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Warum mäßigen?

Mit Freunden diskutierten wir die Frage der Mäßigung unserer Ansprüche angesichts der Klimaproblematik. Wir wurden über die gegenwärtige Auffassung verschiedener Maßnahmen in Politik und Gesellschaft nicht einig. Die Älteren unter uns hatten dabei mit einer Aufforderung zur Mäßigung weniger Probleme, während die Gesprächsteilnehmer der jüngeren Generation sich durch den Begriff offensichtlich viel stärker eingeschränkt fühlt. Deshalb kam aus ihren Reihen auch die provokante Frage: „Warum mäßigen?“

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Dabei gab es zwei unterschiedliche Ansichten: die einen beschrieben den Lösungsraum zur Klimapolitik aus der technologischen Perspektive und sind der Überzeugung, dass die anstehende Klimaproblematik mit künftiger Technologie beherrschbar sei. Die andere Ansicht gab zu bedenken, dass die heutige Problematik doch gerade durch eine fragwürdige Anwendung von Technologie entstanden sei und ein weiterhin blindes Vertrauen in die technologische Entwicklung die anstehenden Probleme nur verschärfe. Die „Technologen“ hoffen optimistisch auf einen zukünftigen Durchbruch in der Technik und die „Fraktion der Skeptiker“ ist der Auffassung, dass so etwas wie Mäßigung ein pragmatischer Ansatz ist, keinen unbegründeten Optimismus zur Voraussetzung hat und die Maßnahmen sofort verfügbar wären. Sie bietet zudem die Chance, den sich ständig aufbauenden Zeitdruck aus der Diskussion zu nehmen.

Als Problem bleibt, dass mit Mäßigung ein Zurücknehmen gewisser Ansprüche unvermeidlich erscheint, und diese Rücknahme vielen Menschen der ‚modernen‘ Gesellschaft als politisch unzumutbar gilt. Dabei ist Mäßigung ein uraltes Prinzip und hat sich weltweit im Zeitlauf schon tausendfach bewährt.

Dabei gibt es m.E. zwei Ansätze, sich mit dem Thema auseinander zu setzen: Einmal kann man die Mäßigung aus der Ideen-Geschichte heraus entwickeln und zum anderen kann man sich fragen, was den ‚modernen‘ Menschen von den Menschen unterscheidet, die bis in die jüngere Vergangenheit die Fähigkeit zur Mäßigung als Bestandteil einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung verstanden haben.

Was könnte mit Mäßigung denn gemeint sein? Als ‚Mäßigung‘ gilt die Fähigkeit, Maß zu halten. Es bedeutet Übertreibungen oder Extreme zu vermeiden, heißt Gier und Getriebensein, Emotionalität und Erregung als Ausdrucksformen mangelnder Selbstbeherrschung im Zaum zu halten. Mäßigung erfordert Zurückhaltung und Zügelung der eigenen Person1. Dabei sollten wir nicht übersehen, dass der ‚moderne‘ Mensch in der Mäßigung auch ein Moment des Verzichtes erkennen will. Und Verzicht gilt ihm als eine Zumutung.

Aber zuerst ein paar Überlegungen zur Ideen-Geschichte der Mäßigung. Die Mäßigung ist Teil aller mir bekannten Philosophie-und Religions-Systeme: Die Griechen, die Inder, die Chinesen und die Japaner kennen diesen Begriff und haben ihm in ihrem Denken eine große Bedeutung zugemessen, weil die Lebenspraxis über die Jahrtausende zeigte, dass es ein auskömmliches und friedvolles Zusammenleben nur dann geben kann, wenn sich alle Beteiligten ‚mäßigen‘, sich also ein Stück weit zurücknehmen und sich in Rücksicht üben können. Das fliegt den Menschen nicht zu, das muss man üben!

Die Griechen pflegten zu Platons Zeiten ihr Weltbild über die vier Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit (Mut) und Besonnenheit. Die Gerechtigkeit war der umfassendere Begriff, weil Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit ohne Gerechtigkeit wenig sinnvoll erscheinen. Mäßigung ist bei den alten Griechen Teil der Besonnenheit. Besonnen handeln kann man nur, wenn man sich auch zurücknehmen kann.

