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„Große“ Transformation – aber kleine Schritte?

Niko Paech hat nach meiner Erinnerung einmal in einem Interview auf die Frage, wie man in eine Postwachstumssituation kommt, (verkürzt) geantwortet: „by design oder by desaster“. Diese Antwort ist kein Entweder-Oder, sondern soll wohl die Bandbreite des Handelns beschreiben, ohne auf Details eingehen zu müssen.

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Es vergeht heute kein Tag, an dem nicht irgend welche Nachrichten über den Klimawandel verbreitet werden. Dabei wird immer deutlicher, dass unsere Art des Wirtschaftens einen der ganz großen Treiber des Problems darstellen. Konsequenter Weise würde man erwarten, dass sich die Wirtschaftswissenschaftler nur so drängeln, um ihren Beitrag zu diesem Vorwurf zu leisten. Aber Fehlanzeige – es herrscht bemerkenswerte Stille. Die Situation ist möglicherweise vergleichbar mit dem Bankencrash in 2008/2009. Plötzlich haben sich alle weggeduckt, weil das Problem kaum einer rechtzeitig erkannt hatte.

Heute ist das Problem m.E. noch größer, aber ich kann kaum einen prominenten Wirtschaftler erkennen, der sich dazu äußern mag. Könnte es sein, dass die bequeme Vorstellung einer Alternativlosigkeit zum gegenwärtigen Wirtschaften oder die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ vielen Damen und Herren der Wirtschaftswissenschaft den Atem genommen haben. Die von der Politik und von der Wissenschaft angestrebte Transformation macht aber deutlich, dass es tatsächlich Menschen gibt, die die Behauptung der Alternativlosigkeit nicht akzeptieren (wollen) und deshalb nach neuen Lösungen suchen – also sich mit Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaften befassen.

Es ist nachvollziehbar, dass niemand ein fertiges System aus dem Hut zaubern kann, aber es wäre doch wünschenswert, wenn die eine oder andere der Mainstream-Ökonomen seine weitgefasste Erfahrung nutzen könnte, zu erkennen, das in der Ökonomie etwas klemmt, wenn man nicht in der Lage ist, Lösungsvorschläge zur Diskussion zu stellen.

Bei der Suche nach Erklärungen für diese Wahrnehmung stieß ich auf die jüngste Ausgabe des Real-World-Economics-Review No. 106 (Dez. 2023)1, in dem sich eher heterodoxe Wissenschaftler bemühen, wirtschaftlich relevante Vorschläge zur klimapolitischen Situation der Wirtschaft zu unterbreiten. Erwarten Sie aber nicht zu viel, auch diese Damen und Herren kochen nur mit Wasser, aber sie sind in der Lage, über den Tellerrand der Ökonomie kreativ hinaus zublicken. Ich bin beim Lesen noch mittendrin und sehe mich außerstande, hier und heute eine Meinung abzugeben, weil ich manches noch nicht so verstanden habe, wie ich es mir wünschen würde.

Einen Aspekt, bei dem ich aussteigen musste, war Jamie Morgens2 Beitrag „Against the clock: Economics 101 and the concept of time“. Es ist mir klar, dass das Zeitkonzept der Ökonomie aus einer Zeit stammt, als in der Physik noch ausschließlich Newton’sche Mechanik gelehrt wurde. Mir ist auch klar, dass es in diesem Weltbild keine zeitlichen Verschiebungen zwischen Ursache und Wirkung gibt. Aber die Darstellung von Jamie Morgan mit einer logischen Zeit und einer historischen Zeit setzt ein Verständnis voraus, über das ich (noch) nicht verfüge. Und der Artikel ist für mich zu dicht und zu abstrakt, um zu verstehen, was konkret gemeint ist.

Es ist nachvollziehbar, dass die Ökonomie keinerlei Sensorium besitzt, um Ursachen und Wirkungen zu verknüpfen, wenn dazwischen, wie z.B. in der Ökologie, Monate oder gar Jahre liegen können. Alle Ereignisse, deren Zusammenhänge im Allgemeinen die Kurzfristigkeit überfordern, sind in der Ökonomie nicht zu behandeln. Als Folge sind langfristige Entwicklungen zwar ggfs. rückblickend beschreibbar, aber nicht begründbar.

