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Wohin gehen wir? Ein Rückblick 22 Jahre später!

Diese Frage stellte sich im Jahre 2002 eine namhafte Gruppe von Wissenschaftlern und hat mit Hilfe der Szenario-Technik einige Alternativen für unser weitere menschliche Entwicklung entworfen1. Das implizite Ziel der Berichts-Ausführungen ist eine planetarische Gesellschaft, die verstanden hat, welche Konsequenzen der Klimawandel für die menschliche Gesellschaft haben wird. Der Bericht geht von drei Szenarien aus, die jeweils wieder in zwei unterschiedliche Entwicklungsalternativen aufgeteilt werden.

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Die großen drei Szenarien entwickeln sich aus unterschiedlichen Strategien oder auch Ideologien: Die erste Strategie folgt der Vorstellung einer konventionellen Welt, also dem „weiter so wie bisher“ im Vertrauen auf die „Marktkräfte“ und/oder durch minimale politische Anpassungen. Die zweite Strategie oder Ideologie unter der Bezeichnung „Verfall und Barbarei“ setzt auf den Einsatz von Gewalt und militärische Macht. Diese Vorstellung basiert auf einer Welt von nationalen Festungen, die es zu verteidigen gilt („Barbarei“) oder, wenn das nicht gelingt, „Zusammenbruch“ unserer Zivilisation. Die dritte Strategie (oder Ideologie) erwartet angesichts der bestehenden Probleme eine demokratische Zustimmung zu einer großen Transformation mit dem Ziel eines „Öko-Komunialismus“ bzw. einem neuen „Nachhaltigkeitsparagima“. Die Details bitte ich aus Platzgründen im Bericht selbst nachzulesen. Er steht im Internet als deutsche Fassung zur Verfügung.

Wir sind seit der Veröffentlichung bis heute 22 Jahre in der Entwicklung fortgeschritten und es fällt mir schwer, hier hinsichtlich einer „großen Transformation“ irgendwelche relevanten Fortschritte erkennen zu können. Angesichts der veränderten geopolitischen Lage, der Entwicklungen in China und Indien, dem Verhältnis von Putin und der EU, des Zustands der EU selbst, den gesellschaftlich gespaltenen Vereinigten Staaten von Amerika u.a.m. fällt es mir schwer, die in der Studie unterstellte Monopolarität (die „planetarische Perspektive“) in irgendeiner Weise entdecken zu können. Keiner der angesprochenen „Global Player“ hat eine planetarische Perspektive. Unsere politischen Strukturen sind auf nationales Agieren ausgerichtet. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Der Gedanke der Globalisierung wurde m.E. inzwischen aufgegeben, weil Globalisierung nur dann einen Wert hat, wenn man Krieg als Mittel der Politik weitgehend ausschließen kann. Die Lieferkettenprobleme, die wir in letzten Jahren beobachten können, lassen Zweifel an der ökonomischen Sinnhaftigkeit der Globalisierung aufkommen. Deshalb will ich den Gedanken einer „großen Transformation“ in diesem Zusammenhang nicht weiter vertiefen.

Interessanter erscheinen mir die Beträge im Rahmen der „konventionellen Welten“ und die Überlegungen, unter welchen Bedingungen „Barbarei und Verfall“ drohen könnten. Die Strategie der Konvention, das „weiter so, es wird schon gutgehen“ bezieht sich im Schwerpunkt auf die Erwartung, dass der „Markt“ es schon richten wird. Raskin et. al. schreiben hierzu im Jahr 2002:

„Die Weltsicht der Marktkräfte umfasst eine ehrgeizige Vision und spielt gleichzeitig eine Art Kosmolotterie. Die Vision sieht die Entstehung eines weltweiten freien Marktes, der unbehindert von Zöllen und anderen Handelsschranken funktioniert, von supranationalen Institutionen kontrolliert wird und das westliche Modell zum verbindlichen Entwicklungsziel erklärt. (…)