Die griechische Perspektive wurde dann in Europa von der römisch-katholischen Kirche weitgehend übernommen. Da man dort dem (heidnischen) griechischen Denken nicht unmittelbar Referenz erweisen wollte, hat die Kirche für ihre Gläubigen die sieben Todsünden geschaffen, deren Vermeidung einen Weg zur religiösen Glückseligkeit anbot. Diese Lebensregeln galten neben der griechischen Klassik und bestärkten sich wechselseitig und waren Jahrhunderte lang meist uneingeschränkt eine allgemein gültige moralische Leitlinie.

Erst die Aufklärung konnte die religiös-moralische Bevormundung abschütteln und durch eine deutlich individuellere Sicht ersetzt: „Handle so, dass die Maxime Deines Handelns Grundlage für ein allgemein gültiges Gesetz sein könnte“ (Immanuel Kant). Die Mäßigung liegt darin, dass egoistische Elemente wenig Chancen haben, weil sie so weit entschärft werden müssen, dass ein allgemein gültiges Gesetz darauf begründet werden kann. Neben dem darin enthaltenen Moment der Mäßigung wurde aber auch das Individuum darin bestärkt, seine jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Es wird auch deutlich, dass Mäßigen einen nur individuell realisierbaren Wert darstellt. Dass sich eine Gesellschaft ‚mäßigt‘, erscheint als ein Widerspruch. Zur Mäßigung kann man zwar auffordern, aber mäßigen muss sich der Einzelne aus eigenem Antrieb heraus.

Dabei stellt sich die Frage, ob unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld, in dem wir uns heute bewegen, diese oben beschriebene Sichtweise (noch) unterstützt? Sehen wir uns als Teil eines Ganzen oder hat der sogenannte ‚Massenindividualismus2‘ eine Haltung hervorgebracht, in der Mäßigung nur dann denkbar ist, wenn wir durch machtvolle äußere Umstände dazu gezwungen werden (z.B. Katastrophen u.ä.). Das intrinsische Moment scheint eher zu verkümmern.

In der Nachkriegszeit sind wir dem Narrativ der Leistungsgesellschaft gefolgt. Heute hat sich das Narrativ verändert. Leistung bleibt notwendige Voraussetzung, aber wir haben den ‚Erfolg‘ als neue Zielgröße definiert. Nicht die Leistung zählt, sondern allein der Erfolg. Das ist heute der Ausdruck von Individualität und wir sind bereit, dem ‚Erfolgreichen‘ manche „Verrücktheit“ zu verzeihen. ‚Erfolg haben wollen‘ und ‚Mäßigung fordern‘ sind wohl eher Gegensätze als dass man Gemeinsamkeiten entdecken könnte.

Waren die „Alten“ einfach blind, den großen Vorteil des „Erfolges“ nicht zu erkennen? Erfolg haben stellt ein singuläres Geschehen dar, vergleichbar mit dem Glück, das einem Menschen widerfährt. Erfolg nutzt sich schnell ab. Erfolg ist so etwas wie ein Superlativ, der ständig übertroffen werden will. Wie lange hält der Mensch den Superlativ aus, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen?

Erfolg macht süchtig (oder abhängig) und einsam. Der Erfolg wird zwar gerne einem Individuum zugeschrieben, aber der Erfolg hat regelmäßig viele Väter, letztlich braucht er auch glückliche Umstände. Wer Erfolg hatte, sollte sich glücklich schätzen und sich dahin gehend mäßigen, als er erkennt, dass Erfolg nicht unbedingt wiederholbar ist. Die Umstände sind nicht immer günstig. Wer diese Ansicht für falsch hält, den darf ich an die ‚erfolgreichen‘ Manager erinnern, die zum Sprung an die Spitze angesetzt haben, das Unternehmen wechselten, dabei neue Umstände vorfinden und mit einer anderen ‚Kultur‘ konfrontiert werden, und sie müssen plötzlich für sich feststellen: „The Thrill is Gone“ (B. B. King).