Ein ergänzender Gesichtspunkt ergibt sich insoweit, dass dann, wenn zwischen Ursache und Wirkung Zeit verstreicht, die Aussage über anzustrebende Gleichgewichtszustände wenig sinnvoll erscheint. Die Ökologie, die hier einen anderen Ansatz verfolgt, geht davon aus, dass ein Gleichgewicht die Ausnahme und in komplexen Systemen ein permanentes Ungleichgewicht durchaus als normal anzusehen ist.

Andri Werner Stahel, Brasilien3 ist Spezialist für Aristoteles und beschäftigt sich demzufolge mit kluger Haushaltsführung (Oikonomie) und der Chrematistik (Lehre vom Reichtums). Dabei macht er deutlich, dass schon im Altertum zwischen Gebrauchswert und Tauschwert unterschieden wurde. Chrematistik funktioniert – vereinfacht gesagt – nur in einer Welt, die sich dem Tauschwert verschrieben hat. Dabei ist der Tauschwert jener Wert, den ein Geschäftspartner akzeptiert, wenn er davon ausgeht, dass er das Gut erwirbt, um es weiter zu verkaufen. Dem gegenüber ist der Gebrauchswert ein quasi ‚finaler‘ Wert, der sich durch den Gebrauch oder auch Verbrauch des Wirtschaftsgutes für den Erwerber darstellen lässt.

Es wird m.E. verständlich, dass sich die Motivationen deutlich unterscheiden, wenn es darum geht, ein Wirtschaftsgut zu erwerben. Der Tauschwert ist der Wert des (Zwischen-) Händlers und der Gebrauchswert ist der Wertansatz des Endverbrauchers. Dazwischen klafft eine Lücke, die Aristoteles damit erklärt hat, dass mit dem Gebrauchswert eine kluge, eventuell vorsichtige Haushaltsführung verbunden ist und nur im Falle des Tauschwertansatzes Chrematistik möglich ist.

Wenn wir uns dem Vater der modernen Ökonomie, Adam Smith, zuwenden, so können wir feststellen, dass ‚Papa‘ Smith seine Aussagen zur modernen Ökonomie auf der Basis von Gebrauchswerten gemacht hat. Von Tauschwerten war m.E. in seinen Ausführungen zum Markt nicht die Rede. Die Welt, in der Adam Smith lebte, war noch eine landwirtschaftlich geprägte Handwerker-Gesellschaft, in der man Gebrauchsgegenstände herstellte, für die es in der Vorstellung der damaligen Zeit keine Zwischenhändler, Einzelhändler u.ä. existierten. Unsere heutige Ökonomie hat diesen ‚feinen‘ Unterschied einfach übersehen oder bewusst vernachlässigt und behauptet seit vielen Jahrzehnten, dass auf dem Markt lt. Adam Smith natürlich nur der Tauschwert zum Tragen kommt. Ob bei der Verwendung des Gebrauchswertes auch die viel zitierte „unsichtbare Hand“ (im Sinne des Herrn Smith) in unserem heutigen Sinne zum Tragen kommen könnte, erscheint fraglich.

Im Kern interessiert uns hier die Frage, was würde sich in unserem Wirtschaftssystem ändern, wenn wir statt des dominanten Tauschwertes die Idee des Gebrauchswertes verstärkt aufgreifen würden. Wenn ich ehrlich bin, fällt mir die Vorstellung schwer. In jenen Zeiten, in denen Aristoteles die Unterscheidung getroffen hat, herrschte noch in vielen Bereichen Subsistenzwirtschaft (man baute selbst an). Unter diesen Umständen hatte der Gebrauchswert eine große Bedeutung und der Tauschwert war auf eine relativ kleine Gruppe von Handel treibenden Individuen beschränkt. Heute können wir davon ausgehen, dass die Subsistenz in einem nur sehr geringen Umfang wahrgenommen wird und der Tauschwert weite Teile der Wirtschaft dominiert. Es wird aber leicht vergessen, dass die letzte Wertentscheidung beim Endverbraucher i.d.R. nicht nach dem Tauschwert erfolgt, sondern i.a.R. über die Frage entschieden wird, ob das zu erwerbende Wirtschaftsgut für den geplanten Gebrauch Verwendung finden kann und sein Gebrauchswert den individuellen Vorstellungen von Qualität und Technik entspricht.

