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Die Macht der Narrative

Narrative als ein anderes Wort für Erzählung oder „Märchen“, bestimmen in vielen Teilen das Verständnis über unsere „Welt“, in der wir leben. Narrative müssen nicht wahr sein, erringen aber oft den Status einer Wahrheit. Werden wir konkret: Das religiöse monotheistische Narrativ hat uns über nahezu zweitausend Jahre die Welt erklärt. Ob der Inhalt des religiösen Narrativs wahr ist, werden wir nie erfahren. Es wird erwartet, dass wir daran „glauben“.

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Eine m.E. sehr wirkmächtige Aussage des Narrativs fordert vor über 2000 Jahren auf, der Mensch solle sich die Welt untertan machen. Zu dieser Zeit war es eine eher unerfüllbare Forderung. Mit dem Aufkommen von Wirtschaft und Technologie unterstützt dieser „alte Spruch“ die Entwicklung der Menschheit der letzten 250 Jahre auf fatale Weise.

Die Macht dieses Narrativs verliert mit der Entwicklung der Technologie und des Ökonomischen. Die Aufklärung und die Entwicklung der Wissenschaften haben diesem Narrativ Schritt für Schritt das Wasser abgegraben. Dabei verlor das Narrativs die Möglichkeit, unser komplexes Leben zu dominieren und ist heute vielfach auf eine private Lebensauffassung reduziert. Aber der „alte Spruch“ spukt noch in den Köpfen der Menschen herum. Den Platz des ehemals religiösen Narrativs hat ein neues Narrativ eingenommen. Nennen wir es pauschal das ‚ökonomische Narrativ‘. Es steht hinsichtlich seiner normativen Kraft dem „alten“ Narrativ nicht nach, es hat sich der Aufklärung und teilweise dem Stand der Wissenschaften angepasst, ohne deshalb wahr sein zu müssen.

Teile des neuen Narrativs basieren auf einer Handlungsanweisung , die in der Philosophie unter dem Namen ‚Utilitarismus‘ geführt wird und deren Handlungsanweisungen auf der Basis einer rationalen Nützlichkeit entschieden werden. Hinzu kommen noch die „(Natur-)Gesetze“ der Ökonomie, die es in der Natur nicht gibt. Letztere sind Folgen der normativen Grundlagen, die sich die Ökonomen im Laufe der letzten 250 Jahre ausgedacht haben, damit in der Ökonomie möglichst rasch und möglich unterkomplex gehandelt werden kann. Gerade deshalb ist die Ökonomie ein soziales Konstrukt und keine Naturwissenschaft.

Im alten Narrativ gab es einen ‚Gott‘, im neuen Narrativ gibt es den Markt. Um im alten Narrativ „gottgefällig“ zu sein, gab es eine verbindliche Moral, deren Inhalt sich am einfachsten und sicherlich verkürzt mit Hilfe der ‚sieben Todsünden‘ umschreiben lässt. Wer es schaffte, die angesprochenen Todsünden zu meiden, hatte vermutlich ein krisenfesteres Leben und – als Versprechen – die Aussicht, nach dem Tode auf einen Zugang zur angeblich besseren Hälfte des Jenseits.

Im neuen Narrativ, deren Ausführungen sich um den „Marktgott“ ranken, sind die Aktivitäten von Nützlichkeitsüberlegungen geprägt. Die Todsünden des alten Narrativs waren klar benannt und die Regelungsinstanz war anerkannt und es gab nur wenig Spielraum. Die Nützlichkeitsüberlegungen haben keine Instanz, jedes Individuum hat die Freiheit, zu entscheiden, was ihm nützlich erscheint. Die alten Regeln bestimmten das Verhalten und mit hoher Wahrscheinlichkeit konnte man darauf vertrauen, dass die Regeln eingehalten wurden. Bei den Nützlichkeitsüberlegungen gibt es ähnliche Mechanismen, aber die Bandbreite, welches Verhalten noch zuträglich ist oder schon als indiskutabel betrachtet werden muss, ist gigantisch und wechselt mit dem Verständnis von Nützlichkeit in der jeweiligen Situation. Das Verhalten wird aus der Situation mit einem oft verantwortungslosen Gebrauch von angeblicher Freiheit heraus entwickelt und die Verlässlichkeit des Verhaltens und Handelns schwankt. Die Verbindlichkeit von „richtig“ und falsch“ wurden in weiten Teilen unseres Verhaltens aufgehoben. Die alt hergebrachten Todsünden sind heute in vielen Fällen sogar Grundlage unseres ‚erfolgreichen‘ Handelns (Selbstüberschätzung, Gier, Neid, Unbeherrschtheit, Schamlosigkeit, Maßlosigkeit und Gleichgültigkeit), um den Konsum als Grundlage unseres Wirtschaftssystems wachsen zu lassen.