Die Sinnhaftigkeit der Mäßigung kann man auch aus einer anderen Perspektive zu erfassen versuchen. Wir betreiben die Geschäfte heute auf unserem Planeten aus der anthropozentrischen Sicht. Diese Sichtweise kann man verkürzt mit der alt-testamentarischen Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan“ umschreiben. Dabei ist diese Aufforderung etwa vier- bis fünftausend Jahre alt und wird regelmäßig aufgrund der Zeitbezüge falsch interpretiert. Die nächstliegende Interpretation ist die kriegerische Intention einer Eroberung. Ich glaube, viele Herrscher haben die Aussage in diesem Sinne verstanden und haben auch so gehandelt. Als Folge zieht sich eine Blutspur durch die menschliche Geschichte. Aber man kann die Aussage auch anders interpretieren.

Die Aufforderung war in einer relativ „leeren“ Welt an eine Spezies der Biosphäre gerichtet, die sich zwar durch Intelligenz auszeichnete, aber zu jener Zeit über keine nennenswerten zivilen Technologien verfügte, um diese Aufforderung tatsächlich realisieren zu können. Wer es sich leisten konnte, verfügte über Sklaven, die erst dann als wirtschaftliches Mittel zur Herrschaft aufgegeben wurden, als man erkennen musste, dass die Produktivität von Technik und von (schlecht) bezahlten Arbeitskräften der Produktivität von Sklaven haushoch überlegen war. Dieser Vorgang entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert, als die Sklavenhaltung aus Renditegründen aufgegeben und dieser Entwicklung ein humanitäres Mäntelchen umgehängt wurde3, indem man die Sklaverei letztlich verbot als sie für die damalige Wirtschaft ihre Bedeutung längst verloren hatte.

Mit dem Niedergang der Sklavenhalterei entwickelte sich die Technologie rasant. Der ehemalig menschliche Sklave wurde durch effiziente und viel anspruchslosere „Energiesklaven“ (Maschinen) ersetzt. Der Energiebedarf nahm dabei gewaltig zu und wurde (nicht wie zuvor) durch die Verwendung von Holz, sondern glücklicherweise durch den wachsenden Einsatz von fossilen Brennstoffen (Steinkohle, Öl, Gas) befriedigt. Diese eher zufällige Veränderung hat der Abholzung der Wälder glücklicherweise Einhalt geboten, sonst wäre die technologische Entwicklung aufgrund offensichtlich werdender großer Umweltschäden in dieser Form wohl kaum möglich gewesen.

Mit anderen Worten: Die fragwürdige Realisierung der alt-testamentarischen Forderung , sich „die Erde untertan machen“ zu wollen, wird in seinen zivilen Voraussetzungen mit der Entwicklung der erforderlichen Technologie erst seit etwa 200 Jahren erfüllt, gepaart mit einem parallel entstehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem, deren Wachstumsideologie den Prozessen die notwendige Dynamik vermittelt.

Die Wachstumsideologie gepaart mit den Erfolgen der technischen Industrialisierung führte u.a. dazu, dass vieles, was in der Vergangenheit als unmöglich galt, realisiert werden konnte. Waren die unkalkulierbaren Einflüsse der Biosphäre in den Jahrhunderten zuvor der große Unsicherheitsfaktor, so hat die Technologie diese Abhängigkeit des Menschen auf vielen Gebieten scheinbar stark reduzieren können. Als Folge haben wir die notwendige Verbindung zu unseren Lebensgrundlagen Schritt für Schritt verloren und die Konsequenzen des Bindungsverlustes werden in der Gegenwart im Rahmen der „Klimakrise“ realisiert und beschrieben.

Es wird deutlich, dass unser technikverliebter Ansatz ohne Frage eine Reihe von Vorteilen vermitteln konnte. Er macht aber auch deutlich, dass unser Narrativ zur Technologie wesentliche Defizite bzw. blinde Flecken aufweist, und uns einen Schein von Sicherheit vermittelt, die unseren dominanten Technikansatz für die Zukunft in Frage stellen.

Seit etwa 70 Jahren hat sich m.E. ein neuer Denk-Ansatz schrittweise durchgesetzt, der unter dem Namen ‚Systemtheorie‘ läuft und eine Metatheorie bereit hält, die in der Lage ist, die Detailversessenheit des klassischen Ursache-Wirkungs-Ansatzes zu reduzieren und einen eher ganzheitlichen Blick auf die handlungsrelevanten Zusammenhänge zulässt.