Damit wird deutlich, dass der Tauschwert primär ein rein monetärer Wert ist, indem das Gut in der Erwartung gekauft wird, dass es im Wesentlichen unverändert mit einem monetären Aufschlag (Marge) weiterverkauft werden kann. Die Qualität oder ähnliche Überlegungen spielen dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle, solange deswegen der Wiederverkauf nicht generell in Frage steht.

Der Gebrauchswert ist deutlich individueller und auch komplexer zu begründen. Neben der schlichten monetären Frage (Ist das Produkt mir den Preis wert? Kann oder will ich mir den Preis leisten?) ergeben sich im Sinne einer ‚klugen Haushaltsführung‘ Fragen der Qualität und einer angemessenen Technologie. Diese Aspekte sollten die Kaufentscheidung zusammen mit dem Preis auf ‚Augenhöhe‘ beeinflussen. Das ist aber nicht die Motivation des Händlers. Dessen primäres Interesse reduziert sich i.d.R. auf die angestrebte Marge. Der Tauschwert ist heute in aller Munde und wird kritiklos übernommen. Dabei wird übersehen, dass der Tauschwert ausschließlich das Interesse der Verkäuferseite darstellt.

Der Tauschwert wird von der Verkaufsseite in den Raum gestellt, vielfach mit einem großen Rabatt-Getöse, um zu demonstrieren, dass man dem Konsumenten große Zugeständnisse macht und den meisten Endkonsumenten ist nicht klar, dass ihr ureigenes Interesse nur durch den Gebrauchswert repräsentiert wird. Der Gebrauchswert tritt aber erst dann in die Aufmerksamkeit der Konsumenten, wenn der (Tausch-)Preis des Gutes die Einkommenssituation ernsthaft berührt, wenn also die Frage auftaucht, kann oder will man sich dieses Gut leisten und auf was muss durch die Kaufentscheidung alternativ verzichtet werden.

Wo besteht zwischen Tauschwert und Gebrauchswert der innere Zusammenhang? Einfach dargestellt wächst der Tauschwert mit jeder hinzukommenden Handelsstufe, weil jede Stufe mit ihrer Marge am Erfolg des Wirtschaftsgutes beteiligt sein will: Der Produzent gibt das Wirtschaftsgut zu Herstellungskosten plus Marge an den Großhandel, von dort geht das Gut zuzüglich Marge an den Einzelhandel und wird dann wieder zuzüglich der Marge dem Endkonsumenten angeboten. Der Angebotspreis entspricht dem gewünschten Tauschwert.

Wenn der Tauschwert nun die vom Gebrauchswert geprägten Preiserwartungen des Endkunden übersteigt, haben die Anbieter ein ernstzunehmendes Problem. Ihre Ware ist in diesem Fall zu dem gewünschten Tauschwert nicht verkäuflich. Und hier treffen sich Tauschwert und Gebrauchswert. Der Gebrauchswert ist der Wert, den der Endkunde zu zahlen bereit ist. Er definiert die maximal mögliche Höhe des Tauschwertes, vorausgesetzt der Endkunde begreift, wie wichtig seine individuelle Wertentwicklung und Wertentscheidung für ihn ist.

Und hier liegt der Knackpunkt! Die Angebotsseite versucht mit allen (lauteren und unlauteren) Mitteln, den Konsumenten so einzulullen, dass er diese klare Kante nicht wahrnimmt und sich lieber von den Versprechungen der Werbung und des Marketing überwältigen lässt und auf seine Rechte als Konsument freiwillig verzichtet. Nur dann, wenn der Konsument seinen Gebrauchswert kennt und konsequent einfordert, kann man davon sprechen, dass der Kunde „König“ ist. Das bedeutet aber stramme intellektuelle Arbeit!

