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Warum mäßigen?

Mit Freunden diskutierten wir die Frage der Mäßigung unserer Ansprüche angesichts der Klimaproblematik. Wir wurden über die gegenwärtige Auffassung verschiedener Maßnahmen in Politik und Gesellschaft nicht einig. Die Älteren unter uns hatten dabei mit einer Aufforderung zur Mäßigung weniger Probleme, während die Gesprächsteilnehmer der jüngeren Generation sich durch den Begriff offensichtlich viel stärker eingeschränkt fühlt. Deshalb kam aus ihren Reihen auch die provokante Frage: „Warum mäßigen?“

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Dabei gab es zwei unterschiedliche Ansichten: die einen beschrieben den Lösungsraum zur Klimapolitik aus der technologischen Perspektive und sind der Überzeugung, dass die anstehende Klimaproblematik mit künftiger Technologie beherrschbar sei. Die andere Ansicht gab zu bedenken, dass die heutige Problematik doch gerade durch eine fragwürdige Anwendung von Technologie entstanden sei und ein weiterhin blindes Vertrauen in die technologische Entwicklung die anstehenden Probleme nur verschärfe. Die „Technologen“ hoffen optimistisch auf einen zukünftigen Durchbruch in der Technik und die „Fraktion der Skeptiker“ ist der Auffassung, dass so etwas wie Mäßigung ein pragmatischer Ansatz ist, keinen unbegründeten Optimismus zur Voraussetzung hat und die Maßnahmen sofort verfügbar wären. Sie bietet zudem die Chance, den sich ständig aufbauenden Zeitdruck aus der Diskussion zu nehmen.

Als Problem bleibt, dass mit Mäßigung ein Zurücknehmen gewisser Ansprüche unvermeidlich erscheint, und diese Rücknahme vielen Menschen der ‚modernen‘ Gesellschaft als politisch unzumutbar gilt. Dabei ist Mäßigung ein uraltes Prinzip und hat sich weltweit im Zeitlauf schon tausendfach bewährt.

Dabei gibt es m.E. zwei Ansätze, sich mit dem Thema auseinander zu setzen: Einmal kann man die Mäßigung aus der Ideen-Geschichte heraus entwickeln und zum anderen kann man sich fragen, was den ‚modernen‘ Menschen von den Menschen unterscheidet, die bis in die jüngere Vergangenheit die Fähigkeit zur Mäßigung als Bestandteil einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung verstanden haben.

Was könnte mit Mäßigung denn gemeint sein? Als ‚Mäßigung‘ gilt die Fähigkeit, Maß zu halten. Es bedeutet Übertreibungen oder Extreme zu vermeiden, heißt Gier und Getriebensein, Emotionalität und Erregung als Ausdrucksformen mangelnder Selbstbeherrschung im Zaum zu halten. Mäßigung erfordert Zurückhaltung und Zügelung der eigenen Person1. Dabei sollten wir nicht übersehen, dass der ‚moderne‘ Mensch in der Mäßigung auch ein Moment des Verzichtes erkennen will. Und Verzicht gilt ihm als eine Zumutung.

Aber zuerst ein paar Überlegungen zur Ideen-Geschichte der Mäßigung. Die Mäßigung ist Teil aller mir bekannten Philosophie-und Religions-Systeme: Die Griechen, die Inder, die Chinesen und die Japaner kennen diesen Begriff und haben ihm in ihrem Denken eine große Bedeutung zugemessen, weil die Lebenspraxis über die Jahrtausende zeigte, dass es ein auskömmliches und friedvolles Zusammenleben nur dann geben kann, wenn sich alle Beteiligten ‚mäßigen‘, sich also ein Stück weit zurücknehmen und sich in Rücksicht üben können. Das fliegt den Menschen nicht zu, das muss man üben!

Die Griechen pflegten zu Platons Zeiten ihr Weltbild über die vier Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit (Mut) und Besonnenheit. Die Gerechtigkeit war der umfassendere Begriff, weil Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit ohne Gerechtigkeit wenig sinnvoll erscheinen. Mäßigung ist bei den alten Griechen Teil der Besonnenheit. Besonnen handeln kann man nur, wenn man sich auch zurücknehmen kann.