Es stimmt wohl, dass sich einige Umweltzerstörungen durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes korrigieren lassen: ökologische Knappheit spiegelt sich in höheren Preisen und drückt auf die Nachfrage, sie begründet die Investitionen für neue Techniken oder ermöglicht die Substitution von Rohstoffen. Deswegen betont die Umweltökonomie die Bedeutung der „Internalisierung der externen Kosten“, d.h., dass die Folgekosten in den Preis eines Produktes eingerechnet würden. Müsste der Verbraucher anteilig die Umweltschäden durch Produktion oder Beseitigung des gekauften Artikels mitbezahlen, sähe seine Entscheidung an der Kasse wohl anders aus. Kann dieser immanente Reparaturmechanismus schnell genug und in genügend großem Ausmaß Abhilfe schaffen? Das ist eine Glaubensfrage, und wer sie mit Ja beantwortet, kann seinen Optimismus weder wissenschaftlich noch historisch belegen.2

Inzwischen haben wir bessere Erkenntnisse zu den Auswirkungen des Klimawandels einerseits und erfahren andererseits, welche gigantischen Kosten die Schadensfälle weltweit durch den Klimawandel zunehmend auslösen: Einerseits wollen wir vernünftigerweise durch sinnvolle Investitionen die negativen Auswirkungen des Klimawandels so gering als möglich halten oder gar aufheben, andererseits wachsen die Kosten der Schäden, die durch den Klimawandel in Einzelereignissen weltweit ausgelöst werden, immer weiter. Wir bewegen uns also zwischen Scylla und Charybtis und wissen nur, dass beides einen enormen Finanzbedarf auslösen wird. Und die Problematik ist weit davon entfernt, gelöst zu werden.

Der wachsende Finanzmittelbedarf, der im Falle der Schadensbehebung notwendig wird, werden an anderer Stelle unseres Gemeinwesens fehlen. Es ist als führten wir einen (m. E. aussichtslosen) Krieg gegen die Natur: Wir betreiben halbherzige Maßnahmen im Rahmen der Bekämpfung des Klimawandels und werden zunehmend – an unterschiedlichen Orten – Schadensereignisse feststellen können, die in ihren Auswirkung einem „Krieg“ gleichen. Die Chancen, diesen „Krieg“ im klassischen Sinne irgendwie zu gewinnen oder doch wenigstens einen „Waffenstillstand“ zu vereinbaren, laufen gegen Null: mit der Natur kann man nicht verhandeln.

Aus gegebenem Anlass ist die Problematik der sogenannten Migration unter dem Stichwort Asylpolitik populär. Die Maßnahmen, die ohne nähere Analyse des Problems populistisch auf der Tagesordnung auftauchen, sind viel zu sehr an den Symptomen orientiert und nur sehr begrenzt verursachungsbezogen. Das Problem langfristig lösen zu wollen, übersteigt wahrscheinlich den Horizont unserer Politiker. Sie brauchen (vor der Wahl) eine schnelle und simple Lösung (einen sogenannten schmutzigen Deal). Die Gerechtigkeit wird dabei wahrscheinlich unter die Räder kommen.

Diese Entwicklung haben in einer breiteren Perspektive Raskin et. al. als eine der großen Herausforderungen der Zukunft in ihrer Studie angesprochen. Wir sind auf dem besten Wege unsere Wagenburgen auszubauen und die „Zugbrücken“ hochzuziehen, in der Hoffnung, dass wir dadurch den globalen Migrationsdruck für unser Land abwehren können. Die Maßnahmen sind – so scheint es mir – von der späten Erkenntnis geführt, dass wir die in der EU offenen Grenzen administrativ nicht in den Griff bekommen.

