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Auf der Suche nach dem richtigen Maß

Für einige steht unsere Demokratie auf dem Spiel. Andere gehen gleich den Weg in die Autokratie, weil sie zu erkennen glauben, dass sie nur dann gegen die großen und neuen Autokratien dieser Welt bestehen können. Irgend etwas stimmt mit unserer Wahrnehmung nicht oder wir erkennen die realen Zusammenhänge nicht. Unser gegenwärtiges System einer repräsentativen Demokratie fußt in Deutschland auf Institutionen, die seit ca. 150 Jahren als Parteien akzeptiert sind und von denen heute eine knappe Mehrheit glaubt, dass sie die politischen Strömungen und Befindlichkeiten hinreichend treffend im politischen System abbilden. Sind diese Erwartungen aber gerechtfertigt?

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Diese Frage ergibt sich für mich, weil bis zu hundertundfünfzig Jahre alte Institutionen und seit rd. achtzig Jahren bestehende Strukturen durchaus sklerotisch werden können. Sie verlieren u.U. ihre Flexibilität und sind in manchen Fragen nicht mehr in der Lage, eine sich rasch verändernde Welt auf dem politischen Feld adäquat widerzuspiegeln. Die Vorstellung, dass Partei-Institutionen und politische Strukturen automatisch durch den regelmäßigen politischen Austausch flexibel bleiben, halte ich für naiv. Man kann diese Problematik daran festmachen, dass jeder Regung des Wahlvolkes, die zum Ausdruck bringen könnte, dass die bestehende ‚Repräsentation‘ des politischen Willens eventuell (oder auch dringend) einer Überarbeitung bedarf, von den Parteien i.d.R. scharf und unmissverständlich eine Absage erteilt wird.

Die von uns praktizierte Form von Demokratie ist nur eine Alternative von vielen, wobei wir uns nicht an die Demokratie anzupassen haben, sondern die demokratischen Strukturen sollten sich in angemessener Form der gesellschaftlichen Situation anpassen. Die Idee der Demokratie folgt einem Ideal, das eigentlich nie erreicht werden wird. Die jeweilige gesellschaftliche Situation entwickelt sich, vielfach beeinflusst von der technologischen Entwicklung, organisch aus der Gesellschaft heraus. Die strukturelle Antwort unseres Systems muss dieser Entwicklung organisatorisch Rechnung tragen und nicht umgekehrt. Eine Gesellschaft auf eine ggfs. sklerotische Form von Demokratie „hinzutrimmen“, erscheint unrealistisch. Es wird aber immer wieder versucht.

Unsere ‚westliche‘ Gesellschaft (und nicht nur die Gesellschaft in Deutschland) wird vielfach als „gespalten“ beschrieben. Dabei laufen die Brüche m.E. nicht so, wie sie uns z.B. aus USA als zwei auseinander strebende ‚Einheiten‘ berichtet werden. Wir können bei uns eher ein Moment der Überforderung feststellen, wie das Rüdiger Safranski in einem Interview des „Pioneer“ vom 25.5.25 ausführt: „Wir haben es heute zu tun mit Erregung als Dauerzustand, man kann es auch Hysterie nennen. Das Zweite ist, dass wir gar keine andere Möglichkeit haben, als bei alledem, was auf uns eindringt, mit Komplexitätsreduzierung zu arbeiten. Wir können gar nicht anders, als in unserer Urteilsbildung robuster zu werden. Das ist, wenn man nicht ganz anspruchslos ist, nicht sehr erfreulich. Wir haben eigentlich ständig das Gefühl, dass wir uns nicht auf dem Niveau der komplexen Wirklichkeit bewegen, die uns umgibt. (…) Die Wirklichkeit ist so, dass wir überhaupt nur mit Vorurteilen existieren können. Ein wirkliches Urteil erfordert neben der Bereitschaft zur Ehrlichkeit auch Anstrengung, (Zeit1), Wissen und Recherche. Und das kann man ja nur in Einzelfällen leisten.“

Für die Bewältigung der Wirklichkeit hat sich etwas herausgebildet, was Safranski den Mainstream nennt und beschreibt ihn als „eine Form der intellektuellen Bequemlichkeit“. Wenn man sich die Parteienlandschaft anschaut, so wird vermutlich den meisten deutlich werden, dass die Parteien aufgrund ihrer Abhängigkeit von Wahlentscheidungen stark dazu neigen, ihre Politikansätze schwerpunktmäßig im Mainstream zu suchen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie dabei vor lauter Vorurteilen die Wirklichkeit aus dem Blick verlieren. Wo liegt dann das notwendige Korrektiv der Politik hin zur Wirklichkeit?

