassen, um diese Alternative in eine Geschichte zu kleiden, die ein wesentlicher Teil der Gesellschaft als interessant und für sie als vorteilhaft akzeptieren kann. Das wäre eine dankbare Aufgabe für die Ökonomen, aber ich habe meine Zweifel, ob sie dazu fähig sind, weil sie plötzlich das Gegenteil von dem vertreten sollen, was sie uns jahrzehntelang gepredigt haben.

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1Anders Levermann ist am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf dem Feld der Komplexitätsforschung tätig. (https://www.pik-potsdam.de/)

2Ich hoffe, meine Erklärungen sind richtig und verständlich. Sie sind das Ergebnis meines Verständnisses der Ausführungen Levermanns, aber ohne die dafür notwendigen mathematischen Kenntnisse zu besitzen.

3Anders Levermann, a.a.O., S. 211ff. u. S. 261f.

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