Der Systemansatz unterscheidet sich grundlegend von dem gegenwärtig gepflegten anthropozentrischen Ansatz. Letzterer ist eine Realisierung der Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan, denn ihr seid die Krone der Schöpfung“. Das klingt religiös und das ist es wohl auch von seiner monotheistischen Grundlage her. Aber das zu beobachtende Verhalten hat vielleicht seinen Auslöser im religiösen Raum, aber der Umsetzung fehlt jedes religiöse Moment – hier herrscht schlicht Machtausübung: Was dem Menschen nutzt und als Ertrag Geld generiert, gilt zunehmend in den letzten 200 Jahren als gut und richtig. Die möglichen Gesichtspunkte anderer Beteiligter, die unter der Bezeichnung Umwelt oder Mitwelt oder externe Effekte laufen, gelten für den ‚Erfolg‘ als weitgehend irrelevant.

Der Systemansatz stellt das Leben (oder Überleben) eines Systems (z.B. die Biosphäre) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Mensch und seine Mitwelten (als sogenannte Subsysteme) werden als gleichberechtigte Elemente des Systems der Biosphäre verstanden. Und für sie gilt es, das System der Biosphäre funktionsfähig zu halten. Die Funktion dieses ‚Makrosystems‘ liegt darin, das ‚Überleben‘ (die Erhaltung) des Systems und seiner Elemente sicherzustellen und seine weitere Entwicklung (Entfaltung) zu fördern. Allein die Tatsache, dass dieser Ansatz den Menschen (bisher die ‚Krone der Schöpfung‘) und seine Mitwelten auf eine Ebene stellt, ist aus der Sicht des alten Verständnisses der Rolle des Menschen in der Welt eine herbe Zurücksetzung. Es geht nicht mehr darum, dass der Mensch einen Ausgleich nur unter seinesgleichen finden muss; er muss sich auf Augenhöhe auch noch mit den Ansprüchen seiner Mitwelt auseinander setzen. Das wäre m.E. ein noch nie dagewesener Akt der Mäßigung, zumindest für die westliche Sicht auf die Welt. Dabei muss das System der Biosphäre erhalten bleiben und sollte sich auch entfalten können.

Das besondere Problem liegt dabei in der Verantwortung. Keine Spezies der Biosphäre ist technisch und mental in der Lage, so massiv auf die Biosphäre Einfluss zu nehmen wie der Mensch. Mit seiner Einflussfähigkeit wächst auch seine Verantwortung. Einige sprechen hierbei auch von Solidarität, die der Mensch im eigenen Interesse für die anderen Spezien der Biosphäre aufzubringen habe.

Wir haben die Ausführungen mit der Frage begonnen: Warum sollten wir Mäßigung üben? Wir haben auch recht plausible Antworten gefunden, einmal aus der Lebenspraxis und zum anderen Mal aus einer eher theoretischen vorausschauenden Sicht heraus. Die Lebenspraxis steht uns näher und spricht vermutlich mehr Menschen an, als der Versuch, Mäßigung aus einer theoretischen Sicht unter dem Primat der Verantwortung als notwendig zu erachten. In unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgebung erscheint mir der emotionale Affekt stärker verbreitet zu sein als das rationale Moment. Mäßigung hat objektiv einen Bezug zum freiwilligen Verzicht. Mäßigung stellt sowohl aus der Erfahrung heraus als auch aus einer eher theoretischen Perspektive langfristig eine hinreichend sichere Strategie zur Lösung der anstehenden Probleme dar. Wir gewönnen Zeit zur schrittweisen Abwägung unserer jeweils getroffenen Maßnahmen. Wir wären dann in der Lage, „Technologieoffenheit4“ nicht nur zu verbalisieren, sondern auch ggfs. zu konkretisieren. Wenden wir die Mäßigung als Grundsatz heute an, bevor uns die künftig absehbaren Umstände zur Unzeit zwingen werden, Einschnitte unseres Lebensstandards hin nehmen zu müssen.
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1Vgl. https://wiki.yoga-vidya.de/Mäßigung
2Dieser Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst (Individualität vs. Masse). Er ist möglicherweise Ausdruck einer polarisierten Gesellschaft.
3Vgl. ausführlicher: Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, Teil II, München 2020
4Ein m.E. politisch sehr fragwürdiger Begriff – er klingt in den Ohren der Wähler gut, vernachlässigt aber die Tatsache, dass Technologie noch nie offen war: sie folgte stets dem großen Geld. Eine Invention, auf die die Welt gewartet hat, die aber keine private Rendite verspricht, oder die Rentabilität der gegenwärtig benutzten Geschäftsmodelle schmälert, wird sich kaum durchsetzen lassen. Dann ist die geforderte Offenheit doch ein „heiße Luftblase“.

