Schlagwort-Archive: Mainstream Ökonomie

Ökonomie ohne Biosphäre – geht das?

Es ist mir schon seit längerem klar, dass mit der Ökonomie etwas nicht stimmen kann. Dieses diffuse Gefühl lässt sich nicht so einfach in überzeugende Argumente umsetzen . Insbesondere wundert mich seit einigen Jahren, dass die Ökonomie so gut wie keine Beiträge zur Problematik der Klimakrise bereithält bzw. keine Lösungen vorschlägt, die nicht in der festgefahrenen „Rille“ der Mainstream-Ökonomie verharrt.

» weiterlesen

Bei der Suche nach Beiträgen, die mein Gefühl bestätigen bzw. dieses Gefühl in gute Argumente verwandeln könnte, bin ich auf die Besprechung eines Buches1 gestoßen, das diese Erwartungen wohl erfüllen könnte. Das Buch selber ist mir leider nicht verfügbar, aber die Rezension2 durch Shimshon Bichler und Johnatan Nitzan, beide Referenten an Universitäten von Israel und Kanada, ist so treffend, dass man auch über die Rezension genügend Einblicke erhält, um sie einem interessierten Publikum vorzustellen.

Steve Keen’s Buch bietet eine gut begründete Kritik der herrschenden Makroökonomie. Aus Keen’s Sicht stellt der dort verbreitete Neoklassizismus eine große Gefahr dar:

„Ich betrachte die neoklassische Ökonomie nicht nur als eine schlechte Methodologie zur wirtschaftlichen Analyse, sondern auch als eine existenzielle Bedrohung für die Fortführung des Kapitalismus – und der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen.“(S. 155, eigene Übersetzung)

Das Buch von Steve Keen ist auf drei Schlüsselfragen hin ausgerichtet:

1. auf die bizarre neoklassische Perspektive, warum Geld, Kredit und Schulden keine Bedeutung für die Makroökonomie besitzen,

2. auf die Behauptung der Neoklassik, warum die komplexen, nicht linearen Turbulenzen des Wirtschaftssystems am besten durch lineare Gleichgewichtsbegriffe erklärbar sind, und

3. die Tatsache, warum die Neoklassiker die Ökonomie des Klimawandels an sich gerissen haben, indem sie mit offenkundig falschen Annahmen eine Politik des Nichtstuns rechtfertigen mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft.

Der Punkt 3 hat mich veranlasst, diesen Teil der Rezension ins Deutsche zu übersetzen:

Der letzte wichtige Punkt auf Keen’s Reise ist, dass die neoklassische Wirtschaftswissenschaft von der Natur abstrahiert (in der neoklassischen Standardproduktionsfunktion gibt es keine Energiezufuhr oder Verschwendung), und dass diese Abstraktion nicht nur theoretisch irreführend, sondern auch sehr gefährlich für den Kapitalismus ist, ebenso wie für die Menschheit und das Leben auf dem Planeten im Allgemeinen.

Wenn die Wirtschaft weiterhin so schnell wächst wie im vergangenen Jahrhundert, nämlich mit etwa 2,3 Prozent jährlich, wird die Menschheit in etwa 1.400 Jahren die gesamte von der Sonne ausgestrahlte Energie benötigen, und in etwa 2.500 Jahren die gesamte von der Milchstraße erzeugte Energie – das heißt, vorausgesetzt, wir rösten uns nicht schon viel früher3 (Murphy 2021: Tabelle 1.3, p. 9).

Und wir werden uns rösten. In etwas mehr als 400 Jahren, selbst ohne Berücksichtigung der globalen Erwärmung, werden die Energieabfälle der menschlichen Industrie die Durchschnittstemperatur auf 100 Grad Celsius ansteigen lassen, also auf den Siedepunkt von Wasser – obwohl die Welt bis dahin unbewohnbar geworden ist (ebd., Tabelle 1.4, S. 12).

Die Neoklassizisten sehen das allerdings nicht so. Für diejenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, ist der Klimawandel eigentlich kein Thema. Selbst wenn er eintritt, argumentieren sie, werden seine Auswirkungen auf die Wirtschaft vernachlässigbar sein. Nach einer von Keen zitierten Konsensschätzung wird ein globaler Anstieg von 3 Grad Celsius bis 2090 das jährliche BIP-Wachstum um winzige 0,015 Prozent verringern. Mit anderen Worten, die Menschheit ist sicher, wenn sie nichts dagegen unternimmt.

