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Ein Gesellschaftsvertrag zur Nachhaltigkeit

Die WBGU[1] hat unter dieser Überschrift in der Veröffentlichung[2] von 2011 (Hauptgutachten/Flagship Report) in englischer Sprache eine ganze Reihe von bemerkenswerten Gedanken zusammengetragen. Die Ausführungen sind zwar schon wieder über ein Dekade alt, aber die dort gemachten Vorschläge haben nach meiner Einschätzung keine rechte politische Resonanz gefunden, mit anderen Worten: es ist nur das wenigste davon realisiert.

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Die große Zahl von Theorieansätzen, Fakten und angeführten Einzelheiten bewerten zu wollen, übersteigt mein Wissen und auch meine Kompetenz. Die Einzelaussagen erscheinen für sich genommen nachvollziehbar und schlüssig, aber ich fühle mich mit meiner Frage „Wie soll das funktionieren?“ allein gelassen – meines Erachtens fehlt da etwas Wesentliches! Ich will versuchen, diese Lücke zu umreißen.

Das Gutachten greift die Idee eines Sozialvertrages auf, die in der Vergangenheit schon bei vielen klassischen Autoren Anwendung gefunden hat. Dabei schauen diese Autoren meist in die historische Entwicklung und glauben dabei so etwas wie einen „Sozialvertrag“ zwischen den gesellschaftlichen Kräften entdecken zu können. Dieser Vertrag wurde real nie geschlossen, sondern Beobachter des Geschehens haben meist nachträglich konstatiert, dass dieses Zusammenspiel in der Abstraktion vertragsähnliche Strukturen besitze. Um es konkret zu machen: es gab um 1750 herum keine Blaupause, wie der Kapitalismus zu gestalten sei – er hat sich in kleinen, manchmal auch größeren Schritten zu seiner heutigen Form evolutionär (also weitgehend ungesteuert) entwickelt.

Das Gutachten versucht nun diesen „Vertrag“ als Metapher zu verwenden, um eine gesellschaftliche Wende weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit griffig zu beschreiben. Es ist der Versuch, den anstehenden Wandlungsprozess als Blaupause (in Form eines groben Planes) zu beschreiben. Dabei ist das „weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit“ meine Interpretation. Das Gutachten enthält sich da jeder Stellungnahme. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie Neoliberalismus und Nachhaltigkeit unter einen Hut passen soll, ohne dass sich der Kapitalismus massiv verändert.  

Wenn man das Gutachten genauer liest, so reduziert sich die „Blaupause“ der WBGU auf die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung. Diese drei Aktionsfelder, so mein Eindruck, seien jene Bereiche, in denen Wandel aufgrund des unmittelbar hohen Problemdrucks am vordringlichsten sei. Das Gutachten versucht, einen Sozialvertrag zu mehr Nachhaltigkeit zu schaffen, beschränkt sich aber auf diese drei Aktionsfelder. Damit wird deutlich, dass nicht unser Wirtschaftssystem (der Kapitalismus) zur Diskussion steht, sondern nur die genannten Bereiche. Es ergibt sich die Frage, ob diese „Teilrenovierung“ überhaupt funktioniert ohne sich Gedanken zu machen, wie sich die ‚Renovierung‘ in die anderen (restlichen) Teile von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken könnte. Lässt sich das Wirtschaftssystem sinnvoll in einen Teil spalten, der so etwas wie Nachhaltigkeit praktiziert, neben einen zweiten Teil des Systems, der nach der alten Devise „weiter so“ marschiert? Das erscheint nicht praktikabel. Das Gutachten schenkt diesem Problem aber keine Beachtung.