Um die oben geäußerte Aussage etwas konkreter zu fassen, können wir das Verhältnis von Politik und Klimawandel beobachten. Das langfristig wirkende Problem des Klimawandels ist zwischenzeitlich seit gut fünf Jahrzehnten bekannt. Und so langsam diffundiert das Phänomen auch in den Mainstream und führt bei vielen Bürgern aber zu einer Überforderung, die ganz rasch von der Politik aufgegriffen wird und einige Parteien dazu veranlasst, den Klimawandel als nicht existent zu betrachten und/oder mit einem schlichten „Weiter so“ zu beantworten. Notwendig wäre ein sinnvolles Maßnahmenpaket, das aber den Mainstream überfordern würde und damit sucht die Politik nach irrationalen Auswegen, die die Situation keinesfalls bessern und mittelfristig die Möglichkeiten einer angemessenen Problemlösung einengen.

Der Klimawandel ist ein langfristiges Phänomen, die Wahrnehmung des Mainstream ist aus Bequemlichkeitsgründen regelmäßig auf das Hier und Jetzt beschränkt. Der Mainstream kennt keine längerfristige Perspektive, was sich nachteilig auf die am Mainstream orientierte Parteien-Politik auswirkt. Das klare Korrektiv wäre das „Wissen“ um die Dinge, dargestellt durch die Wissenschaft. Sie aber ist keine demokratisch anerkannte Einrichtung, weil Mainstream und Politik glauben, die oft unbequemen Erkenntnisse schlicht negieren zu können. Die Zusammenhänge sind kurzfristig nicht offensichtlich.

Die hier beschriebenen Politikdefizite rühren u.a. aus der Fokussierung auf Strukturen einer repräsentative Demokratie. Es muss ein Weg gefunden werden, wie man die fatale Abhängigkeit der Politik vom Denken des Mainstreams ein Stück weit aufbrechen und neue, andere, aber demokratisch legitimierte Ideen zum Tragen bringen kann. Das vorherrschende Denken der Politik ist die Vorstellung, dass Politik „für das Volk“ gemacht wird. Die Alternative wäre eine Politik „mit dem Volk“, d.h. dass Beteiligungsformen gefunden werden, die die Politik-Blase aufbrechen und der Bevölkerung eine zusätzliche Mitwirkungsmöglichkeit an den entscheidungsrelevanten Grundlagen ermöglicht.

Die Blase der Politik ist groß und sie entwickelt ihre Ideen fernab von großen Teilen der Bevölkerung. Ständigen Zutritt zur politischen Blase haben nur die Lobbyisten und ein vernachlässigbarer Teil der Bevölkerung. Was wäre, wenn der Bevölkerung durch einen regelbasierten Zutritt zu wichtigen Fragen ebenfalls eine formale Lobbyfunktion zu gebilligt wird? Die lobbyistische Funktion besteht darin, einmal Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern herzustellen, die politischen Entscheidungsträger dann im Sinne des Lobby-Auftrags mit entscheidungsrelevanten Grundlagen zu versorgen. Ergänzend wird gewöhnlich vom Lobbyisten auch gleich das notwendige Narrativ mitgeliefert, das dem Lobbyisten und dem Politiker die Möglichkeit bietet, die dahinter liegende wirtschaftlich oft sehr einseitige Interessenlage vor der politischen Öffentlichkeit zu verschleiern.

Eine „Bürger“-Lobby wird von den Vertretern einer repräsentativen Demokratie-Struktur vermutlich mit dem Argument abgelehnt, das der Abgeordnete im Grunde diese Funktion übernehmen sollte. Aber die Parteien und die entwickelten Strukturen (z.B. Fraktionszwang als Disziplinierung) hebeln die mögliche Lobby-Funktion des Abgeordneten aus. Der jeweilige Abgeordnete bespielt ein breites Politik-Feld, dessen Bearbeitung zeitlich einen hohen Einsatz erfordert. Die Problematiken werden aber immer komplexer und beanspruchen Einarbeitungs-zeiten, die dem Abgeordneten (wenn er ehrlich ist) nicht zur Verfügung stehen. Auch hier gilt die Idee des Mainstreams – man übernimmt einfach eine „vorgekaute“ Meinung der Fraktion, der Partei oder gar irgendwelcher Lobbyisten. Ob hier das Ideal des „freien Mandats“ eines Art. 38 GG noch gelebt wird, erscheint mir fragwürdig. Um so wichtiger wäre das Korrektiv!