Das Problem mit diesen leichtfertigen Vorhersagen und politischen Empfehlungen zum Nichtstun, so Keen, ist, dass sie unbegründet sind. Sie sind nicht nur sinnlos, sondern widersprechen auch dem Konsens, dass der Klimawandel weite Teile der Welt unbewohnbar machen und gleichzeitig die Vegetation und andere Lebensformen unterminiert. Woher kommt also diese tiefe Kluft zwischen den „zwei Kulturen“? Für Keen ist der Ursprung Milton Friedman, der seine Kollegen aus der Neoklassik davon überzeugte, dass in der Wissenschaft Annahmen keine Rolle spielen. Sie können annehmen, was sie wollen. Das Einzige, was zählt, sind ihre Vorhersagen.

Und genau auf diese Weise modellieren die Neoklassiker ihre Welt. Sie beginnen mit der Beobachtung, dass die Temperaturen auf den Planeten in einem bestimmten Bereich liegen. Zur Veranschaulichung: Der Unterschied zwischen dem kalten Kanada und dem heißen Burkina Faso beträgt fast 34 Grad Celsius. Und da dieser große Querschnittunterschied tolerierbar ist, muss auch ein zeitlicher Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur tolerierbar sein, insbesondere wenn dieser Anstieg nur wenige Grad Celsius beträgt. Das Problem ist, so Keen, dass Querschnittunterschiede in den Temperaturen nichts mit zeitliche Veränderungen im Klima der gesamten Planeten zu tun haben. Und es gibt noch mehr. Da Annahmen keine Rolle spielen, ignorieren die Neoklassiker den Anstieg der „Feuchtkugeltemperaturen“, vor dem Wissenschaftler warnen, der große Teile der Welt tödlich treffen wird.

Sie ignorieren auch die Veränderungen der atmosphärischen und der Meeresströmungen, die die Klimamuster auf der ganzen Welt radikal verändern könnten. Und, am wichtigsten, sie ignorieren vor allem aber die zahlreichen Kipp-Punkte des Klimas, vor denen Wissenschaftler warnen, ebenso wie die Möglichkeit einer „Kippkaskade“, die den Klimawandel um ein Vielfaches verstärken könnte.

Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Die Neoklassiker vernachlässigen in ihren Arbeiten die sozio-politischen Unruhen, die beginnen werden, lange bevor die Auswirkungen dieser natürlichen Prozesse voll zum Tragen kommen. Und sie schweigen völlig über die Finanzmärkte, deren vorausschauende Antizipation dieser Veränderungen die Welt erschüttern könnten, bevor die materiellen und sozialen Folgen zum Tragen kommen.

Für die Neoklassiker ist es vernünftig, von diesen Bedingungen abzusehen. Schließlich liegt ihre Hauptaufgabe nicht in der Suche nach der Wahrheit, sondern in der Verteidigung des Kapitalismus. Und da die meisten Wissenschaftler überzeugt sind, dass der Kapitalismus den Planeten erwärmt, lautet die neoklassische Antwort, dass diese Erwärmung unbedeutend ist.

Und genau hier sieht Keen einen bittersüßen Hoffnungsschimmer. Seiner Ansicht nach werden sich die rosigen neoklassischen Klimavorhersagen als völlig falsch erweisen; die Schwere dieses Fehlschlags wird dazu beitragen, die betrügerischen Grundlagen des neoklassischen Dogmas zu entlarven; und diese Entlarvung wird die Tür zu einer „neuen Ökonomie“ öffnen, in der Annahmen eine Rolle spielen und in der Geld, Komplexität und Natur ernst genommen werden. Hoffentlich überleben wir, um das zu erleben.“

Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen.

1Keen, Steve, The New Economics: A Manifesto, (2021) Cambridge, U.K.

2 Real-World Economics Review No. 102, 2022, S. 161 f.)

3Murphy, Tom W. Jr. 2021. Energy and Human Ambitions on a Finite Planet. Assessing and Adapting to Planetary Limits: eScholarship, University of California.

» weniger zeigen