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Der ‚System Change Compass‘ – ein Wegweiser oder ein Ansatz zur Veränderung?

Soweit ich es überblicke, wirft die ins Auge gefasste Transformation unserer Gesellschaft zur Klimaneutralität mindestens folgende Problemkreise auf:

Es ist üblich, dass man das Ziel einer eingeleiteten Transformation hinreichend beschreiben kann. wenn man Strukturveränderungen anstößt. Das gelingt im Falle der Klimaneutralität nur bedingt, weil wir noch nie in der jüngeren Geschichte unserer Gesellschaft so etwas wie ‚Klimaneutralität‘ erreichen mussten. ‚Klimaneutralität‘ ist also bestenfalls ein Symbol oder eine Ersatzbeschreibung für einen Zustand, den wir zwar erreichen wollen, von dem wir aber nicht konkret wissen, wie er letztlich aussieht und wann er denn erreicht sein wird.

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Es gibt weitreichende Ausarbeitungen über die Punkte, die aus unserer heutigen Sicht auf die Klimaneutralität hin zu bearbeiten bzw. zu ändern wären. Anführen möchte ich hier nur den etwas älteren Ansatz der ‚Doughnut-Economy‘ von Kate Raworth[1](2017), und inbesondere den jüngst erschienenen „International System Change Compass“ des Club of Rome in Zusammenarbeit mit Open Society European Policy Institute und SystemIQ (2022)[2]. Deren Ausarbeitung entwickelt einen detaillierten „Compass“, der den anstehenden Prozess auf insgesamt dreißig „Wegweiser“ herunterbricht, um die Transformation erfolgreich umzusetzen (Einzelheiten siehe unten). Jeder Angriffspunkt umfasst die Aufforderung zu einer „Neudefinition“ eines heute schon bekannten Gesichtspunktes.

Man könnte den „Compass“ auch als eine umfassende „TO-DO-Liste“ verstehen, wobei offen bleibt, wer denn nun die Aufgabe übernimmt oder übernehmen soll, diese TO-DO-Liste abzuarbeiten. Die anstehenden Aufgaben sind für ein politisches „Manifest“ erstaunlich konkret. Man sollte aber nicht vergessen, wie der Prozess gestaltet werden muss, damit nicht nur ein „Neudefinition“ von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundannahmen auf dem Papier erfolgt, sondern auch einen Weg finden, wie diese notwendigen Verschiebungen von gesellschaftlich zu teilenden Werten das Verhalten der Bürger beeinflussen.

Die Ausarbeitung zum International System Change Compass, so mein Eindruck, beantwortet detailliert, was notwendiger Weise  getan werden muss. Wer dabei in der Verantwortung stehen und den Prozess vorantreiben soll, bleibt merkwürdigerweise offen. Offen ist auch die Frage nach dem „Wie“. Wie sollen denn die Neudefinitionen gefunden werden? Am Ende steht doch die Frage, wie sollen die Ergebnisse (die Neudefinitionen) dann mehrheitsfähig werden? Ohne eine Blaupause oder einen konkretisierenden Vorschlag vonseiten der Wissenschaft wird sich die Politik in einem verhängnisvollen Wettbewerb um den kleinsten gemeinsamen Nenner verzetteln. Das könnte eine fundierte Ausarbeitung der Wissenschaft verhindern bzw. deutlich beschränken.

Der Aufbau des ‚Compass‘ lässt eine Strategie erkennen. Es geht nicht darum, dreißig Aspekte simultan zu ändern. Die Autoren haben versucht, nicht mit einer „Schrotbüchse zu schießen“, sondern haben ihre Aspekte drei Gesichtspunkten untergeordnet:

  1. Funktion und Zielvorstellung des Systems: Aspekte 1 – 3
  2. Entwerfen und Implementieren von Interventionen: Aspekte 4 -7
  3. Mobilisierung und Unterstützung von Akteuren: Aspekte 8 – 10

Bei der Zielvorstellung des Systems geht es um eine Neufassung dessen, was wir künftig unter Wohlstand verstehen, wie wir grundsätzlich den Gebrauch von natürlichen Ressourcen regeln und was wir künftig unter Fortschritt verstehen wollen.

Erst dann werden mögliche Interventionen entworfen und implementiert. Die Zielvorstellungen werden den Definitionsraum möglicher Interventionen bestimmen und ggfs. auch einschränken. Die bisher verwendeten Kennzahlen müssen neugefasst, Wettbewerb differenzierter bestimmt, unsere Subventionen und Anreize als auch unsere Art des Konsumierens müssen elementar verändert werden.