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Nachhaltigkeit – geht es etwas präziser?

Nachhaltigkeit wurde erstmals 1987 durch die Brundland-Kommission definiert. Als nachhaltig gilt eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Auf politischer Ebene gilt diese Definition als ein wesentlicher Schritt zu einem künftigen Umbau der gesellschaftlichen Entwicklung.

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Wie nahezu alle politischen Definitionen lassen sie viel mehr offen als dass diese Definition Standpunkte festlegt. Aber nur auf dieser Grundlage kann man hoffen, eine ausreichende Mehrheit zur Zustimmung zu bewegen. Es bleibt aber der Eindruck einer Entscheidung nach dem Prinzip: Wasch mich, aber mach mich nicht nass!

Trotzdem gibt es ein paar Gesichtspunkte, die man positiv hervorheben sollte:

  • ‚Nachhaltig‘ ist ein Begriff, der im deutschen Sprachgebrauch das Denken und Handeln auf Dauerhaftigkeit oder auf eine langfristige Perspektive verpflichtet.
  • ‚Nachhaltigkeit‘ ist eine Übersetzung des englischen Begriffs „Sustainability“, also die Fähigkeit etwas auszuhalten, zu ertragen, zu widerstehen und zu erhalten. Nachhaltig steht im deutschen Sprachgebrauch für ‚tiefgreifend‘ und ‚lange nachwirkend‘. Man versteht, was intendiert sein soll, aber die Begriffe lassen mehr offen als sie schließen.
  • Einige erkennen darin einen Gedanken „von Beschränkungen, die der Stand der Technologie und der sozialen Organisation auf die Fähigkeit der Umwelt ausübt, gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse zu befriedigen“. Diese etwas um die Ecke ausgedrückte Beschränkung ist mir aus der Nachhaltigkeitsdefinition nicht so recht nachvollziehbar.

Es geht nur um eine Definition, aber eine schwache Definition führt dazu, dass z.B. viele Unternehmen behaupten können, nachhaltig zu sein, wenn man aber bei näherer Betrachtung feststellen muss, dass diese Behauptung unter den Begriff des Unfugs (auch ‚Bullshit‘ genannt) eingereiht werden muss. Unfug ist aber i.d.R. nicht justiziabel. Und es gibt immer ein paar Kunden, die die Unsinnigkeit mancher diesbezüglichen Unternehmensaussagen offensichtlich nicht erkennen (wollen).

Im Rahmen meiner Suche nach einer etwas festeren Definition musste ich feststellen, dass es viele Engagierte gibt, denen es wie mir geht. Sie fragen sich: Ist mit der Definition etwas gewonnen, das über die Akzeptanz der Langfristigkeit einerseits und andererseits der Anerkennung von Bedürfnissen künftiger Generationen hinausgeht?

Konkreter wird Herman E. Daly, wenn er Nachhaltigkeit nicht nur an der langfristigen Perspektive und den Bedürfnissen der Menschen festmacht, sondern Nachhaltigkeit aus der Sicht der Ökologie klar und eindeutig wie folgt definiert:

  • „Das Niveau der Abbaurate erneuerbarer Ressourcen darf ihre Regenerationsrate nicht übersteigen.
  • Das Niveau der Emissionen darf nicht höher liegen als die Assimilationskapazität.
  • Der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen muss durch eine entsprechende Erhöhung des Bestandes an regenerierbaren Ressourcen kompensiert werden.“ (Hardtke/Prehn 2001, S.58)

Dabei fällt auf, dass die Definition der Brundland-Kommission die Nachhaltigkeit aus einer anthropozentrischen Perspektive entwickelt und die Frage, ob die Umwelt diese Form der Nachhaltigkeit überhaupt noch tolerieren kann, wird darin gar nicht erfasst. Hier liegt m. E. ein wesentlicher ‚Knackpunkt‘. Wir, die Menschen, müssen erkennen lernen, dass wir zwar den Herrscher spielen können (nach dem fatalen Motto: ‚Macht Euch die Erde untertan‘), aber am Ende nur das toleriert werden wird, was die Biosphäre als übergeordnetes System überleben lässt. Bevor die Biosphäre ernsthaft Schaden nimmt, werden die auf uns einstürzenden Folgen der ausgelösten Veränderungen so heftig werden, dass für unsere gewohnten Lebensumstände kein Platz mehr bleiben wird.