Es ist mir verständlich, dass diese Frage bewusst ausgeklammert ist, weil die Komplexität der nachfolgenden Zusammenhänge jeden Erkenntnisgewinn aus dem Denken in Ursache-Wirkung unmöglich macht. Wenn wir dem Gutachten folgen und uns auf die drei Aktionsfelder beschränken, sonst aber keinen generellen Wandel z.B. in den sogenannten „handlungsleitenden Prinzipien“ vorsehen, gibt es Konflikte ohne Ende. Unser Wirtschaftssystem lebt von einer Reihe von handlungsleitenden Prinzipien, wie z.B. die kurzfristige Orientierung des Handelns, eine Wertorientierung exklusiv auf Basis des Geldes, das Wachstum, das als unbegrenzt gilt, u.a.. Die Nachhaltigkeit gehört bisher eindeutig nicht dazu. Angenommen, die drei Felder Energie, Urbanisierung und Landnutzung folgen künftig nachhaltigen Prinzipien, wie sollen sich dann der „Rest“ des Wirtschaftssystems bzw. die Gesellschaft verhalten? Müssen sie nachziehen? Ist das so ohne jede Untersuchung der Problematik ratsam? Oder führt der Mangel an Abstimmung in ein Chaos der Zuständigkeiten?

Die meisten der Autoren, die ich gelesen habe, gehen davon aus, dass die Nachhaltigkeit global eingeführt werden muss. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, aber wann wird das jemals erfüllt sein? Ist es nicht sinnvoller und pragmatischer, einen nationalen Weg einzuschlagen, der stets zur globalen Seite hin offen ist, der aber nicht ständig wartet, bis auch das letzte „Kamel“ seinen Platz in der globalen Karawane gefunden hat. Wenn ein Land von der wirtschaftlichen Bedeutung wie Deutschland sich tatsächlich auf den Weg der Nachhaltigkeit machen würde und damit auch noch Erfolg hat, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die „langsameren Kamele“ nachziehen werden und von unseren nationalen Erfahrungen profitieren wollen. Sollten wir es nicht schaffen, diesen Weg erfolgreich zu gehen, werden wir auf einigen Feldern der Transformation wichtige Erfahrungen gesammelt haben und daraus dann künftig Vorteile ziehen können.

Ein großes Anliegen der WBGU ist eine Veränderung der politischen Governance von einem moderierenden Staat zu einem gestaltenden Staat (siehe auch meinen Beitrag „Moderator oder Gestalter“ vom 29.12.2021). Dabei sind erfahrungsgemäß Schwierigkeiten zu erwarten, weil Regierungen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die sich schlecht in die Idee der WBGU einfügen lassen:

Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation u. dergleichen.“[3]

Wenn diese Aussage unverändert stimmt, hat es wenig Sinn, darauf zu vertrauen, dass der gestaltende Staat sich anders verhält. Es ist das gleiche Personal und es sind ohne grundlegende Änderung der politischen Strukturen die gleichen eingefahrenen Verhaltensweisen. Das politische Verhalten folgt einer langjährig gewohnten Strategie. Wir dürfen davon ausgehen, dass die politischen Strukturen hier gegenwärtig kaum eine andere Verhaltensweise zulassen. Dann ist aber der Vorschlag, einen gestaltenden Staat einzuführen, zwar wünschenswert, aber äußerst fragwürdig, es sei denn, man stellt ganz klar auch die gegenwärtigen politischen Strukturen in Frage. Das ist aber im Gutachten nicht der Fall.

Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die drei Aktionsfelder einer grundlegenden Neustrukturierung unterliegen werden. Es geht nicht um Krisenbewältigung im Sinne von Reparatur, es geht um Neugestaltung. Es könnte sehr gut sein, dass diese Aufgabe die Politik schlicht überfordert, weil sie seit Jahrzehnten nur gewohnt ist, Reparaturdienste bereitzustellen. Um Neues langfristig zu gestalten, wird es sehr viel Unterstützung von allen gesellschaftlichen Seiten bedürfen. Diese Unterstützung müsste organisiert (strukturiert) und systematisch vorbereitet werden und wäre m.E. mit Sicherheit Teil des Inhalts des neuen Sozialvertrages. Dazu nimmt das Gutachten aber keine Stellung.

