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Bürgerräte – ist das ein Durchbruch?

Unsere repräsentative Demokratie, so wie wir sie gegenwärtig praktizieren, weist m.E. demokratische Lücken auf. Untersuchungen haben gezeigt, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung – ca. 30% – 40% (je nach Anlass) – gar nicht zur Wahl gehen mit der häufigen Begründung, dass es auf ihre Stimme sowieso nicht ankomme. Daraus spricht auch ein gerüttelt Maß an bürgerschaftlicher Resignation.

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Politisch gesehen sind diese 30% – 40% (je nach Bedeutung der Wahl für das persönliche Umfeld) im Grunde eine ernstzunehmende Aussage. Manche Partei würde sich glücklich schätzen, wenn sie es schaffen könnte, zumindest temporär bis zu 40 % Zustimmung aus der Wählerschaft mobilisieren zu können.

Mein Eindruck ist, dass die etablierten Parteien wenig Anstalten machen, die Gruppe der notorischen Nichtwähler zu einem Engagement zu bewegen. Die Parteien sind ausreichend damit beschäftigt, ihre internen Auseinandersetzungen so zu gestalten, dass die jeweilige Partei ein gewisses Maß an Geschlossenheit darstellen kann. Da scheint wenig Platz zu sein, sich auch noch um „verlorene Schäfchen“ zu kümmern.

Erst seit deutlich wird, dass die Extremisten unserer politischen Landschaft offensiv versuchen, hier in populistischer Manier auf Stimmenfang zu gehen, kommt die Situation etwas in Bewegung. Dabei wurde mit dem gegenwärtig diskutierten und zu realisierenden ‚Bürgerrat‘ ein Gedanke aufgegriffen, der in den 1970er Jahren von Prof. Peter Dienel entwickelt und damals dem deutschen Politikbetrieb vorgestellt wurde1. Der Erfolg war gering: Eine gute Idee am falschen Ort zur falschen Zeit. Sein Sohn, Hans-Luitger Dienel, führt heute das Institut Nexus2 und hat sich u.a. auf die praktische Anwendung des sogenannten „deliberativen Beteiligungsmodell“ spezialisiert.

In den 1990er Jahren hat James Fishkin die Idee im englischsprachigen Raum wieder aufgegriffen und war mit seinem Ansatz in seinem politischen Umfeld deutlich erfolgreicher. Weltweit wurden inzwischen mehrere hundert Veranstaltungen (zahlenmäßig nach oben offen) zu diesem Ansatz durchgeführt. Das „deliberative Beteiligungsmodell“ gilt als sehr erfolgreich, um offensichtliche Defizite unseres Demokratiemodells zu ergänzen. Ohne den repräsentativen Demokratieansatz aufzulösen, wird über das Beteiligungsmodell erfolgreich ein Stück direkter Demokratie in das bestehende System eingefügt3.

Die meisten Gegenstimmen richten ihren Fokus auf das Auslosen der Beteiligten. Die Assoziation zum Glücksspiel drängt sich auf, ist aber grundfalsch. Der alte Platon hat einem wesentlichen Gesichtspunkt Ausdruck verliehen: Warum sollten Philosophen die Staatsführung übernehmen? Einerseits, weil sie als nachdenklicher und weiser gelten, andererseits aber ganz wesentlich, weil sie die einzigen sind, die zum Regieren kein Lust haben. Und das sei das Wichtigste!

Platon hat auch das Losverfahren, das schon seiner Zeit in Athen praktiziert wurde, positiv beurteilt: Er sieht den Hauptvorteil darin, dass das Gesetz des Zufalls gilt, in dem ein wesentliches Moment des Systems abgeschafft wird, nämlich dass jene an die Regierung kommen, die regieren wollen. Platon (Der Staat, 8. Buch) teilt die Idee, dass die schlechteste Regierung jene ist, bei der die, die herrschen wollen, es auch können. Man muss diese Meinung nicht unbedingt teilen, aber man kann erkennen, dass diese Ideen schon im alten Athen die Gemüter bewegte.

Wie ist die Reaktion der professionellen Politik zum Bürgerrat? Sehr zwiespältig!

Von der einen Seite kommt das Argument, der Bürgerrat sei undemokratisch, weil er nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgeht. Dieses Argument vernachlässigt die Tatsache, dass die gegenwärtige Zusammensetzung des Parlaments die Gesellschaft in keiner Weise widerspiegelt und dass eine Wahl, bei der mit zunehmender Tendenz die Wahlbeteiligung gegen 50% abzusinken droht, die Grundfesten unseres Systems in Frage stellen: Ist das Parlament für die Bürger dieses Landes noch repräsentativ? Wenn wir diese Voraussetzung verneinen müssten, bricht die Idee einer repräsentative Demokratie zusammen.

Das Losverfahren schafft über die Schichtung des Zufalls ein deutlich besseres Abbild unserer Gesellschaft wie das die gegenwärtigen Wahlen erreichen. Wenn je nach Bedeutung der Wahl zwischen 30 und 40% nicht zur Wahl gehen und die Parteien keine erkennbare Lösung dieses Problems verfolgen, so ist es nur sinnvoll und richtig, ein Verfahren zu etablieren, das gezielt und bewusst alle Schichten der Gesellschaft zum Diskurs einlädt.