Wir neigen dazu, unsere Spezies Mensch als Subjekt unter ganz vielen Objekten zu sehen. Diese Sichtweise ist teilweise auch durch unsere Tradition des Wissenschaftsverständnisses geprägt. Sie hat auch dazu geführt, dass wir diesen Gedanken dazu benutzen, uns vorzustellen, dass diese Welt ausschließlich dazu geschaffen wurde, damit wir sie zu unserem Nutzen ausbeuten können. Der Utilitarismus, der insbesondere die Wirtschaft umtreibt, hat den Gedanken zum Leitbild erhoben und verherrlicht das egoistische Verhalten als angebliche Voraussetzung für das „größtmöglichen Glück auf Erden“.

Seit einigen Jahrzehnten beginnt sich zumindest in den Sozialwissenschaften eine andere Perspektive durchzusetzen, die die Welt nicht in übergeordnete Subjekte und tendenziell inferiore Objekte aufteilt. Der Ansatz stellt nicht den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft alles Existierenden, das vereinfacht als ‚System‘ (z.B. die Biosphäre) betrachtet wird. Der Mensch bleibt wichtig und zentral, denn nur er ist in der Lage, Systeme zu definieren und letztlich zu beurteilen. Der Mensch ist regelmäßig Teil eines Systems, aber nicht automatisch als deren Boss oder das Subjekt, sondern nur als Element, das zur Funktion des Systems etwas beitragen kann. In sozialen bzw. dynamischen Systemen werden Maßnahmen primär nicht nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung beurteilt, sondern anhand des Beitrags zur Funktions- bzw. Zweckerfüllung des Systems. Es werden nicht einzelne Strukturelemente (Bestände, Subjekte) als wichtig herausgehoben, sondern der Informationsfluss (das Netz der Relationen) innerhalb des Systems, der letztlich zur Zweckerfüllung aktiv beiträgt.

Was heißt das für die Nachhaltigkeit? Solange wir Nachhaltigkeit stets auf ein Attribut dessen reduzieren, was als Produkt das Wirtschaftssystem verlässt, sind wir auf der Verliererstraße. Nachhaltigkeit lässt sich nur als eine Funktion des Wirtschaftssystems begreifen! Nicht das Produkt muss nachhaltig sein, sondern das ganze System (die Produktion) hat sich der Nachhaltigkeit zu unterstellen. Das ist noch nicht bei allen angekommen.

Was könnte diese Aussage konkret bedeuten? Wenn ein Akteur (ein Subsystem) des Wirtschaftssystems ein neues Geschäftsmodell entwickelt, so hat er sich dabei die Frage zu stellen, ob sein geplantes Geschäftsmodell (und nicht nur das intendierte Produkt) der Nachhaltigkeitsfunktion des Wirtschaftssystem gerecht wird, weil andernfalls die Durchführung seines Geschäftsmodells erhebliche Kosten in anderen benachbarten Systemen auslösen, die die Durchführung seines Modells als dysfunktional klassifizieren werden.

Systeme müssen notwendigerweise einen Zweck erfüllen (sonst sind es keine Systeme). Es stellt sich die Frage: Was ist der Zweck unseres Wirtschaftssystems? Die Frage gilt in Wirtschaftskreisen als ketzerisch. Aber ist es die Versorgung der Menschen? Oder ist es der Versuch reich zu werden? Aristoteles hat letztere Sichtweise schon vor 2.500 Jahren als Chrematistik abgetan. Oder ist das Wirtschaftssystem in Wahrheit nicht beides: ein Subsystem, das sich der Versorgung und ein Subsystem, das sich der Chrematistik verschrieben hat? Die Antwort ist m.E. erst möglich, wenn wir als Gesellschaft diese Frage nach dem Zweck unseres Wirtschaftssystems ausführlich diskutiert haben.