Der gestaltende Staat soll sich die erhöhte Gestaltungsfähigkeit durch eine verstärkte bzw. veränderte Bürgerbeteiligung ‚ausgleichen‘. Einige Vorschläge beziehen sich dabei auf den „deliberativen Partizipationsprozess“ (ein schrecklicher Begriff), der das Mehr an politischer Gestaltung  durch ein Mehr an Beteiligung ausgleichen soll. Es ist ein Verfahren, bei dem z.B. hundert BürgerInnen zufällig ausgewählt werden, die in etwa der Schichtung unserer Gesellschaft entsprechen. Sie übernehmen die Aufgabe freiwillig und ehrenamtlich und repräsentieren insofern „das Volk“. Die Teilnehmer werden von neutralen Fachleuten mit den anstehenden Problemen vertraut gemacht (Wissensvermittlung) und treffen sich dann in wechselnden Kleingruppen, um die Fragestellungen mit unterschiedlichen Moderatoren zu diskutieren. Das Ergebnis wäre ein „Bürgergutachten“, das weitgehend frei von Lobbyeinfluss entsteht und dem Parlament als Richtschnur zur Verfügung gestellt wird. Dieses Verfahren wird von der WBGU kurz angeschnitten, aber nicht weiterverfolgt, obwohl das Verfahren inzwischen nach Pressemitteilungen weltweit in über 400 Fällen erfolgreich angewendet wurde[4]. Dieser Ansatz ist nur einer von Vielen.[5]

Nun kommt eine ganz grundsätzliche Frage auf: Ist das sehr detailliert aufgebaute Gutachten der WBGU geeignet, der Politik als „Handreichung“ für ihr Transformations-Geschäft zu dienen? Dabei sollte man gedanklich versuchen, sich in den Stuhl eines Vertreters der Politik zu versetzen. Der Tag eines Politikers hat auch nur 24 Stunden und sie tun mir leid, wenn man die Erwartung aufrechterhält, dass dieses Gutachten mit der Fülle an komplexen Zusammenhängen von ihnen gelesen und auch verstanden werden soll.

Dabei ergibt sich für mich noch eine völlig andere Frage: Ist der Ansatz überhaupt zielführend? Wir sprechen ja von einem Sozialvertrag (Social Contract for Sustainability) und diskutieren dann im Gutachten Energieproduktion, -abhängigkeit und -nutzung, Verstädterung (Urbanisierung, Migration) und Landnutzung (Verwaltung eines nicht vermehrbaren Gutes). Wo bitte sind da Aspekte, die wir im Rahmen einer ‚Sozialvertrags-Konstruktion‘ neu strukturieren müssten?

Wenn die Autoren des Gutachtens die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung diskutieren, bewegen wir uns im Materiellen und Quantitativen, also in Fragen des konkreten Handelns. Im Rahmen eines Sozialvertrages sollte es m.E. aber um abstrakt politische (qualitative) Gesichtspunkte gehen: Wie trägt man die in den Aktionsfeldern entwickelten Strategien und Prinzipien an die Gesellschaft heran, so dass man Aussichten hat, für das geplante Vorgehen die notwendige Unterstützung und Legitimation zu erhalten. Der Politiker kann die sachliche Seite der Vorschläge nur schwer beurteilen. Er ist vermutlich froh, wenn er sie im Grundsatz verstanden hat. Sein Interesse liegt darin, dass er Hilfestellung erfährt, wie er die als „richtig“ erkannten Schritte in die Öffentlichkeit tragen kann und sich dabei die Unterstützung wesentlicher politischer Kreise sichert. Auf der Vorstellung, dass sich sachlich Sinnvolles von selbst durchsetzt, sollte man schon allein aus Gründen der Lebenserfahrung nicht beharren.

Wir bewegen uns hiernach mit der Idee eines Sozialvertrages nicht mehr auf irgendwelchen materiellen Aktionsfeldern, sondern auf dem Feld der politischen Organisation und den Umsetzungserfordernissen. Es geht also um die Frage, wie kann die Politik strategisch sinnvoll vorgehen, um am Ende das als „richtig“ Befundene realisieren zu können. Da wir offensichtlich der Meinung sind, dass der bisherige „Sozialvertrag“ (oder was wir dafür halten) es nicht hergibt, Nachhaltigkeit zu unterstützen, müssen wir eine Änderung dieses Kontraktes herbeiführen. Dazu müssen wir sowohl die Struktur als auch die Prozesse des gegenwärtigen gesellschaftlichen als auch des politischen Systems verändern. Das ist aber mit Aussagen zur Transformation der Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung zu mehr Nachhaltigkeit nicht zu leisten. Das wichtigste Element fehlt – das wäre der veränderte Sozialvertrag, der bestimmt, wann und wie die Transformation ihre politische Legitimation finden kann und wird.