Betrachten wir die gewählten Politiker und machen wir uns klar, welchem Druck diese Politiker durch den allumfassenden Lobbyismus ausgesetzt sind. Das Merkwürdige ist, dass ausgerechnet der Souverän (das Volk) über keinen einzigen Lobbyisten verfügt. Dem werden die gewählten Politiker entgegen halten, dass sie diese Funktion übernehmen. Das stimmt aber nicht und das ist auch an den politischen Entscheidungen der letzten 50 Jahre abzulesen. Die Mehrzahl der Gesetzesänderungen haben dem wohlhabenden Teil unserer Gesellschaft regelmäßig Vorteile zukommen lassen; der klassische „kleine Mann“ ist i.d.R. zu kurz gekommen. Mit anderen Worten: Wenn die offizielle Politik aktiv wird, dann regelmäßig zugunsten jenes Teils der Gesellschaft, der als hoch vernetzt, als aktiv, als finanziell potent und erfolgreich gilt.

Der Bürgerrat könnte sich von dieser Schiefe der Entscheidungen freimachen und die Aufgabe übernehmen, „Lobbyist“ des Bürgers zu werden. Die Ergebnisse der Tagungen des Bürgerrates sind problembezogen aufgrund der Fragestellung und gehen dem Parlament zu und werden im Parlament eine Reaktion auslösen müssen.

Der Bürgerrat arbeitet in erster Linie problembezogen und nicht macht-bezogen, wie ein Parlament. Die Macht des Parlamentes ist doch jene Komponente, die die Lobbyisten anzieht wie das Licht die Mücken; die Sachbezogenheit ist dabei nur Beiwerk. Der Bürgerrat, der als Institution relativ kurzfristig einberufen wird, seine Diskussionen führt und hoffentlich zu einem sachbezogenen Ergebnis kommt, löst sich danach wieder auf. Die Institution kommt nur zeitweise zum Leben und kann deshalb auch von den konkurrierenden Lobbyisten, gleich welcher Couleur, nicht wirksam beeinflusst werden. Dazu ist die Zeitspanne, für die der Bürgerrat sich jeweils ehrenamtlich mit Aufwandsentschädigung konstituiert, zu kurz.

Der Bürgerrat hat keine Entscheidungsmacht. Die liegt weiterhin beim Parlament. Aber die Rückkopplungen, die der Bürgerrat der Politik geben kann, sind aus dem ungefilterten realen Leben und keine Umfragen, Meinungen und parteipolitischen Aussagen, die durch unzählige Filter gelaufen sind.

Was mich jedoch irritiert, ist die Tatsache, dass man zum Bürgerrat kein Gesetz oder etwas Vergleichbares findet. Es gibt ein Portal zum Bürgerrat, aus dem erkennbar ist, dass die Idee eines Bürgerrates für alle Ebenen unseres politischen Systems (Bund, Land, Landkreis, Kommune) Anwendung finden soll, aber bei der Suche nach Regeln, die auch die Politik binden, suche ich vergebens. Aufgrund der Problemlösungskonkurrenz zwischen gewählten Politikern und dem Bürgerrat ist es nicht selbstverständlich, dass dem Bürgerrat ein längeres Leben beschieden ist.

Eine leichte Machtverschiebung im Parlament und ich bin ziemlich sicher, dass dem Bürgerrat der Geldhahn abgedreht wird. Wir sind ja i.d.R. der Auffassung, dass Wettbewerb das Geschäft belebt, aber nur solange, soweit die Macht nicht ausreicht, um ein Monopol aufzubauen. Dann läuft der Spruch leider ins Leere. So wird es im Bereich der Wirtschaft beschrieben, warum sollte es in der Politik anders laufen?

Immer dann, wenn die relativ geringe Wahlbeteiligung zur Sprache kommt, taucht früher oder später auch das Argument der Bildung auf. Durch mehr Bildung will man den Schritt schaffen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Ich halte das für Wunschdenken. Aber: Stellen Sie sich vor, dass bei uns jährlich auf den unterschiedlichen Ebenen des Gemeinwesens hunderte von Bürgerräten ihre Arbeit aufnehmen würden. Und jeder Bürgerrat würde 25 – 150 Personen zum Diskurs einladen und die Teilnehmer würden Teil einer konkreten Problemlösungsbeitrags werden: das wäre „Bildung“ aus einer Erfahrung heraus, die die Teilnehmer sicher so schnell nicht mehr vergessen werden. Sie treten aus der Anonymität heraus, kommen in Kleingruppen zu Wort und können feststellen, dass ihre (möglicherweise kleinen) Beiträge Teil eines Lösungsprozesses werden. Das ist eine Bildungs-Erfahrung, die kann kein Buch und kein Vortrag ersetzen. Ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen.
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1Dienel, Peter, Planungszellen, 1978
2Vgl. https://nexusinstitut.de/
3Vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=H4j7RQ3uoJE (aufgerufen am 21.7.2023)

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