Das ökonomische Narrativ hat vergleichbar mit dem religiösen Narrativ auch ein klares Versprechen: Ludwig Erhard hat dieses Versprechen in den 1950er Jahren in dem Slogan: „Wohlstand für alle!“ komprimiert. Das religiöse Narrativ hatte den Vorteil, dass die Möglichkeit eines ewigen Lebens sich erst nach dem Tode des Betreffenden realisiert. Dann war Reklamation aber faktisch unmöglich und sinnlos. Ludwig Erhard war dabei viel konkreter: Wohlstand im Hier, aber eben erst in der Zukunft – er sollte nach dem Kriege erst noch geschaffen werden. Für manchen hat sich diese Aussage auch noch zu Lebzeiten realisieren lassen.

Dann hat sich ab den 1970er Jahren das Narrativ in einigen wesentlichen Schritten gewandelt. Auf dem Mont Pélerin in der Nähe von Genf haben einige Ökonomen mit dem sozialen Marktgott gehadert und wollten das Maximale ohne das Soziale, eine durchökonomisierte Gesellschaft unter dem Namen des Neoliberalismus. Die Mont Pélerin – Gesellschaft war global der große Verkünder der neuen ökonomischen Sichtweise. Und sie war zu ihrer Zeit durchaus erfolgreich. Der unbedingte Markt erfordert letztlich auch eine marktgerechte Gesellschaft. Damit legten sie sich mit der Demokratie an. Und als viele der Ökonomen überzeugt der neoliberalen Sicht huldigten, kam die Finanzkrise 2008/2009 und offenbarte, dass dieses Markt-Narrativ die Weltwirtschaft in relativ kurzer Zeit von Krise zu Krise und an den Rand des Zusammenbrauchs geführt hatte. Viele betrachten diesen Zeitpunkt als das Ende des Neoliberalismus, wenngleich er noch in den Köpfen vieler Ökonomen herumspukt.

Das wird sich im Rahmen einer neuen Entwicklung verflüchtigen, weil die Autokraten gegenwärtig weltweit versuchen, das Heft in die Hand zu bekommen. Die lange geltende Maxime „Wandel durch Handel“ setzt voraus, dass Krieg kein Mittel der Politik ist. Nicht nur Europa ist aus seinem Schlafwandel aufgeschreckt und man stellt fest, dass die alleinige Fixierung auf den Markt ihre Basis verloren hat. Die offenbaren Mängel in unserer Infrastruktur i.w.S. sind so gravierend, dass es den Anschein hat, dass dem Staat wieder eine veränderte Rolle zugewiesen werden muss. Verteidigungsbereitschaft, Cybersicherheit, Digitalisierung, Energieversorgung sind Infrastrukturmaßnahmen, die in unruhigen Zeiten nicht dem Markt überlassen bleiben können. Wie diese Entwicklung längerfristig weitergehen wird, ist m.E. angesichts der Präsidentschaftswahlen in den USA noch ziemlich unklar.

Nun zurück in die 1970er Jahre: Es wurden zu dieser Zeit die ersten Erkenntnisse veröffentlicht, die dem Wirtschaftssystem des beginnenden Neoliberalismus die globalen Grenzen aufzeigten. Das Narrativ vom ewigen Wachstum bekam Risse, weil die Wissenschaften plausibel zeigen konnten, dass ewiges Wachstum auf einem begrenzten Planeten eine physikalische Unmöglichkeit darstellt. Die Ökonomen waren sich ihrer Ideologie aber so sicher, dass sie in einem ersten Schritt die Veröffentlichungen dieser Erkenntnisse einfach ignorierten oder lächerlich machten.