Neben der Frage des neuen Sozialvertrages bleibt die zweite Frage offen: Was ist eigentlich Nachhaltigkeit? Es fällt auf, dass dieser Aller-Welts-Begriff von niemanden klar umrissen werden kann, ganz besonders nicht dann, wenn es konkret wird. Das Problem durchzieht alle mir bekannten Gutachten der WBGU und auch andere Veröffentlichungen zu diesem Thema. Wir sind mit der Nachhaltigkeit immer in der Nachbarschaft zum Gemeinwohl – jeder meint zu wissen, was gemeint ist, aber wenn es dann spitz zuläuft, bleibt nichts mehr übrig, was man irgendwie greifen bzw. justiziabel verwenden könnte. Möglicherweise ist das der Grund, warum der deutsche Text des Gutachtens von einem „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ spricht und nur der englische Text einen „Social contract for Sustainability“ beschreibt. Die ‚Große Transformation‘ klingt gut, aber fragt bitte nicht nach dem Inhalt. Das ist eine riesige Leerformel, gut gewählt im Hinblick auf die Politik, aber absolut nutzlos, wenn man nach dem konkreten Inhalt fragt oder den Begriff verwenden möchte, um etwas Konkretes damit aufzubauen.

Nun haben wir das Problem, dass wir einen Sozialvertrag erwarten, wohl wissend, dass es diesen Vertrag im besten Fall nur symbolisch geben kann. Wer sollte ihn formulieren, wer schreibt ihn nieder und wer unterzeichnet ihn legitimer Weise? Und dann ist der Gegenstand des symbolischen Vertrages – die Nachhaltigkeit – ein Begriff, den bisher niemand richtig festmachen und dessen Bedeutung sinnvoll eingrenzen kann und will. Aber wir sind uns vermutlich einig, dass es so etwas geben sollte: eine ‚Charta‘ zur Nachhaltigkeit und ihre breite politische Unterstützung. Das klingt beinahe wie die Quadratur des Kreises. Wenn das gelänge, sollte man bitteschön auch den Gedanken des Gemeinwohls gleich mit verarbeiten. Das Gemeinwohl hätte positiv das Wohl der Gesellschaft im Blick und das Postulat der Nachhaltigkeit bezöge sich auf die Vermeidung (schädlicher) Einwirkungen der Gesellschaft auf ihre natürlichen Lebensgrundlagen.

Unsere Verfassung wäre offensichtlich der passende Ort für die Begriffe Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Der Verfassung müsste aber unbedingt ein Ausführungsgesetz nachgeschaltet sein, das dann den Inhalt der unbestimmten Rechtsbegriffe (Nachhaltigkeit u. Gemeinwohl) hinreichend fixiert und dringend auch eine Konkretisierung des Begriffs der Sozialbindung des Eigentums (Art 14, II GG) mit einschließt. Es muss letztlich möglich sein, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und Sozialbindung einzuklagen. Dazu müssen die Regeln justiziabel gestaltet werden. Wenn das gelingt, kann man auch zu Recht von gesellschaftlichen Zielen sprechen, die für jedermann verbindlich sind. Vorher bleibt es nur Wunschvorstellung und viel heiße Luft!


[1] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

[2] Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (2011) oder „World in Transition –A Social Contract for Sustainability (engl. Fassung)

[3] Alexander King und Bertrand Schneider (1991), S. 104, Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, in: SpiegelSpezial (Nr. 2/1991), zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III (2014), S. 22

[4] Siehe den ARTE 42-Beitrag vom 18.09.2021 mit dem Titel: „Sollen wir losen oder wählen?“

[5] Vgl. z. B. H. Willke (3.2.2017),  https://www.youtube.com/watch?v=M9fg2xFzJAw

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