Viele Konsumenten glauben in den Zeiten des Internets, wenn man viele Preise verglichen hat, dass man dann ein günstigstes Angebot identifizieren kann und vergisst dabei, dass es sich bei den Angebotspreisen regelmäßig nur um Tauschwerte handelt. Der Prozess muss von Seiten des Konsumenten anders herumlaufen: Man muss sich fragen, wie will ich das Produkt verwenden? Welche Qualitäten oder welche sonstigen Eigenschaften sollte deshalb das Produkt haben? Welche Lebensdauer darf ich erwarten? Welche Fristen bestehen für die Gewährleistung? Welche Reparaturgarantien bestehen? Wenn die meisten der Fragen klar beantwortet werden können, dann kommt die Frage nach dem Gebrauchswert, der dann in einem letzten Schritt zu einer abgewogenen Preiserwartung führen wird. Und mit dieser Erkenntnis kann man dann die Tauschwertangebote hinsichtlich ihrer Vorteilhaftigkeit aus der Sicht des Endkunden sinnvoll überprüfen.

Was soll nun diese Darstellung? Alle Welt sucht nach Ansatzpunkten, an denen man eine notwendige Transformation ins Rollen bringen könnte. Den einen ultimativen Triggerpunkt, der die Sache mit einem intelligenten Federstrich erledigen könnte, wird es nicht geben. Also sollte man nicht nach dem großen Wurf Ausschau halten, sondern sich eher auf viele kleinere Schritte einstellen.

Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem wird vom Tauschwert dominiert. Hier einen Wechsel zum Gebrauchswert anzustreben, ist realistisch nicht durchführbar. Die gegenwärtige Fixierung auf den Tauschwert macht die heftige Kapitalkumulation (das Thema der klassischen Chrematistik) erst möglich. Dabei wird alles getan, damit der Endverbraucher nicht auf die Idee kommt, seine ureigensten Interessen im Rahmen der Entwicklung eines Gebrauchswertes offensiv zu vertreten. Die Mehrzahl der Konsumenten folgt den Versprechungen der Anbieter, ohne sich frei mit einer eigenen Meinung an dem ‚Spiel‘ zu beteiligen. Eine Stärkung des Verständnisses der Bedeutung des Gebrauchswertes könnte u.a. wieder qualitative und metabolische4 Gesichtspunkte in die Diskussion einführen.

Es liegt nicht im Interesse des Verbrauchers, billig zu konsumieren, wie das heute oft propagiert wird – weil bei dem billigen Angebot in aller Regel die Nutzungszeit und die Gewährleistung ausgeblendet werden. Billig erhöht nur den Durchsatz zum Nachteil des Konsumenten, der dann in kurzen Abständen wieder konsumieren muss (Stichwort: Fast Fashion). „Ich verdiene nicht genug, um billig einzukaufen!“ Das Ziel des Konsumenten muss es sein, ein ‚preiswertes‘ oder ‚preiswürdiges‘ Angebot zu nutzen. Dazu muss er aber seine Vorstellung des jeweiligen Gebrauchswertes kennen und vertreten können.

Abschließend könnte man sich auch künftig ein Fach ‚Haushaltsführung‘ in den Schulen vorstellen, in dem die Bedeutung des Gebrauchswertes im Gegensatz zum Tauschwert für den Konsumenten vermittelt wird. Denn wir sind irgendwie alle Konsumenten!
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1Real-World-Economics Review (RWE) No. 106 (Im Internat gibt es einen kostenlosen Download in englischer Sprache) Thema der Ausgabe ist „How can we construct an economics consistent with the biophysical limits to economic growth?“ mit vielen unterschiedlichen Beiträgen

2Jamie Morgan, Against the clock: Economics 101 and the concept of time, In: RWE 106, S. 78 ff.

3Andri Werner Stahel, Oikonomics and the limits to growth, in: RWE No 106, S. 27ff.

4Eine metabolische Betrachtungsweise geht weg von der ökonomischen Betrachtung, die auf den Preis fixiert ist. In der metabolischen Perspektive spielt es eine Rolle, welche Stoffe, in welchen Mengen, wie und mit welchen Mitteln verarbeitet werden oder wurden.

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