Sei es, dass wir hinsichtlich der „Asylfrage“ nicht belastbar wissen wer, wann und wo welchen Rechtsstatus hat oder wo die Grundlagen einfach fehlen. Die einfache Vorstellung, die sich hinter dem Begriff „Abschieben“ verbirgt, vernachlässigt, dass die Fehler der Vergangenheit nicht dadurch geheilt werden können, das man bemüht ist, sie außer Landes zu bringen. Es sind Menschen, die bei uns keine Aufenthaltsrecht haben, aber wo haben sie denn dann ein „Aufenthaltsrecht“? Abschieben – schön und gut – aber wohin? Wer will denn Menschen bei sich aufnehmen, die wir offensichtlich aus vielerlei Gründen nicht haben wollen? Das ist eine humanitäre Frage, die wir dadurch geschaffen haben, dass wir sie vor Jahren EU-weit schlecht organisiert bei uns aufgenommen haben.

Im Jahr 2002, also lange vor der ersten Migrationswelle, beschrieben Raskin et.al. (S. 38f.) ein Narrativ (eine Erzählung) über eine künftige „Welt als Festung“ wie folgt (gekürzt):

(Die) „Nutznießer der wirtschaftlichen Globalisierung waren nur zwei Fünftel der Gesellschaft: Die 20 Prozent der Spitzenverdiener und die 20 Prozent mit dem höchsten Ausbildungsstand. Die Weltwirtschaft gebar eine neureiche Klasse, die sich in ihrer Internationalität gefiel. Aber dem standen Milliarden verzweifelt armer Menschen gegenüber, deren Situation nicht von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung berührt wurde. Es gab nach wie vor internationale Einrichtungen und Hilfsprogramme zur Armutsbekämpfung. Sie setzten auf unternehmerische Initiative und Modernisierung. Da jedoch die meisten Gelder in Sicherheit und Kontrollbehörden flossen, waren die Mittel für soziale Belange ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Not der Armen wurde immer dringender, die Kluft zwischen Vermögenden und Mittellosen immer größer. Trotzdem wurde die Entwicklungshilfe immer weiter abgebaut. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, von institutioneller Seite zu helfen, war erschöpft. Derweil verschlechterte sich die Lage der Umwelt. Die Mehrfachbelastung – Umweltverschmutzung, Klimaveränderung, die Zerstörung von Ökosystemen – beschleunigte den Niedergang. Streit um die knappen Wasservorräte führte vor allem zwischen Ländern mit gemeinsamen Flüssen zu Konflikten. Luftverschmutzung, kontaminierte Böden, Nahrungsmittelknappheit und Seuchen stürzten das Gesundheitswesen eine tiefe Krise.(…)

In dieser angsterfüllten Atmosphäre vertieften sich alte ethnische, religiöse und nationalistische Spannungen. Die staatliche Einheit vieler Entwicklungsländer zerbrach, die Ordnungskräfte versagten und Kriminelle nutzten das Machtvakuum. Erschütterungen suchten auch die wohlhabenden Nationen heim, weil die Infrastruktur zerfiel und manche technische Einrichtung versagte. Der Motor der Weltwirtschaft stotterte, die internationalen Institutionen waren geschwächt, während die mit der Klimaveränderung einhergehenden Unwetter katastrophale Ausmaße annahmen. Die reiche Minderheit fürchtete, in den Strudel von Immigration, Gewalt und Krankheit gerissen zu werden. Die Krise geriet außer Kontrolle.

Die Kräfte der Weltordnung traten in Aktion. Internationale Verteidigungsbündnisse, Konzerne und die Regierungen der mächtigsten Staaten bildeten eine Rettungsallianz von eigenen Gnaden. Sie polierten die Vereinten Nationen auf, nutzten diese als Plattform und erklärten den planetaren Notstand. Militärische Strafaktionen und drakonische Polizeimaßnahmen sollten die schlimmsten Konfliktherde „ausbrennen“. Mit finanzieller und personeller Unterstützung durch die Allianz konnten die lokalen Machthaber jeden Widerstand unterdrücken und ihr Land dank der internationalen Friedenstruppen ruhig halten.