Dann erst wird es sinnvoll, die Beteiligten und Betroffenen zu mobilisieren und zu unterstützen, weil hoffentlich die Ziele bestimmt und die Rahmenbedingungen geschaffen sind. Es gilt jetzt, die Finanzierung der Transformation entsprechend der Ziele zu gestalten, die privaten und öffentlichen Verwaltungssysteme den neuen Ansprüchen anzupassen und die Form der Führung (ggfs. eher als Gestaltung) neu zu definieren.

Der Vorschlag gefällt mir, er würde zu meiner Vorstellung des Prozesses gut passen, wenn da nicht immer wieder die „Praxis“ dazwischen käme. Der Aufbau ist m.E. logisch nachvollziehbar und sachlich angemessen, aber jeder der Schritte baut auf dem vorhergehenden auf, mit anderen Worten, bevor die Zielbestimmung nicht fertig ist, werden wir keine Interventionen entwickeln, u.s.f.. Die Studie zum „System Change Compass“ sagt nichts über die mögliche Zeitschiene aus und diskutiert diese vorgesehene Ablaufstruktur und ihre möglichen Defizite auch nicht. Wenn es gelingt, den Abschnitt A durch zahllose, aber nichtssagende Einwendungen zu blockieren, ist der ganze Prozess in Gefahr. Und man sollte immer den ‚Schwarzen Schwan‘ (N. Taleb) im Blick behalten.

Durch diesen strikten kaskadenähnlichen Ablauf ergibt sich automatisch die Frage, wer steuert den Prozess? Es ist doch klar, dass ein solch durchstrukturierter Prozess einen Kopf oder ein Gremium benötigt, um im ersten Schritt zu moderieren und zum Ende der Fahnenstange auch gestaltend entscheiden zu können, wann der Prozess A abgeschlossen ist, damit der Prozess B beginnen kann.

Wer sind die Teilnehmer an diesem Prozess?  Oder besteht die Absicht, diesen Prozess in einen „breiten gesellschaftlichen Dialog“ zu überführen, mit der Folge, dass das Projekt am besten gar nicht eröffnet werden sollte.

Die Erfahrungen mit dem sogenannten „breiten gesellschaftlichen Dialog“ sind niederschmetternd. Der Sachverhalt ist deshalb anzusprechen, weil es in der Politik offensichtlich ein sehr beliebtes Mittel darstellt, um unangenehme Diskussionen unauffällig im Sande verlaufen zu lassen. Der Prozess kommt nie an sein Ende, also passiert auch nichts!! (Beispiele sind die Tobin-Steuer auf Finanzmarktumsätze, die Occupy-Bewegung für eine faire Regulierung der Finanzbranche, usw.) „Leider droht das gleiche Schicksal einer Klimabewegung, die auf Vernunft und zivile Einsicht im breiten Dialog setzte. Aber gute Ideen setzen sich nicht per Dialog alleine durch, sei er noch so breit und hoch bis zu den Augen. Sie setzen sich durch, indem sie eine Gesetzesform annehmen, …[3]“ Es braucht eine Institution, die sicherstellt, dass der Prozess eine hinreichende Struktur bekommt. Soweit ich mich erinnere, ist der ‚European Green Deal‘ eine Absichtserklärung der EU-Kommission, also weit entfernt von einem institutionellen Rahmen mit Durchsetzungsbefugnis.

Es wäre wünschenswert, dass die Arbeit am System Change Compass nicht in Hinterzimmern stattfindet, sondern über ein nachvollziehbares System der Bürgerbeteilung erfolgt, die sicherstellt, dass der EU-Bürger repräsentiert wird und nicht (wie so oft) wenige einseitig wirtschaftliche Interessen den Prozess bestimmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der „Compass“ mit seinen zahlreichen Neudefinitionen bisher wesentliche wirtschaftliche Interessen und möglicherweise auch etablierte Geschäftsmodelle ins Schwitzen bringen wird. Deshalb ist es so wichtig, festzuzurren, wie der Prozess und die Einflüsse auf diesen Prozess unter der Kontrolle der Prozessverantwortlichen bleiben.

Die anzustrebenden Neudefinitionen werden unsere Sicht auf die Welt in vielen Punkten eine grundlegende Veränderung nahelegen. Der „Compass“ kann dazu dienen, dass die Neudefinitionen zu neuen Ufern führen. Der „Compass“ gibt die Richtung vor und wird dazu beitragen, die Einflüsse der ewig Gestrigen und stets Unbeweglichen zu minimieren. Um aber ein in sich konsistentes System von (neuen) Werten aufzubauen, wird wissenschaftlich-systematische Unterstützung unvermeidlich sein.

Mein Vorstellungsvermögen reicht nicht aus, dass diese Neudefinitionen von der Politik entwickelt werden. Hier muss die Wissenschaft einen ausformulierten Entwurf vorlegen, der dann im politischen System zur Diskussion gestellt wird und von Vertretern der Wissenschaft auch öffentlich verteidigt werden kann. Denken Sie nur an die Formulierung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1895 oder des Grundgesetzes in 1949. Diese fundamentalen Regelwerke haben kleine Expertenkreise entwickelt und m.E. grandios im Sinne der Öffentlichkeit gelöst.