Die griechische Perspektive wurde dann in Europa von der römisch-katholischen Kirche weitgehend übernommen. Da man dort dem (heidnischen) griechischen Denken nicht unmittelbar Referenz erweisen wollte, hat die Kirche für ihre Gläubigen die sieben Todsünden geschaffen, deren Vermeidung einen Weg zur religiösen Glückseligkeit anbot. Diese Lebensregeln galten neben der griechischen Klassik und bestärkten sich wechselseitig und waren Jahrhunderte lang meist uneingeschränkt eine allgemein gültige moralische Leitlinie.

Erst die Aufklärung konnte die religiös-moralische Bevormundung abschütteln und durch eine deutlich individuellere Sicht ersetzt: „Handle so, dass die Maxime Deines Handelns Grundlage für ein allgemein gültiges Gesetz sein könnte“ (Immanuel Kant). Die Mäßigung liegt darin, dass egoistische Elemente wenig Chancen haben, weil sie so weit entschärft werden müssen, dass ein allgemein gültiges Gesetz darauf begründet werden kann. Neben dem darin enthaltenen Moment der Mäßigung wurde aber auch das Individuum darin bestärkt, seine jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Es wird auch deutlich, dass Mäßigen einen nur individuell realisierbaren Wert darstellt. Dass sich eine Gesellschaft ‚mäßigt‘, erscheint als ein Widerspruch. Zur Mäßigung kann man zwar auffordern, aber mäßigen muss sich der Einzelne aus eigenem Antrieb heraus.

Dabei stellt sich die Frage, ob unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld, in dem wir uns heute bewegen, diese oben beschriebene Sichtweise (noch) unterstützt? Sehen wir uns als Teil eines Ganzen oder hat der sogenannte ‚Massenindividualismus2‘ eine Haltung hervorgebracht, in der Mäßigung nur dann denkbar ist, wenn wir durch machtvolle äußere Umstände dazu gezwungen werden (z.B. Katastrophen u.ä.). Das intrinsische Moment scheint eher zu verkümmern.

In der Nachkriegszeit sind wir dem Narrativ der Leistungsgesellschaft gefolgt. Heute hat sich das Narrativ verändert. Leistung bleibt notwendige Voraussetzung, aber wir haben den ‚Erfolg‘ als neue Zielgröße definiert. Nicht die Leistung zählt, sondern allein der Erfolg. Das ist heute der Ausdruck von Individualität und wir sind bereit, dem ‚Erfolgreichen‘ manche „Verrücktheit“ zu verzeihen. ‚Erfolg haben wollen‘ und ‚Mäßigung fordern‘ sind wohl eher Gegensätze als dass man Gemeinsamkeiten entdecken könnte.

Waren die „Alten“ einfach blind, den großen Vorteil des „Erfolges“ nicht zu erkennen? Erfolg haben stellt ein singuläres Geschehen dar, vergleichbar mit dem Glück, das einem Menschen widerfährt. Erfolg nutzt sich schnell ab. Erfolg ist so etwas wie ein Superlativ, der ständig übertroffen werden will. Wie lange hält der Mensch den Superlativ aus, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen?

Erfolg macht süchtig (oder abhängig) und einsam. Der Erfolg wird zwar gerne einem Individuum zugeschrieben, aber der Erfolg hat regelmäßig viele Väter, letztlich braucht er auch glückliche Umstände. Wer Erfolg hatte, sollte sich glücklich schätzen und sich dahin gehend mäßigen, als er erkennt, dass Erfolg nicht unbedingt wiederholbar ist. Die Umstände sind nicht immer günstig. Wer diese Ansicht für falsch hält, den darf ich an die ‚erfolgreichen‘ Manager erinnern, die zum Sprung an die Spitze angesetzt haben, das Unternehmen wechselten, dabei neue Umstände vorfinden und mit einer anderen ‚Kultur‘ konfrontiert werden, und sie müssen plötzlich für sich feststellen: „The Thrill is Gone“ (B. B. King).

Die Sinnhaftigkeit der Mäßigung kann man auch aus einer anderen Perspektive zu erfassen versuchen. Wir betreiben die Geschäfte heute auf unserem Planeten aus der anthropozentrischen Sicht. Diese Sichtweise kann man verkürzt mit der alt-testamentarischen Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan“ umschreiben. Dabei ist diese Aufforderung etwa vier- bis fünftausend Jahre alt und wird regelmäßig aufgrund der Zeitbezüge falsch interpretiert. Die nächstliegende Interpretation ist die kriegerische Intention einer Eroberung. Ich glaube, viele Herrscher haben die Aussage in diesem Sinne verstanden und haben auch so gehandelt. Als Folge zieht sich eine Blutspur durch die menschliche Geschichte. Aber man kann die Aussage auch anders interpretieren.