Das Korrektiv kann m.E. nicht in einer basis-demokratischen Organisation liegen, weil 84 Mio. Bürger niemals die „Basis“ darstellen können. Seit etwa fünfzig Jahren kennen wir das sogenannte „deliberative Beteiligungsmodell“, ursprünglich von Prof. Dienel als „Planungszelle“ in den 70ger Jahren in die Diskussion gebracht. Der Begriff Deliberation ist so sperrig, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Wortwahl bezweckt, dass die Idee gleich wieder aus der nächsten Kurve fliegt.

„Deliberation“ wird in der Politik dann verwendet, wenn es gilt, über etwas nachzudenken oder zu beratschlagen. Die Entscheidung trifft aber letztlich eine andere Instanz. Das besagte Beteiligungsmodell wird über einen Zufallsgenerator mit Personen bestückt, die systematisch aus allen Schichten der deutschen Bevölkerung ausgewählt werden und die in dem Beteiligungsprozess erstmals aufeinander treffen.

Das Verfahren stellt sicher, dass alle Schichten erfasst werden, auch jene Mitbürger, die nicht zur Wahl gehen und lädt sie ein, an einer konkreten Fragestellung beratend (deliberativ) teilzunehmen. Ein Zwang besteht nicht. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass alle Schichten der Bevölkerung zu Wort kommen und dass dieses Ergebnis dann gewissermaßen basisdemokratisch die Bevölkerung repräsentativ widerspiegelt. In unserer repräsentativen Demokratie sollen der Bundes- und die Landtage die Bevölkerung repräsentieren, was sie offensichtlich aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht realisieren können. Über den Daumen gerechnet, repräsentieren 80% der Parlamentarier etwa 20 % der Bevölkerung. Das ist keine angemessene Repräsentation.

Das hier beschriebene Beteiligungsmodell ist in Teilen in Form von Bürgerräten auf Bundesebene realisiert. Auf den anderen Ebenen unseres Staatsgebildes gibt es dieses Modell als institutionalisierte Beteiligung bedauerlicherweise noch nicht. Neben der Möglichkeit, mehr Bevölkerungsteile an die Politik heranzuführen, bietet diese Beteiligungsform, in großem Stil durchgeführt, eine praktische Unterweisung, um die Berührungsängste gegenüber der Politik herabzusetzen. Da diese Beteiligungsmodelle keine Dauer-Institutionen darstellen – sie lösen sich nach der Fixierung des Ergebnisses wieder auf – haben Lobby-Organisationen keine echte Chance, dort Zugang zu finden und Einfluss auszuüben. Also wäre es hilfreich, die Idee der Bürgerräte auszudehnen und sie regelmäßig einzusetzen, um eine breite demokratische Meinungsbildung zu fördern.
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1Von mir eingefügt.

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Demokratie und eine polarisierte Gesellschaft

In der Theorie der Demokratie kommt Polarisierung m.E. gar nicht vor. Demokratie wird uns als Ideal verkauft. Die Wirklichkeit mit ihren Unzulänglichkeiten kommt darin nicht vor. Die Demokratie kennt Meinungsverschiedenheiten, die sie als solche toleriert und braucht, um aus der Vielfalt der Meinungen eine Haltung zu entwickeln, die das gemeinsame politische Handeln stützt.

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Demokratie braucht deshalb einen Grundkonsens, wie mit Auffassungen und Meinungen umzugehen ist. Unsere Verfassung hat vor über 70 Jahren das Schwergewicht der Konsensbildung den Parteien übertragen.