Am Ende steht eine neue Zweiteilung der Welt. Die einen sprechen von der Welt als Festung, die anderen nennen es planetarische Apartheid.“

Man erinnert sich vielleicht an die hehren humanitären und demokratischen Werte wie Menschenrechte oder Grundrechte, die wir die letzten siebzig Jahre wie eine Monstranz vor uns her getragen haben. Wenn das so endet, wie oben erzählt, ist doch etwas gründlich schief gelaufen.

Am 13.9.2024 ist zu diesem Thema in der SZ eine Karikatur von Kittihawk zu finden: „Da kann die AfD einpacken! Irre Ideen zur Asylpolitik: Jetzt auch bei uns! CDU“. Die Karikatur scheint die gegenwärtige Situation recht gut zu treffen.
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1Vgl. Raskin et al., Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, original: 2002, deutsch: 2003 Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) GmbH, Hamburg

2Raskin et. Al, 2003, S. 39

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Eine ‚volle‘ Welt und ihre Konsequenzen

Letzte Woche bestand die Gelegenheit an einem Umwelt-Puzzle1 teilzunehmen. Das Umwelt-Puzzle ist eine Veranstaltung, bei der in Gruppenarbeit mit Moderatoren auf wissenschaftlicher Basis Fragen zu unserer Umweltsituation gestellt werden, für die die Teilnehmergruppen Ursache-Wirkungs-Ketten zusammenzustellen hatten.

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Die Teilnehmer waren nach drei Stunden gemeinsamer Diskussion überrascht über die hohe Komplexität der Problemstellung. Es wurde den Teilnehmern auch klar, einfache Lösungen wie das Narrativ des ‚Weiter so‘ oder ‚der Markt wird es schon richten‘ sind keine vernünftigen Optionen.

Ein Aspekt hat mich dann besonders herausgefordert. Es wurden in den Diskussionen die menschliche Aktivitäten aufgegriffen und deren Wirkungen auf die Umwelt diskutiert. Aber der Mensch als Spezies und wesentliche Ursache all der Probleme stand nicht zur Diskussion. Mein Eindruck war, dass diese Selbstreflektion über die Rolle des Menschen in der Umwelt-Problematik möglicherweise die Teilnehmer überfordert hätte.

Um diese Fragestellung auf einer relativ einfachen Ebene zu verdeutlichen, kann man auf die Unterscheidung von einer ‚vollen‘ und einer ‚leeren‘ Welt zurückgreifen. Ich habe diese Begriffe erstmals bei Hermann Daly kennengelernt. Das ‚Leer‘ und ‚Voll‘ bezieht sich bei mir auf die menschliche Besiedlungsdichte und der Begriff unterstellt nach meiner Interpretation, dass wir seit 200 Jahren in einer zunehmend ‚vollen‘ Welt leben und wirtschaften. Mit anderen Worten, die heutige Umwelt-Problematik ist in erster Linie eine Frage der Siedlungsdichte des Menschen, die sich weltweit von ca. einer halben Milliarde Menschen im ausgehenden Mittelalter inzwischen auf ca. acht Milliarden Menschen (2024) angewachsen ist2. Und das hat natürlich Folgen für unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln!

Wer die Entwicklungskurve der Weltbevölkerung auf Wikipedia (siehe unten Fußnote 2) auf sich wirken lässt, wird erkennen können, dass diese Entwicklung in den letzten 200 Jahren den Betrachter sehr stark an eine Exponentialfunktion erinnert. Die Zuwächse wachsen dabei funktionsbedingt ihrerseits überproportional. Eine Exponentialfunktion in einem geschlossenen System Erde ist eine höchst problematische Entwicklung, weil das Systemelement ‚Mensch‘ in einem überproportionalen Maße zunimmt und alle anderen (notwendigen und wichtigen ) Elemente des Systems überwuchert und ihnen ihre Existenz streitig macht.