Im nächsten Schritt wird irgendwann auch der Bürger ins Boot geholt werden müssen. Ob das den Parteien überlassen werden soll, erscheint mir fraglich. Es gibt bessere Lösungen. Das „deliberative Partizipationsmodell“[4] könnte für die Beteiligung der Bürger eingesetzt werden, um sicherzustellen, dass ganz wesentlich das Bürgerinteresse auf die notwendigen Entscheidungen Einfluss gewinnt. Die Erfahrungen mit dieser Form der Beteiligung sind weltweit zahlreich und gut, die Ergebnisse sind sachorientiert und sind i.d.R. nicht durch einseitige wirtschaftliche Interessen beeinflusst. Das Ganze mündet in ein Bürgergutachten, mit dem sich das Parlament qua Gesetz zu beschäftigen hat.

Aus den vorliegenden Ausführungen ist hoffentlich zu erkennen, dass der „Compass“ uns die Marschrichtung zeigen kann, dass aber ganz wesentliche Bedingungen zur erfolgreichen Umsetzung der Inhalte noch fehlen bzw. zu ergänzen sind, um sicherstellen zu können, dass der „Compass“ nicht nur die Richtung anzeigt, sondern auch Bewegung auslöst.

Anhang: (eigene Übersetzung des englischen Originals)

INTERNATIONAL SYSTEM CHANGE COMPASS

THE GLOBAL IMPLICATIONS OF ACHIEVING THE EUROPEAN GREEN DEAL (2022)

(HG: SYSTEMIQ, THE CLUB OF ROME, OPEN SOCIETY EUROPEAN POLICY INSTITUTE)

A. Funktion und Zielvorstellung des Systems

  • Wohlstand neu definieren

Verlassen Sie die neokolonialen Muster der Rohstoffgewinnung und verteilen Sie die Wertschöpfung fair in den Lieferketten.

  • Die Nutzung natürlicher Ressourcen neu definieren

Reduzieren Sie den Material-Fußabdruck in Ländern mit hohem Verbrauch; ökologisch und sozial nachhaltige Systeme in einkommensschwachen Ländern aufbauen.

  • Fortschritt neu definieren.

Wohlbefinden durch kontextspezifische, national festgelegte Transaktionspfade definieren.

B. Entwerfen und Implementieren von Interventionen

  • Metriken neu definieren

Messen Sie die vollen Auswirkungen des nationalen Verbrauchs und der nationalen Produktion innerhalb globaler Grenzen und das soziale Wohlergehen.

  • Wettbewerbsfähigkeit neu definieren

Wenden Sie kooperative und aufgabenorientierte Methoden zwischen Ländern und auf Unternehmensebene an, um das globale gesellschaftliche Wohlergehen zu verbessern, insbesondere für die am wenigsten Wohlhabenden.

  • Anreize neu definieren

Schaffen Sie übergangsfördernde wirtschaftliche und rechtliche Anreize, indem Sie nicht nachhaltige Subventionen beenden, den Wert von Ökosystemen anerkennen und für Transparenz und Rechenschaftspflicht in globalen Wertschöpfungsketten sorgen.

  • Konsum neu definieren

Erhöhen Sie die Umwelt- und Sozialstandards von Produkten und wechseln Sie vom Besitz zur Nutzung, wo dies vorteilhaft ist.

C. Mobilisierung und Unterstützung von Akteuren

  • Finanzen neu definieren

Erhöhen Sie die Kapazität zur Finanzierung positiver, regenerativer Veränderungen und machen Sie gleichzeitig das Finanzsystem gerecht.

  • Governance neu definieren

Bereitstellung einer nachhaltigen Verwaltung globaler Ressourcen durch gerechte und wissenschaftsbasierte Governance-Systeme.

  • Führung neu definieren

SeienSie gute Nachbarn und denken Sie in Generationen, indem Sie durch integrative und langfristige Entscheidungen Vertrauen über Regionen und Generationen hinweg aufbauen.

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[1] Kate Raworth, Doughnut Economics: Seven Ways to Think like a 21st-Century Economist (Random House, 2017 (https//www.kateraworth.com)

[2] HG: Open Society European Policy Institute, SystemIQ, The Club of Rome, International System Change Compass – The Global Implications of Achieving the European Green Deal, 2022; (https//www.opensocietyfoundations.org/publications)

[3]  Nils Minkmar, Ruhe, bitte, in: SZ v. 7.7.2022, S. 9

[4] Peter Dienel, Die Planungszelle, 1978; oder: https://www.arte.tv/de/videos/101941-006-A/42-die-antwort-auf-fast-alles/ 

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