Wenn wir heute von einer polarisierten Gesellschaft sprechen müssen, so haben offensichtlich die Parteien diese Konsensbildungsfunktion nicht oder zumindest ungenügend wahrgenommen. Den Grund könnte man in der Struktur der Parteien suchen. Haben sich die Parteien so verändert, dass sie diese Aufgabe nicht (mehr) adäquat wahrnehmen können? Oder: Die Entwicklung der Parteien ist stehen geblieben und die Umstände haben sich so verändert, dass die Parteien damit überfordert sind. Oder: Die Erwartung vieler Wähler hat sich stark gewandelt und die Parteien haben darauf (bisher) keine adäquate Antwort gefunden. Das, was die Parteien bewegt, trifft offensichtlich nicht die Erwartungen eines immer größeren Teils des ‚Wahlvolkes‘.

Durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft rückte die Idee der Gesellschaft und Solidarität leider in den Hintergrund. Der Neoliberalismus kennt lt. Margret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Ein solch gravierendes Missverständnis befeuert die Polarisierung; jeder (der es sich leisten kann!) glaubt sich auf einer Insel und meint seine sogenannten „Freiheits“-Ansprüche ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft durchsetzen zu können. Und eine große Zahl von denen, die es sich nicht leisten können, die also auf eine solidarische Gesellschaft angewiesen wären, steigt aus: Nicht mit mir! 

Man sollte ein paar Beobachtungen heranziehen, um die hier vertretene Auffassung zu begründen und verständlich zu machen. In unserer Parteienlandschaft verfügte die SPD einmal über die meisten Mitglieder (deutlich über eine Million), heute hat sie noch knapp die Hälfte. Deutliche Schrumpfungsprozesse weisen auch die anderen Volksparteien auf. Der FDP sind Teile ihrer konservativsten Wähler zur AFD abgewandert; die AFD ist zerstritten und mit sich selbst beschäftigt. Die FDP, so meine Wahrnehmung, hat es aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, sie ist eine Klientelpartei geworden, die außer ihrer Klientel keine Bürger vertreten will. Die Linken hatten für ein paar Jahre zunehmende Mitgliederzahlen, verlieren gegenwärtig bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Gründe sind sicher vielfältig und teilweise selbstgemacht. Aber man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass das Interesse des ‚Wahlvolkes“ am politischen Geschehen zumindest ein Stück weit verloren gegangen ist.

Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Was ist mit den 30 – 40 Prozent unserer Gesellschaft, die wählen dürfen. aber regelmäßig nicht zur Wahl gehen? Dieses Verhalten als schlichtes Desinteresse zu geißeln, trifft nicht den Kern. Das politische Interesse wäre m.E. schon vorhanden, aber die bestehenden Strukturen stoßen viele ab, sich aktiv oder passiv einzumischen. Mit ‚aktiv‘ ist ein Sich-Einbringen gemeint und ‚passiv‘ bedeutet, sich zu einer Wahl aufstellen zu lassen.

Wenn wir das Ergebnis der Wahlen in den letzten Jahren anschauen, so könnte man zu der Auffassung gelangen, dass hier einige Problemstellungen in die gleiche Richtung laufen. Die Parlamentszusammensetzung weist 80 Prozent Akademiker auf. Der Anteil der Akademiker in der Bevölkerung liegt bei etwa 20 Prozent. Frauen, Selbstständige und Handwerker (u.a.m.) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. Es gibt noch viele weitere Gesichtspunkte, in denen das Parlament in keiner Weise als „repräsentativ“ verstanden werden könnte. Um es kurz zu machen: Könnte es sein, dass viele Nichtwähler glauben, „dass es auf sie sowieso nicht ankommt“[1]. Verena F. Hasel[2] zitiert eine Bertelmann Studie, die zu dem Ergebnis kommt, „dass es in den Stimmbezirken, die bei der Bundestagswahl 2017 die niedrigste Beteiligung zu verzeichnen hatten, 70 Prozent mehr Menschen ohne Schulabschluss und 50 Prozent mehr Haushalte aus dem unteren Milieu gab als in denen, wo besonders viele Menschen zur Wahl gegangen waren. Damit, so heißt es in der Untersuchung, sei das Resultat der Bundestagswahl ‚sozial nicht repräsentativ‘. (…) Wären Nichtwähler eine Partei, so hätten sie in der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt“.