Wissenschaftliche Szenarien gehen davon aus, dass bei einer friedliche Entwicklung die Zunahme der Menschheit etwa bei 10 – 12 Milliarden Menschen deshalb endet, weil die Erde mehr Menschen nicht ernähren kann. Da nützt auch der Einsatz von Chemie nichts mehr, weil diese Zahl von Menschen soviel Lebensraum benötigt, dass kein ausreichender Platz für die notwendige Ernährung dieser Menschenmassen zur Verfügung stehen wird. Dabei ist die Voraussetzung der Friedfertigkeit schon eine sehr optimistische Annahme.

Nehmen wir die wissenschaftlichen Aussagen zur Klimakrise ernst, so wird unsere Ernährungsgrundlage künftig durch Hitze (Dürren), Starkregen und heftige Unwetter stärker in Frage gestellt als in den Jahrzehnten zuvor. Damit schrumpft auch die bewohnbare und landwirtschaftlich nutzbare Landfläche. Mit anderen Worten, der Mensch ist der Kern des Problems und nicht die Um- oder Mitwelt, die nur auf die Entwicklungen der Menschheit mit ihren evolutionär (seit Jahrtausenden) erprobten Strategien reagiert. Damit rückt die Frage, wie wir die exponentielle Entwicklung der Menschheit stoppen oder wenigstens bremsen können, in den Mittelpunkt des Geschehens.

Wie kann man sich eine Lösung vorstellen? Paul Raskin et al.3 haben 2002 versucht, für die ‚Große Transformation‘ sechs Szenarien zu entwickeln, wie sich die Veränderung vollziehen kann oder könnte. Die ‚konventionelle‘ Strategie („Weiter so“) folgt entweder dem marktorientierten Gedanken („der Markt wird es schon richten“) oder alternativ dem Weg, den Keynes vorgeschlagen hat („Markt kombiniert mit politischer Steuerung“) und letzterem sind wir zumindest nach den ersten Nachkriegsjahren unter dem Namen ‚Keynesianismus‘ ein Stück weit gefolgt. Das andere Ende der denkbaren Szenarien wird als ‚Verfall und Barbarei‘ umschrieben und umfasst die Alternativen einer ‚Welt als Festung‘ oder als kompletter ‚Zusammenbruch der Zivilisation‘. Der dritte Weg ist die Transformation und das ist der Weg, den Raskin und seine Kollegen anstreben, ausarbeiten und für realisierbar halten.

Die häufig anzutreffende Auffassung, dass die „Marktkräfte“ das Problem lösen werden, wird als ein Trugschluss beschrieben: „Die Zukunft der Marktkräfte würde unseren Nachfahren unter Umständen eine riskante Hinterlassenschaft bescheren. Das Szenario ist weder nachhaltig noch wünschenswert, denn auf diesem Entwicklungspfad liegen erhebliche ökologische und soziale Hindernisse. Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und der Raubbau an den Ressourcen erhöhen den Druck auf die Natur.

Die Umweltzerstörung würde fortschreiten, statt eingedämmt zu werden, und die Gefahr würde wachsen, dass kritische Schwellenwerte überschritten und Ereignisse ausgelöst werden, die das Klima und die Ökosysteme der Erde radikal verändern. Der wachsende Druck auf die Ressourcen wird sehr wahrscheinlich zu Verteilungskämpfen führen. Die Erdölförderung lässt irgendwann in den nächsten Jahrzehnten nach, die Preise für Rohöl werden dann in astronomische Höhen klettern und die Energiefrage ins Zentrum der Weltpolitik rücken. In manchen Regionen ist jetzt schon absehbar, dass um Süßwasserreserven innerhalb und zwischen Staaten Kriege geführt werden könnten.“4