Als Antwort der Ökonomie wurde vor sicherlich mehr als 30 Jahren die ‚Dematerialisierung‘ des Wirtschaftssystem als neues Narrativ zu etablieren versucht. Es war die merkwürdige Idee, man könne eine wachsende Wirtschaft auch ohne ständig wachsenden Ressourceneinsatz darstellen. Bis heute wartet die Welt seit mehr als 30 Jahren auf den Nachweis, wie diese fixe Idee realisiert werden soll. Diese Wartezeit hat die Wirtschaft exzessiv genutzt, um dem Wachstum zu huldigen. Es sollte auch den letzten informierten Menschen klar geworden sein, dass hier ein gewaltiger Dissens zwischen den Zielen des Wirtschaftssystems und den Erkenntnissen der Wissenschaften besteht. Die Wirtschaft redet von den Erfolgen des ‚Schneller, Höher, Weiter‘ des nächsten Vierteljahres (ohne sich um die längere Perspektive zu scheren) und die Wissenschaften versuchen seit 50 Jahren zu vermitteln, dass dieses Denken die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten in eine Situation führt, die – verglichen mit heute – keinesfalls erstrebenswert ist.

Die Aussage „Wohlstand für alle“ ist seit den 1950er Jahren ein Versprechen, das sich trotz der ausschließlichen Konzentration auf Wachstum nicht realisiert werden konnte. Die Vermögensverteilung hat sich weiter verschärft: es gibt immer mehr extrem vermögende Personen, der sogenannte Mittelstand verliert und die Zahl der Habenichtse wächst, trotz des Wachstums des Bruttoinlandsproduktes. Hier besteht eine klaffende Lücke zwischen Bruttoinlandsprodukt als Maß für Wachstums und dem Begriff des Wohlergehens der breiten Bevölkerungsschichten unseres Landes. Das dahinter stehende Narrativ wird unglaubwürdig. Das liegt auch daran, dass das Narrativ, das durch die Überschrift ‚Wohlstand für alle‘ umschrieben wird, im Neoliberalismus seine Bedeutung verlor. Neoliberalismus ist nicht für alle, er ist nur etwas für „Sieger“.

Es geht im Neoliberalismus um das Individuum, dass sich mit Haut und Haaren der ökonomischen Marktrationalität unterwirft und so handelt, wie es der homo oeconomicus demonstriert. Eine Gesellschaft oder Gemeinschaft, die naturgemäß auch Ansprüche an den einzelnen stellt und stellen muss, kennt der Neoliberalismus nicht, so Margret Thatcher. Es geht nur um die (wenigen) „Sieger“, die sich gewöhnlich nicht um andere kümmern. Die Begriffe ‚Sieger‘ und ‚alle‘ schließen sich wechselseitig aus. Das neoliberale Narrativ ist das Narrativ der Siegertypen, wobei man nicht fragen darf, über welche Verhaltensweisen der Sieger seine Position erreicht hat: durch eigene Leistung, durch glückliche Umstände oder vielleicht durch „Selbstüberschätzung, Gier, Unbeherrschtheit, Scham-, Maß- und Verantwortungslosigkeit“.

Wir sehen also mindestens folgende Problemstellungen: Das religiöse Narrativ hat seine Verbindlichkeit verloren, aber die dort vertretende Moral hat in vielen Fällen unbewusst noch Gültigkeit. Das ökonomische Narrativ hat sich abgenutzt und das Versprechen ‚Wohlstand für alle‘ wurde nicht eingelöst. Dieses Narrativ steht zudem unter Druck durch die Wissenschaften, die darstellen können, dass unsere gegenwärtige Wirtschaftsentwicklung nicht zukunftsfähig ist.