Die Aufforderung war in einer relativ „leeren“ Welt an eine Spezies der Biosphäre gerichtet, die sich zwar durch Intelligenz auszeichnete, aber zu jener Zeit über keine nennenswerten zivilen Technologien verfügte, um diese Aufforderung tatsächlich realisieren zu können. Wer es sich leisten konnte, verfügte über Sklaven, die erst dann als wirtschaftliches Mittel zur Herrschaft aufgegeben wurden, als man erkennen musste, dass die Produktivität von Technik und von (schlecht) bezahlten Arbeitskräften der Produktivität von Sklaven haushoch überlegen war. Dieser Vorgang entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert, als die Sklavenhaltung aus Renditegründen aufgegeben und dieser Entwicklung ein humanitäres Mäntelchen umgehängt wurde3, indem man die Sklaverei letztlich verbot als sie für die damalige Wirtschaft ihre Bedeutung längst verloren hatte.

Mit dem Niedergang der Sklavenhalterei entwickelte sich die Technologie rasant. Der ehemalig menschliche Sklave wurde durch effiziente und viel anspruchslosere „Energiesklaven“ (Maschinen) ersetzt. Der Energiebedarf nahm dabei gewaltig zu und wurde (nicht wie zuvor) durch die Verwendung von Holz, sondern glücklicherweise durch den wachsenden Einsatz von fossilen Brennstoffen (Steinkohle, Öl, Gas) befriedigt. Diese eher zufällige Veränderung hat der Abholzung der Wälder glücklicherweise Einhalt geboten, sonst wäre die technologische Entwicklung aufgrund offensichtlich werdender großer Umweltschäden in dieser Form wohl kaum möglich gewesen.

Mit anderen Worten: Die fragwürdige Realisierung der alt-testamentarischen Forderung , sich „die Erde untertan machen“ zu wollen, wird in seinen zivilen Voraussetzungen mit der Entwicklung der erforderlichen Technologie erst seit etwa 200 Jahren erfüllt, gepaart mit einem parallel entstehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem, deren Wachstumsideologie den Prozessen die notwendige Dynamik vermittelt.

Die Wachstumsideologie gepaart mit den Erfolgen der technischen Industrialisierung führte u.a. dazu, dass vieles, was in der Vergangenheit als unmöglich galt, realisiert werden konnte. Waren die unkalkulierbaren Einflüsse der Biosphäre in den Jahrhunderten zuvor der große Unsicherheitsfaktor, so hat die Technologie diese Abhängigkeit des Menschen auf vielen Gebieten scheinbar stark reduzieren können. Als Folge haben wir die notwendige Verbindung zu unseren Lebensgrundlagen Schritt für Schritt verloren und die Konsequenzen des Bindungsverlustes werden in der Gegenwart im Rahmen der „Klimakrise“ realisiert und beschrieben.

Es wird deutlich, dass unser technikverliebter Ansatz ohne Frage eine Reihe von Vorteilen vermitteln konnte. Er macht aber auch deutlich, dass unser Narrativ zur Technologie wesentliche Defizite bzw. blinde Flecken aufweist, und uns einen Schein von Sicherheit vermittelt, die unseren dominanten Technikansatz für die Zukunft in Frage stellen.

Seit etwa 70 Jahren hat sich m.E. ein neuer Denk-Ansatz schrittweise durchgesetzt, der unter dem Namen ‚Systemtheorie‘ läuft und eine Metatheorie bereit hält, die in der Lage ist, die Detailversessenheit des klassischen Ursache-Wirkungs-Ansatzes zu reduzieren und einen eher ganzheitlichen Blick auf die handlungsrelevanten Zusammenhänge zulässt.