Raskin et al. sprechen bei ihrem Thema einer großen Transformation auch das Bevölkerungswachstum und seine eventuellen Begrenzungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten an. „Die Bevölkerung wächst, die Besiedlungsdichte steigt, auch das Durchschnittsalter verschiebt sich. Nicht wenige Prognosen nehmen bis 2050 (aus der Perspektive von 2002 – VF) einen Anstieg der Weltbevölkerung um 50 Prozent an. Dann würden sich 3 Milliarden Menschen mehr als derzeit auf der Erde drängen, überwiegend in den Entwicklungsländern. Wenn der Trend zur Verstädterung anhält, werden 4 Milliarden Neubürger in die Ballungsräume ziehen und Infrastruktur, Umwelt und sozialen Frieden auf eine harte Probe stellen. Die sinkende Fruchtbarkeit lässt das Durchschnittsalter in den Industriestaaten wachsen. Die Transferleistungen an die Älteren werden die Erwerbstätigen massiv unter Druck setzen. Great Transition würde das Bevölkerungswachstum bremsen, die Landflucht abschwächen und nachhaltigere Siedlungsformen bevorzugen.“5

Sie greifen auch das Phänomen der Migration auf, das eine Folge des Bevölkerungswachstums darstellt und erhebliche Wirkungen auf den Prozess der Transformation haben wird. Konservative Kreise neigen dazu, die nationalen oder europäischen ‚Mauern‘ hochzuziehen und rutschen damit sehr rasch in die Folgen des Szenarios einer ‚Welt als Festung‘. Dieses Szenario fällt in die Kategorie ‚Verfall und Barbarei‘ und scheidet m.E. als Lösungsansatz aus:

„Bildet sich jedoch die Welt als Festung heraus, haben es einige Akteure verstanden, die unheilvollen Entwicklungen für einzelne Enklaven abzuwenden. Sie können ihre eigenen Interessen verteidigen und bilden Allianzen. In der Anwendung von Gewalt sehen sie ein notwendiges Mittel, um den Wohlstand, die Rohstoffquellen und die Regierbarkeit der jeweiligen politischen Einheit zu sichern. Die Eliten ziehen sich in schützende Enklaven zurück, meist in den Industriestaaten, vereinzelt aber auch in den Entwicklungsländern. Einzelheiten sind in der Erzählung Die Welt als Festung nachzulesen.“6

Die Begrenzung des künftigen Bevölkerungswachstums wird uns neben dem Umbau unserer Gesellschaften zur Nachhaltigkeit eine nahezu übermenschliche Anstrengung abverlangen. Wir haben uns humanitäre Regeln auferlegt, die es verlangen, alle Teile der menschlichen Spezies gleichberechtigt in die Entwicklung des Planeten mit einzubeziehen. Die Würde des Menschen ist nicht teilbar. Wir haben mehr als 200 Jahre einen Teil der Menschheit die Würde vorenthalten, um unseren Wohlstand zu schaffen. In einer vollen Welt rächt sich dieses Verhalten. Dieser vernachlässigte Teil der Weltbevölkerung schlägt uns (vermutlich unbewusst) mit der einzigen „Waffe“, über die sie verfügen: über Bevölkerungswachstum und damit wachsender Migration – sie treffen uns an unserem wunden Punkt. Die Erhaltung des Wohlstands könnte zur Debatte stehen.

Wenn die Infrastruktur einer Gesellschaft nicht sicherstellen kann, dass für Krankheit, Alter und soziale Probleme der Menschen gesorgt ist, bleibt als Alternative nur die Vergrößerung der individuellen Familie als Überlebensstrategie. Um die soziale Last auf möglichst viele Schultern zu verteilen, muss die Familie groß sein. (Die Ökonomie erfasst das Phänomen unter dem Begriff der Skaleneffekte.) Werden die Familien zu groß, wird die familiäre Ernährungslage kritisch, weil das Vermögen der Familien aus ökonomischen Gründen oft nicht mit gewachsen ist. Also werden die jüngeren Familienmitglieder versuchen, neue Wege zu gehen. Sie suchen eine ertragbare Alternative und übernehmen dabei ein sehr hohes Risiko. Diesen Sachverhalt nehmen die Industriestaaten dann als Migrationsdruck wahr ohne nach den Gründen für dieser Herausforderung zu fragen.