Was es braucht, ist ein neues positives Narrativ, das eine Antwort auf die veränderten Bedingungen bereitstellt. Dabei haben die Versprechen der alten Narrative, die in der Bevölkerung weit verbreitet sind, immer noch einen gewissen Einfluss. Narrative arbeiten nicht unbedingt intellektuell, sondern bevorzugt mit Emotion, die nicht erkennen will, dass deren Versprechen nicht mehr in die Zeitumstände passen. In Zeiten, die als unsicher begriffen werden, greift die Emotion gerne auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit zurück, statt sich einer realistischen Vorstellung von den künftigen Chancen zu widmen.

Sehr ärgerlich ist dabei die Ignoranz und Phantasielosigkeit die Ökonomen, die durch ihre Haltung jede Gemeinsamkeit mit den sie zurecht kritisierenden Wissenschaften ablehnt. Wirtschaften im Sinne der Ökonomie ist ohne Wachstum nicht möglich, sagen sie. Es fehlt den Ökonomen an Phantasie, das Wirtschaften auf eine andere Grundlage zu stellen. Statt einer Ökonomie, die durch den Kapitaleinsatz das Angebot bestimmt, das dann durch Marketingmaßnahmen dem Konsumenten manipulativ nahegebracht wird, wäre eine Ökonomie der Nachfrage denkbar, bei der nicht das Bedürfnis, sondern der effektive Bedarf die Produktion bestimmt. Das Dogma der grenzenlosen Bedürfnisse ist eine Erfindung des Marketing, um Wachstum und Skaleneffekte künstlich zu erzeugen. In der Historie hatten wir lange Zeit ein ganz geringes Wachstum und die Welt ist dabei nicht zusammengebrochen. Heute ist das System weitaus komplexer und vielfältiger. Das gäbe völlig neue Chancen. Es könnte aber sein, dass die ideologische Blase, die die Ökonomie sich geschaffen hat, dadurch in sich zusammenfällt und ihr Einfluss auf unser tägliches Leben künftig stark zurückgedrängt wird.

Welches Versprechen könnte das künftige Narrativ machen, ohne von vornherein als unglaubwürdig oder inakzeptabel zu sein? Es muss den Nerv der Vielen treffen und es muss ein Versprechen sein, das langfristig erreichbar scheint und das eine breite Zustimmung findet. Da ist noch viel Platz nach oben.

Eine andere Möglichkeit wäre, der alten Forderung „Wohlstand für alle“ eine neue (gerechtere) Bedeutung zu geben. Das Ziel müsste doch sein, die Gesellschaft wieder hinsichtlich der Wohlstandverteilung homogener zu machen, die vorhandene Spreizung von ‚superreich‘ bis ‚Grundsicherung‘ zu reduzieren. Dazu braucht es m.E. klare Begrenzungen und innerhalb der Grenzen ein deutliche Reduzierung der Bürokratie. Das könnte ungeahnte Kräfte freisetzen, weil die eingefahrenen Selbstverständlichkeiten neu definiert werden müssen und Kreativität gefragt ist, mit den neuen Grenzen konstruktiv umzugehen. Dann kann aber das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr das Kriterium für Wohlstand sein, sondern z. B. der Gini-Index als Maß der Vermögensverteilung oder etwas Vergleichbares, jedoch einfacher strukturiert und besser kontrollierbar. Es geht dann nicht mehr um Wachstum, sondern um eine regelmäßig vergleichende Darstellung der Spreizung der Vermögens, mit dem Ziel, die Spreizung mittelfristig zu reduzieren.

Ein weiterer Ansatz könnte unter dem Begriff „für alle“ mehr erfassen als nur die Arbeitnehmerschaft, die wohl ursprünglich mit dem Slogan gemeint war. „Alle“ könnte auch unsere Mitwelt erfassen, der wir mit unserer Wirtschaftsweise ihre Chancen auf ein respektiertes Leben (i.w.S.) verweigern. Diese Sichtweise setzt wohl auch voraus, dass wir auch global der Spezies Mensch diese Chance auf ein respektiertes Leben realisieren. Dieses Ziel ist bisher weder über Wachstum noch über große Sprüche großer Konferenzen erreicht worden.

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