Putins Ukraine-Krieg hat nicht nur unsere nationale Abhängigkeit in Bezug auf die Energieversorgung deutlich zutage treten lassen. Als Folge passiert exakt das, was mit der immer wieder diskutierten „Energiewende“ wohl auch unvermeidlich gewesen wäre: die Kosten für Energie steigen heftig und unkontrolliert. Der mediale Aufschrei ist erheblich, aber angesichts der seit Jahren immer wieder diskutierten und geforderten Wende reibt man sich die Augen und fragt sich: was soll das?!
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Die Politik hat das zweifelhafte „Glück“, dass die Preissteigerung ausschließlich als Folge eines Krieges in der Ukraine gesehen wird. Hätte die Politik diese Entwicklung als Folge ihrer längst fälligen Maßnahmen zur Energiewende vertreten müssen, könnte ich die Aufregung verstehen. Also kann man der Politik nur zurufen: Nutzt die Chance! Hier tut sich ein Sachzwang auf, bei dem die politischen Organe die Schuld an der Situation medienwirksam auf Putin abwälzen können. Die Energiepolitik ist in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren einer kompletten Fehleinschätzung aufgesessen. Sie hat dafür auch viel Geld investiert und in den Sand gesetzt. Das lässt sich offensichtlich klein reden. Deshalb der Appell an die Politik: Nutzt die Chance für die überfällige Energiewende! Wenn das gelingt, könnte man die Fehler der Vergangenheit leicht verschmerzen.
Ob hier etwas Konstruktives geschieht, möchte ich aber bezweifeln. Wie schon einmal dargestellt, versteht sich das politische System in den westlichen Demokratien als ein Organ der gesellschaftlichen Moderation. Wenn im nationalen System Veränderungen eintreten, versucht die Politik, die damit verbundenen Fehlentwicklungen zu puffern oder zu „reparieren“. Aber vor elf Jahren (2011) hat das Beratergremium der Bundesregierung (WBGU[1]) angesichts der Klimakrise eindringlich gefordert, den Reparaturbetrieb der Moderation aufzugeben und eher „gestaltend“ tätig zu werden. Die Forderung ist sicher richtig, aber die Rahmenbe-dingungen, unter denen eine Gestaltung möglich wäre, sind m.E. organisatorisch gar nicht oder nur bedingt vorhanden.
„Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen ….“[2]
Wenn unsere Regierung gestaltend wirken wollte, würden sich ihr schlagartig Gegner in den Weg stellen, wo vorher eitel Freude war. Eine Schlussfolgerung wäre, dass in unserer Gesellschaft eine wirkliche politische Gestaltung nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wir bezeichnen Teile des politischen Systems als Regierung in der Erwartung, dass sie gestaltend wirken kann. Aber vielleicht hat sich die mit dem Regieren verbunden geglaubte Macht aufgelöst, zerfasert und wurde statt von der Regierung teilweise von anderen „Akteuren“ unserer Gesellschaft übernommen. Diejenigen, von denen wir glauben, dass sie führen sollten und könnten, sind aufgrund ihres Machtverlustes nur noch in der Lage, zwischen den zwischenzeitlich entstandenen neuen „Trägern der Macht“ zu moderieren. Gleichzeitig ist keiner der neuen Träger der Macht selbst in der Lage, seinerseits gestaltend zu wirken, weil auch ihnen die notwendige Macht und insbesondere die Legitimität zur Gestaltung fehlen. Es lassen sich nur noch solche Sachverhalte gemeinsam gestalten, die die Machtverhältnisse nicht verändern oder die als „Sachzwang“ erkannt zum Handeln zwingen und damit eine gestaltende Reaktion unvermeidlich machen.
Den Sachzwang als Mittel zur Gestaltung hat, so scheint es mir, so mancher Politiker begriffen. Sie haben ihre relative Machtlosigkeit in vielen Konstellationen erkannt und versuchen stattdessen die Möglichkeit zu nutzen, Sachverhalte so zu „führen“, dass sie in der jeweiligen Situation Chancen haben, zum Sachzwang zu werden oder sich als Sachzwang darstellen lassen. Damit kann den sonst widerstrebenden Beteiligten mangels Alternativen eine Zustimmung zu einer gestaltenden Entscheidung viel leichter abgerungen werden.
Mein Eindruck ist, dass unser demokratisches System zunehmend an Führungskraft verliert und die politische Vielstimmigkeit nicht von der Sache getragen und von der Aufgabe der Politik bestimmt werden, sondern von Empörung, Aufmerksamkeitserzeugung, politischem Überlebenstricks und internem Gerangel getragen werden. Dabei tritt die Gestaltung der sachlichen Problematik m.E. in den Hintergrund.
Helmut Willke kommt auf einer ausführlicher dargestellten Basis zu einem ähnlichen Urteil:
„Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger Industriegesellschaften als ‚dahintreibend‘. Diese frühe Diagnose Etzionis[3], die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem -, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und Alternativen ernsthaft zu prüfen.
Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbst erzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projektes nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.“[4]
Diese Diagnose aus 2014, sofern sie unterändert zutrifft, ist nicht erfreulich und setzt der einfachen Forderung der WBGU aus 2011 deutliche Grenzen. Es genügt nicht die Forderung zu formulieren. Man muss auch Wege und Strukturen finden, dieser Forderung in einem demokratischen System Geltung zu verschaffen. Das ist eine Herausforderung, für die die westlichen Demokratien m.E. bisher noch keine handhabbare Lösung gefunden haben. Und das Demokratie-Problem könnte ein größeres Gewicht entwickeln als die virulente Klimakrise. Die Klimakrise entwickelt sich zum Sachzwang und wird uns und damit die Politik unnachgiebig und dauerhaft vor sich her treiben.
Ob wir aber in der Lage sein werden, unsere Demokratie so umzuformen, dass der unverzichtbar demokratische Kern erhalten bleibt, aber die liebgewonnen, systemschädlichen Privilegien aufgehoben werden können, steht noch nicht fest.
Willke hat in einem Youtube Beitrag aus dem Jahre 2017 zum Ausdruck gebracht, welche Eigenschaften der Demokratie er als zentrale Komponenten erhalten wissen will. Er führt dort fünf zentrale Gesichtspunkte auf:
- Legitimität
- Partizipation
- Transparenz
- Effektivität und
- Rechenschaftspflicht
Wir leben in einer Zeit des Wandels. Und Willke fragt sich zu Recht, ob die Erwartung sinnvoll ist, dass in einer Umwelt des Wandels sich die Idee der Demokratie dem formalen Wandel entziehen kann? Sein Ansatz fußt auf den fünf Komponenten, die sich zwar graduell verändern können, die aber für eine Demokratie unverzichtbar seien.
Bei dem, was man politische Gestaltung nennen könnte, sind zuvorderst die Komponenten Transparenz und Effektivität betroffen. Wenn wir mehr Gestaltungskraft fordern, wäre es auch angebracht, der Rechenschaftspflicht ein höheres Gewicht beizumessen. Wenn Gestaltung unser Ziel ist, müssen auch erweiterte Partizipationsmöglichkeiten das Mehr an organisierter Effektivität ausgleichen und dem Handeln auch eine Richtung geben, die der Legitimität eingebunden wird.
Demokratie verbindet man eng mit den historischen Begriffen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus dem 17. Jahrhundert. Das beschreibt so etwas wie die Ziele der modernen Demokratie. Die fünf Punkte von Helmut Willke konkretisieren organisationale Gestaltungsprinzipien einer nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebenden Gesellschaft. Oder anders gewendet: wenn eine Gesellschaft sich entlang der fünf Prinzipien strukturiert, könnten die drei Ziele gewissermaßen (organisch) als Emergenz entstehen, d.h. die drei Ziele könnten sich aus dem gesellschaftlichen System herausbilden (emergieren), ohne dass man sie ständig verbalisiert oder bewusst neu zu gestalten versucht. Diese Vorstellung bleibt vorerst eine These. Sie hätte aber den großen Vorteil, dass man die Ziele nicht immer wieder auf die fokale Situation aufpfropfen müsste, was regelmäßig erhebliche, möglicherweise überflüssige „Reparaturaktivitäten“ auslöst, weil die Systemzusammenhänge nicht verstanden werden.
Der erste große Aufbruch zu einer Gestaltung von Gesellschaftspolitik war die Untersuchung von Amitai Etzioni über „Die aktive Gesellschaft“. Die Veröffentlichung hat 1971 in den politischen und sozialen Wissenschaften wie eine Bombe eingeschlagen. Leider hat sich parallel der Neoliberalismus breit gemacht, der eine simple Ideologie anbot und der Politik Entlastung dadurch versprach, dass er Glauben machte, der Markt würde es schon richten. Das System, das Etzioni als Gesellschaft ansprach, hat der Neoliberalismus negiert: Es gäbe nur egoistisch handelnde Individuen. Nach mehreren Desastern haben die meisten jetzt gemerkt, dass dieser „Marktglaube“ zu simpel strukturiert ist, um eine hochkomplexe Gesellschaft zufriedenstellend steuern zu können. Als Folge hat der WBGU 2011 richtigerweise den Anspruch auf eine Gestaltung in den Raum gestellt. Das Dumme ist nur, der Raum wird m.E. nur von ganz wenigen wissenschaftlich aufbereitet. Wir können deshalb auch nicht auf hinreichende Erkenntnisse und ausreichend komplexe Strukturen zurückgreifen, auf die eine demokratisch fundierte „Gestaltung“ gegenwärtig gesichert aufbauen könnte. Umso vorsichtiger und umsichtiger sollten wir vorgehen. Ob uns aber die konkrete Lage dazu die notwendige Zeit lässt, bleibt zu hoffen.
[1] WBGU, Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011
[2] King, Alexander u. Schneider, Bertrand: Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, 1991, in: SpiegelSpezial (Nr.2/1991), S. 104, zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III, 2014, S. 22
[3] Etzioni, Amitai, Die aktive Gesellschaft, 1975; die englische Fassung (The Active Society) wurde 1971 veröffentlicht.
[4] Willke, Helmut, Systemtheorie III, Steuerungstheorie, 2014, S. 42f
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