Um diesen Druck abzubauen, macht es wenig Sinn, eine ‚Festung‘ auszubauen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Grund für die Migration reduziert wird. Das kostet Investitionen, die wir initiieren müssen, um das Problem menschenwürdig zu lösen. Es könnte sehr gut sein, dass die Gelder, die wir hier einsetzen müssen, bei der ‚Großen Transformation‘ im eigenen Lande fehlen. Die Alternative ist die ‚Festung‘, die uns auch extra Kosten für Aufbau, Erhaltung und Verteidigung unserer ‚Festung‘ aufbürden werden, aber das Problem in keiner Weise löst.

„Die Veränderung von Werten und Gesellschaftspolitik im Zuge der Great Transition könnte den Bevölkerungszuwachs bis 2050 um 1 Milliarde Menschen verringern. Dafür wäre einerseits der Bedarf an Verhütungsmitteln zu decken und andererseits ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen später eine Familie gründen und vor allem weniger Kinder haben wollen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geburtenkontrolle und Ausbildung, insbesondere der Mädchen, sowie der Chance auf einen Arbeitsplatz. Um den Bevölkerungsanstieg wirksam zu dämpfen, muss sich das Schulsystem in den Entwicklungsländern verbessern.“7

Ob dieser verringerte Bevölkerungszuwachs ausreicht, um den Migrationsdruck zu reduzieren, ist abzuwarten. Wir haben auf diesem Gebiet m.E. keine wirklichen Erfahrungen. Ich würde den Schwerpunkt auf die Bildung, insbesondere der Frauen und Mädchen, legen, weil mit wachsender Bildung sich die Frage nach Verhütung automatisch ergibt. Aber – wie oben ausgeführt – muss darauf geachtet werden, dass eine ausreichende, gesellschaftlich akzeptierte Infrastruktur geschaffen wird, die den Druck zur Bildung großer Familien aufhebt und damit auch den Migrationsdruck auflöst, um zu versuchen, in anderen Teilen der Welt „sein Glück zu machen“.

Der größte Bevölkerungsdruck entsteht auf der Südhalbkugel. Aber auch in den Industriestaaten führt die Siedlungsdichte zu einer Reihe von nahezu unvermeidlichen Problemen. Einerseits wäschst der Raumbedarf des Individuum in Bezug auf Wohnraum, Parkraum für Pkw, Freizeitaktivitäten u. ä.. Die Versiegelung der Böden schreitet im Eiltempo voran. Die Städte fressen sich in ihr Umland und zerstören landwirtschaftlich notwendige Flächen und die Menschenzusammenballungen produzieren Lärm, Hektik und letztlich Stress, die der Gesundheit abträglich sind und die emotionale Reizschwelle vieler Menschen senken. Das Zusammenleben wird dadurch schwieriger, weil komplizierter. Und die Politik pflegt teilweise noch Werte und Ziele, die aus einer Zeit stammen, als die Welt nach deutlich „leerer“ war.
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1Vgl. germany@climatefresk.org oder www.climatefresk.org

2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbev%C3%B6lkerung (aufgerufen am 9.3.2024)

3Paul Raskin et al., Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, (dt. Übersetzung), 2002 (http://www.isoe-publikationen.de/publikationen/publikation-detail/?tx_refman_(März 2024))

4Paul Raskin et al., S.36

5Paul Raskin et al., S. 31

6Paul Raskin et al., S. 37 (dieses Narrativ ist lesenswert und öffnet eine erschreckende Perspektive, deren Eintrittswahrscheinlichkeit nicht von der Hand zu weisen ist.)

7Paul Raskin et al., S.68

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