Schlagwort-Archive: Protestbewegung

Das Rechtssystem und das politische Handeln

Der Politik ist es gelungen, dem Klima-Protest einen ‚Dreh‘ zu geben, der von den Kernproblemen ablenkt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser ‚Dreh‘ auch durch Kommunikationsfehler der Protestbewegung selber unterstützt wurde: Die radikalen Aktionen der Teilnehmer der „Letzten Generation“ (aber nicht ihr Grundanliegen) haben soviel Unmut in die Bevölkerung getragen, dass der Zusammenhang von den Aktionen und dem Klimawandel für viele Bürger nicht mehr hergestellt werden kann. Und das ist Wasser auf die Mühlen einer verhängnisvollen Politik.

» weiterlesen

Wo liegt das Kernproblem? In 2011 wurde die damalige Bundesregierung von Seiten ihres Wissenschaftlichen Beirates in Sachen Globale Umwelt (WBGU) dringend darauf hingewiesen, im Rahmen eines neuen gesellschaftlichen Sozialvertrages die praktizierte politische Moderation durch eine politische Gestaltung zu ersetzen1. Danach ist wenig geschehen, aber die einen oder anderen Grenzwerte wurden aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse gesenkt. Es wurde aber (offensichtlich) vergessen, dafür zu sorgen, dass es eine unabhängige Instanz gibt, die auf die Einhaltung der Grenzwerte achtet und es wurde auch vergessen, entsprechend klare Sanktionsmechanismen bei Nichterfüllung zu bestimmen. Ob hierbei wirklich von einem Vergessen gesprochen werden kann, erscheint mir zweifelhaft, weil es sich um so simple handwerkliche Mängel handelt, die wohl mit System vorgenommen wurden.

Die NGO ‚Deutsche Umwelthilfe e.V.‘ (DUH) hat an diesen Gesichtspunkt angesetzt und hat eigene Messungen durchgeführt bzw. gerichtlich veranlasst. Die Ergebnisse sind vielfach erschreckend schlecht. Die DUH hat als Folge verschiedene Organe der Exekutive und der Wirtschaft (Städte, Landkreise, Wirtschaftsunternehmen) hinsichtlich dieser „Nachlässigkeit“ vor Gericht verklagt, um öffentlich deutlich zu machen: Hier gibt es eindeutige Regeln für unser Gemeinwesen und ihr kümmert euch einen „feuchten Kehricht“ um deren Einhaltung. In vielen Fällen war dieses Vorgehen vor Gericht erfolgreich, aber geändert hat sich in der politischen Praxis wenig. Die Regeln sind scheinbar nicht das Papier wert, auf dem sie fixiert werden.

Diese Beschreibung erfasst die täglichen kommunalen oder regionalen Unzulänglichkeiten. Bei der Automobilindustrie waren es dann die gefälschten oder sagen wir „geschönten“ Abgaswerte, die zusammen mit wesentlicher Unterstützung durch Ergebnisse der amerikanischen Umweltbehörde letztlich dazu geführt haben, dass Teile dieses „ehrenwerten“ Gewerbes öffentlich juristisch als „kriminelle Vereinigung“ klassifiziert wurde. Dieser Sachverhalt wurde zwar auf kleiner Flamme gehalten, aber es ist schon ein Hammer, dass ausgerechnet jene Branche, von der viele glaubten, sie sei technisch weltweit führend, zu Mitteln und Maßnahmen gegriffen hat, die jenen der Mafia nicht unähnlich sind.

Steigen wir noch eine Stufe die Hierarchie hinauf: „Das Klimaabkommen von Paris (…) ist nach einer Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Art. 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht. Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts haben der Bundesregierung, die dies nicht genug ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt. (…) Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht (damit geltendes -VF) Recht.2

Und das sind m. E. jene Punkte, die bei den Aktionen der „Letzten Generation“ nicht ausreichend kommuniziert und hervorgehoben werden. Es richten sich alle Blicken auf das Spektakuläre der Aktion ohne lautstark den Bezug zu der Tatsache herzustellen, dass die Bundesregierung laufend ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommt.

Was ist zu tun, wenn die Spitze der Exekutive geltendes Recht bricht und dabei versucht, so zu tun, als ob das ‚common sense‘ wäre? Die „Letzte Generation“ hat daraus ein „Recht“ zu außergewöhnlichen Maßnahmen abgeleitet, gewissermaßen aus Notwehr „der Regierung mit einem „empfindlichen Übel“ zu drohen, wie es im Nötigungsparagraphen 240 des Strafgesetzbuches formuliert ist (…). Das Ungewöhnliche daran ist: Die Täter verlangen nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. (…) Dass man jemanden nötigt, die Regeln einzuhalten – das ist ‚ziviler Ungehorsam‘ von der wirklich bravsten Sorte3.“

Dadurch entsteht aber eine komplizierte Situation, „die jeden Strafrichter erst einmal perplex machen muss4.“ Laut Steinke ist die Aktion der „Letzten Generation“ trotzdem illegal. Steinke begründet diese Auffassung, dass – vereinfacht gesagt – das Rechtssystem in Gefahr sei.

„Wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel steht wie die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Spezies Mensch, dann übersteigt das locker alles andere. Den Straßenverkehr, das Hausrecht, das Eigentum, alles. (…) Die juristische Billigung des ‚zivilen Ungehorsams‘ wäre, wie es der Augsburger Strafrechtler Michael Kubiciel kürzlich auf den Punkt gebracht hat, ‚systemsprengend‘5.“

Je länger die Bundesregierung als oberstes Exekutivorgan nicht bereit ist, sich den selbstgegebenen Regeln zu unterwerfen, desto fragwürdiger wird die Diskussion über zivilen Ungehorsam. „Die Dinge sind in Bewegung“, meint Steinke.

Die Deutsche Umwelthilfe e.V. ist schon länger recht erfolgreich auf dem Weg durch die Instanzen. Es ist den „Brüdern und Schwestern im Geiste“ neben ihren öffentlichen Aktivitäten anzuraten, sich mit einem Bein auch diesem Marsch durch die Instanzen anzuschließen. Er erscheint mir langfristig als der nachhaltig Erfolgversprechendere, weil die Justiz begriffen hat, dass sich hier ein Wandel vollzieht, der nicht mehr aufzuhalten ist. Denken Sie daran, dass noch vor wenigen Jahren es fast nicht möglich war, großen Wirtschaftsunternehmen erfolgreich Grenzen oder rote Linien aufzuzeigen. Inzwischen sind zahllose Verfahren anhängig, die die Betroffenen Zeit, Geld, Reputation und Aufmerksamkeit kosten und zunehmend lästig werden.

Wenn der Eindruck entsteht, dass sich die öffentlichen Körperschaften (insbesondere Staat, Land und Kommunen) um die Einhaltung ihrer eigenen Regeln drücken (können), welche Auswirkungen müssen wir dann für die Zivilgesellschaft befürchten? Ein Rechtssystem ist nur so gut, als sich eine überwältigende Mehrheit an die dort fixierten Regeln hält. Hier haben die öffentlichen Körperschaften eine klare Vorbildfunktion, die nicht zu unterschätzen ist.

Gegenwärtig wird bezüglich des Strafmaßes für einige hochrangige Automanager „verhandelt“ und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier wieder mit zweierlei Maß gearbeitet wird. Wenn ich mir die Schadenhöhe ansehe und dann das diskutierte Strafmaß, kommen mir Zweifel, ob diese Zusammenhänge wirklich angemessen bewertet werden. Diese Entscheidungen werden ja auch öffentliche Folgen nach dem Motto haben: „die kleinen hängt man und die großen lässt man laufen“. Die angewandten juristischen Taschenspielertricks sind dem Normalbürger kaum zu vermitteln.

Weiterhin ist zu beobachten6, das die Strukturen der Justiz aus der Zeit fallen. Man glaubt beobachten zu können, dass die Aspekte Zeit, Kosten und notwendige Aufmerksamkeit von juristischen Verfahren viele Unternehmen dazu bewegt, Meinungsverschiedenheiten statt über langwieriges „Recht sprechen“ (und ev. „Recht bekommen“) durch Geld geregelt wird. Offenbar rechnet sich diese Vorgehensweise, wenn man Kosten und Nutzen gegeneinander verrechnet. Was dabei zu kurz kommt, ist das, was man „Recht“ nennt und was bisher einen relativ hohen gesellschaftlichen Stellenwert inne hat. Es sollte „Dinge geben, die man für Geld nicht kaufen kann“ (Michael J. Sandel).

Haben Sie sich schon einmal in einer modernen digital ausgestatteten Rechtsanwaltskanzlei umgesehen und haben Sie dann die Gelegenheit gehabt, bei Gericht die Abläufe zu beobachten? Dann können Sie vielleicht verstehen, warum es junge Spitzenanwälte unabhängig vom Geld nicht ins Richteramt drängt.

Unabhängige Rechtsprechung ist aber eine infrastrukturelle Dienstleistung, die nur solange in Anspruch genommen wird, als sich Nutzen und Kosten in etwa ausgleichen. Kann man dieses Gleichgewicht nicht mehr bereitstellen, ist auf Dauer die Rechtsstaatlichkeit unseres Handelns gefährdet.

In diesem Blog habe ich an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass wir in einem Transformationsprozess befinden, dessen Verlauf noch in keiner Weise absehbar ist. Viele uns als selbstverständlich vertrauten Zusammenhänge sind in Auflösung begriffen. Viele scheinbare Sicherheiten müssen einer Risikobetrachtung weichen. Man könnte aus den bisherigen Ausführungen auch den Schluss ziehen, dass auch unser (ziemlich ausgeklügeltes) Rechtssystem Teil des Transformationsprozesses ist oder sogar sein muss.
……………………………………………………………………………..

1German Advisory Coucil on Gloabl Change (dt.: WBGU), A Social Contract for Sustainability (Flagship Report), Berlin 2011 (die deutsche Fassung ist leider vergriffen), Kap. 5

2Steinke, Ronen: Alles, was Recht ist, in: SZ Nr. 92 vom 21. April 2023 (Feuilleton)

3Steinke, R., a.a.O.

4Steinke, R. a.a.O.

5Steinke, R. a.a.O.

6Vgl. SZ vom 26.04.2023, S. 5 (Rätselhafter Klageschwund, Wolfgang Janisch)

» weniger zeigen