Der Systemansatz unterscheidet sich grundlegend von dem gegenwärtig gepflegten anthropozentrischen Ansatz. Letzterer ist eine Realisierung der Aufforderung: „Macht Euch die Erde untertan, denn ihr seid die Krone der Schöpfung“. Das klingt religiös und das ist es wohl auch von seiner monotheistischen Grundlage her. Aber das zu beobachtende Verhalten hat vielleicht seinen Auslöser im religiösen Raum, aber der Umsetzung fehlt jedes religiöse Moment – hier herrscht schlicht Machtausübung: Was dem Menschen nutzt und als Ertrag Geld generiert, gilt zunehmend in den letzten 200 Jahren als gut und richtig. Die möglichen Gesichtspunkte anderer Beteiligter, die unter der Bezeichnung Umwelt oder Mitwelt oder externe Effekte laufen, gelten für den ‚Erfolg‘ als weitgehend irrelevant.

Der Systemansatz stellt das Leben (oder Überleben) eines Systems (z.B. die Biosphäre) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Mensch und seine Mitwelten (als sogenannte Subsysteme) werden als gleichberechtigte Elemente des Systems der Biosphäre verstanden. Und für sie gilt es, das System der Biosphäre funktionsfähig zu halten. Die Funktion dieses ‚Makrosystems‘ liegt darin, das ‚Überleben‘ (die Erhaltung) des Systems und seiner Elemente sicherzustellen und seine weitere Entwicklung (Entfaltung) zu fördern. Allein die Tatsache, dass dieser Ansatz den Menschen (bisher die ‚Krone der Schöpfung‘) und seine Mitwelten auf eine Ebene stellt, ist aus der Sicht des alten Verständnisses der Rolle des Menschen in der Welt eine herbe Zurücksetzung. Es geht nicht mehr darum, dass der Mensch einen Ausgleich nur unter seinesgleichen finden muss; er muss sich auf Augenhöhe auch noch mit den Ansprüchen seiner Mitwelt auseinander setzen. Das wäre m.E. ein noch nie dagewesener Akt der Mäßigung, zumindest für die westliche Sicht auf die Welt. Dabei muss das System der Biosphäre erhalten bleiben und sollte sich auch entfalten können.

Das besondere Problem liegt dabei in der Verantwortung. Keine Spezies der Biosphäre ist technisch und mental in der Lage, so massiv auf die Biosphäre Einfluss zu nehmen wie der Mensch. Mit seiner Einflussfähigkeit wächst auch seine Verantwortung. Einige sprechen hierbei auch von Solidarität, die der Mensch im eigenen Interesse für die anderen Spezien der Biosphäre aufzubringen habe.

Wir haben die Ausführungen mit der Frage begonnen: Warum sollten wir Mäßigung üben? Wir haben auch recht plausible Antworten gefunden, einmal aus der Lebenspraxis und zum anderen Mal aus einer eher theoretischen vorausschauenden Sicht heraus. Die Lebenspraxis steht uns näher und spricht vermutlich mehr Menschen an, als der Versuch, Mäßigung aus einer theoretischen Sicht unter dem Primat der Verantwortung als notwendig zu erachten. In unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgebung erscheint mir der emotionale Affekt stärker verbreitet zu sein als das rationale Moment. Mäßigung hat objektiv einen Bezug zum freiwilligen Verzicht. Mäßigung stellt sowohl aus der Erfahrung heraus als auch aus einer eher theoretischen Perspektive langfristig eine hinreichend sichere Strategie zur Lösung der anstehenden Probleme dar. Wir gewönnen Zeit zur schrittweisen Abwägung unserer jeweils getroffenen Maßnahmen. Wir wären dann in der Lage, „Technologieoffenheit4“ nicht nur zu verbalisieren, sondern auch ggfs. zu konkretisieren. Wenden wir die Mäßigung als Grundsatz heute an, bevor uns die künftig absehbaren Umstände zur Unzeit zwingen werden, Einschnitte unseres Lebensstandards hin nehmen zu müssen.
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1Vgl. https://wiki.yoga-vidya.de/Mäßigung
2Dieser Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst (Individualität vs. Masse). Er ist möglicherweise Ausdruck einer polarisierten Gesellschaft.
3Vgl. ausführlicher: Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, Teil II, München 2020
4Ein m.E. politisch sehr fragwürdiger Begriff – er klingt in den Ohren der Wähler gut, vernachlässigt aber die Tatsache, dass Technologie noch nie offen war: sie folgte stets dem großen Geld. Eine Invention, auf die die Welt gewartet hat, die aber keine private Rendite verspricht, oder die Rentabilität der gegenwärtig benutzten Geschäftsmodelle schmälert, wird sich kaum durchsetzen lassen. Dann ist die geforderte Offenheit doch ein „heiße Luftblase“.

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