Wir leisten uns das, was Richard D. Precht[3] eine Konkurrenzdemokratie nennt. Kooperation unter den Parteien entsteht nur und ganz begrenzt in Zwangssituationen. Und selbst da herrschen immer ein zelebrierter Auseinandersetzungsmodus und der Versuch der Abgrenzung. Anstatt zwischen den Wahlen zum „Wohle des Volkes“ eine ruhigere Gangart einzulegen, geht der „Krieg“ oft unterschwellig weiter. Ist das die Natur der Demokratie oder ist dieses Verhalten einfach nur Krampf? Wir, das Wahlvolk; bekommen Schaukämpfe vorgeführt, die inhaltlich keinen Mehrwert haben. Aber die Parteien möchten uns glauben lassen, dass dieses Verhalten normal und alternativlos sei (Darstellungspolitik vs. Entscheidungspolitik).

Parlamentarier kennen sich oft seit vielen Jahren und schätzen sich u.U. persönlich und natürlich jenseits der Öffentlichkeit. Sie spielen uns dann regelmäßig ein „Theater“ vor, bei dem man selten den Eindruck gewinnt, es geht wirklich um die Sache.

Die Schweiz hat ihre Form der Demokratie anders gelöst. Man spricht dort von Konkordanz-demokratie[4]. Verkürzt ausgedrückt gilt: Wenn das Wahlvolk „entschieden“ hat, ist eine Allparteienregierung zu schaffen, wobei das Mitspracherecht der Parteien in den sieben Ministerien umfassenden Regierung entsprechend der auf sie entfallenden Wählerstimmen geregelt ist. Alle Parteien arbeiten nach bestem Wissen gemeinsam für die Regierung der Eidgenossen. Sollten sie sich mehrheitlich nicht einigen können, schwebt über allem das Damokles-Schwert der direkten Demokratie. Ist eine Wahlperiode zu Ende, lebt der Konkurrenzmodus auf und jede Partei hat die Möglichkeit, sich im besten Lichte darzustellen und um Stimmen zu kämpfen. Der Konkurrenzmodus endet wieder mit dem Entscheid der Wahl. Diese Form der Konkordanzdemokratie gilt in der Schweiz seit rd. 500 Jahren und scheint recht erfolgreich zu sein.

Kommen wir zu den Alternativen, wie wir unsere Demokratie ergänzen und verbessern können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie können wir die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und in den Prozess eingliedern:

Der gegenwärtige Fraktionszwang, den m.W. alle Fraktionen des Bundes- und der Landtage nutzen, wird viel zu selten aufgehoben. Ich sehe einen Lösungsansatz darin, dass der Fraktionszwang grundsätzlich entfällt. Wenn er bei wichtigen Fragen zur Anwendung kommen soll, muss er begründet, beantragt und von der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten befürwortet werden. Der Fraktionszwang wird damit begründet, dass die demokratische Willensbildung angeblich in den Parteien und Fraktionen erfolgen würde. Die Vorgänge aber sind nicht öffentlich und manche gute Ideen werden dort still und heimlich dem Machtstreben der Partei geopfert. Was es dann ins Plenum schafft, hat seine Ursprünglichkeit, Kreativität und Unschuld verloren. Vielfalt der Ideen wird tendenziell auf Einfalt (auf den Machtgesichtspunkt) reduziert!

Die Schweiz, so kommt es mir vor, nutzt das in der Verfassung vorgesehene Plebiszit als Drohkulisse, um allzu widerspenstige ParlamentariererInnen zur Kooperation zu bewegen. Bei der Durchführung eines Plebiszits können alle Parteien verlieren, sowohl an Stimmen und auch an ‚Reputation‘, also ist es wirklich nur das letzte Mittel. Das ist eine ganz andere Situation als in der Konkurrenzdemokratie, bei der Kooperation durch (möglicherweise unsinnige) Zugeständnisse wie auf dem Basar erkauft werden muss (Beispiel: Tempolimit).

Betrachten wir die Tatsache, dass 30 bis 40 Prozent unseres Wählerpotenzials überhaupt nicht politisch in Erscheinung treten. Sie wählen nicht und weil sie nicht wählen, haben auch die Parteien kein so rechtes Interesse deren Wünsche und Belange aufzugreifen. Das sagen sie natürlich nicht, das wäre schlicht Dummheit. Also betreiben sie diesbezüglich Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse, beides kostet wenig bis nichts. Wenn wir uns aber die Entwicklungen bei Corona oder bei „empörungsrelevanten“ Sachverhalten ansehen, diese Bevölkerungsteile sind nicht stumm und tumb, sondern es besteht die Gefahr, dass aus solchen Kreisen plötzlich „Wutbürger“ werden, um den plakativen Begriff aufzunehmen. Konkret heißt das, dass dieses Potenzial durchaus ansprechbar ist. Und es rumort in diesen Kreisen, weil sie sich als abgehängt empfinden. Die Parteien und das Parlament sind von einer völlig anderen Bevölkerungsgruppe okkupiert und die Parteien haben offensichtlich jede Verbindung zu diesen Nichwählerschichten verloren.