Es bleibt die Frage offen, wie wir diesen Zwiespalt überwinden können oder wollen? Wenn Nachhaltigkeit über den anthropozentrischen Aspekt der Brundland-Kommission hinaus als notwendige Systemfunktion anerkannt wird, ergeben sich aus der Systemtheorie heraus einige Qualitäten, die Nachhaltigkeit in einen umfassenderen Zusammenhang stellen. Hartmut Bossel[1] hat Nachhaltigkeit und die Systemperspektive versucht zusammen zu bringen, indem er die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit eines Systems mit dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit verknüpft. Wenn Systeme so gestaltet werden, dass sie eine reelle Chance des Überlebens haben – so Bossel – sind diese Systeme i.d.R. relativ problemlos auch als nachhaltig zu klassifizieren.

Somit bleibt die Frage, welche Attribute braucht ein System zum Überleben? Bossel nennt diese Attribute ‚Leitwerte‘ und führt (hier verkürzt dargestellt) aus: (vgl. Bossel, a.a.O., S. 114):

  • Existenz und Versorgung: Die Ressourcen, die das System braucht, müssen ausreichend verfügbar sein.
  • Wirksamkeit: Das System muss die notwendigen Ressourcen beschaffen können, wobei langfristig der Aufwand den Erfolg nicht übersteigen darf.
  • Handlungsfreiheit: Das System muss auf die vielfältigen Anforderungen der Umwelt angemessen (und nachhaltig) reagieren können.
  • Sicherheit: (ausreichender) Schutz vor unvorhergesehenen Schwankungen der (volatilen) Umwelt.
  • Wandlungsfähigkeit: Das System muss die Fähigkeit entwickeln durch Lernen, Anpassung und Selbstorganisation sich an laufende Veränderungen anpassen zu können.
  • Koexistenz: Das System muss auf die Existenz und das Verhalten benachbarter Systeme vernünftig (i.d.R. kooperativ) reagieren (können).
  • Reproduktion: Autopoietische Systeme benötigen Freiraum zur (kreativen) Entfaltung
  • Emotionale Bedürfnisse: müssen befriedigt werden, Stress und Schmerz vermeiden
  • Ethisches Leitprinzip: Systeme benötigen eine ethisch normative Grundlage. Für die Steuerung bewusster Entscheidungen sind normative Maßstäbe zu verwenden.“

Die ersten sechs Leitwerte gelten für alle autonomen selbstorganisierenden Systeme. Die folgenden drei Leitwerte sind für selbsterzeugende, empfindungsfähige und bewusste Systeme charakteristisch. (vgl. Bossel, a.a.O., S.113)

Ohne auf die einzelnen Aspekte tiefer einzugehen, können wir aber davon ausgehen, dass Systeme mit den angeführten Eigenschaften eine adäquate Grundlage zur Beschreibung der Nachhaltigkeit darstellen bzw. schaffen können. Nachhaltigkeit verliert dadurch ihren anthropozentrischen ‚Touch‘ und kann sich in einer weiter gefassten „Umwelt“ realisieren.

Zugegeben, es bleibt immer noch recht abstrakt, aber Hartmut Bossel ergänzt m.E. den Begriff der Nachhaltigkeit mit bis zu neun Aspekten und stellt damit die Nachhaltigkeit auf eine deutlich breitere Basis. Nachhaltigkeit wirkt dadurch nicht mehr als ein weitgehend beliebiger Begriff. Wer jetzt Nachhaltigkeit für sich und sein Handeln in Anspruch nimmt, ‚kauft‘ automatisch das restliche Paket mit ein. Keines dieser Attribute ist eine ökonomische Kategorie! Nur im Rahmen der Wirksamkeit wird ein ökonomischer Wert gestreift, indem ein langfristiger Überschuss der Erträge zu Grunde gelegt wird. Es fällt möglicherweise auch auf, dass keines der Attribute käuflich zu erwerben ist. Es handelt sich um Qualitäten, die man ‚schaffen‘ (also erzeugen) muss.


[1] Bossel, Hartmut: Globale Wende, Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München, 1998, S. 99 (Kap. 4)

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