Diese Situation müssen wir dringend ändern! Die Erwartung, dass sich die eingefahrenen Prozesse der Parteien ohne Druck ändern, ist eine Illusion. Wir müssen diesen 30 – 40 Prozent Abgehängten einen Weg direkter Demokratie eröffnen, der ggfs. außerhalb des gegenwärtigen Grundgesetzes liegt. Es muss etwas Neues sein. Und es muss so gestaltet sein, dass auch die Parteien sachlich so in Bedrängnis geraten, dass sie sich mittelfristig dieser Klientel zuwenden.

Es gibt Ansätze direkter Demokratie in den unterschiedlichsten Formen: den Bürgerrat, das Volksbegehren oder den Bürgerentscheid (auf allen politischen Ebenen mit niedrigen Durchführungsbarrieren), die Planzelle des Peter Dienel (das ‚deliberative‘ Partizipationsmodell) und ähnliche Verfahren, die außerhalb der eingefahrenen politischen Strukturen laufen und weltweit schon viel hundertfach erfolgreich angewendet werden. Man hat leider mit der griffigen Überschrift „Losen statt Wählen“ der dahinter stehenden Idee keinen Gefallen getan. Das Losen steht in zu engem Zusammenhang mit dem Glückspiel und weist in die komplett falsche Richtung. In der Schweiz gibt es eine öffentliche Verwaltungsstelle, die diesen plebiszitären Bestrebungen neutral mit Rat und Tat zur Seite steht und gleichzeitig auf die Einhaltung einer gewissen Mindestform und Vorgehensweise Einfluss nehmen kann.

Immer dann, wenn wir eine kleine, aber repräsentative Gruppe Bürger zusammenstellen wollen, in der jede Gesellschaftsschicht unserer Republik eine reelle Chance hat, vertreten zu werden, so bildet man eine statistisch repräsentative Stichprobe, indem zufällig ausgewählte Bürger aller Schichten angesprochen werden, ob sie (freiwillig) Teil des Prozesses werden wollen. Ziel ist es, in dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Bereiche repräsentativ abbilden zu können.

Die freiwilligen Teilnehmer werden zu einem persönlichen Treffen eingeladen, erhalten dort eine umfassende fundierte und neutrale Einführung in die aktuelle Problemstellung, Sie treffen sich dann in wechselnden Gruppen, um vorher definierte Fragen in freiem Gedankenaustausch (Deliberation) zu diskutieren. Für diese Aufgabe wird auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Das Ergebnis der Diskussion wird mit professioneller Unterstützung zusammengefasst und ist eine Vorlage für die Politik, die darauf reagieren muss. In einem anderen Zusammenhang habe ich ausgeführt, dass auf diese Weise dem Bürger, der gewöhnlich über keine Lobby verfügt, ein Einfluss möglich wird, der dem Lobbyismus der Wirtschaft Paroli bieten kann. Da das Parlament bzw. die Politik gezwungen wird, darauf zu reagieren, wäre das ein starkes Instrument und ein wirksames Gegengewicht zum unvermeidlichen, aber lästigen Lobbyismus der Wirtschaft. Wichtig ist dabei, dass über das Ergebnis in den Medien detailliert berichtet wird, um jenen 30 – 40 Prozent zu zeigen, dass auch ihre Problemstellungen Eingang in die Diskussionen findet.

Wer sich intensiver mit dieser Frage auseinandersetzen will, dem sei das Buch von Verena Friederike Hasel, „Wir wollen mehr als nur wählen“  aus dem Jahre 2019 zum Lesen empfohlen. Es ist gut geschrieben und lässt sich flott lesen.


[1] V. F. Hasel, Wir wollen mehr als nur wählen, DTV 34968, 2019, S. 28

[2] Eda. S. 28

[3] David Richard Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, S. 468f.

[4] Vgl. V.F. Hasel, a.a.O., S. 55, oder David Richard Precht, a.a.O. S. 468f.

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