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Wo stehen wir? Wohin gehen wir?

Ein Buch von Maja Göpel aus 2016, als PDF unter dem Titel ‚The Great Mindshift‘ veröffentlicht, ist mir wieder mal in die Hände gefallen und beim ‚Herumlesen‘ bin ich auf die Studie „The Great Transition – the Lure and the Promise of the Times Ahead“ aus dem Jahr 2002 des Stockholm Environment Institute, Boston und dem Tellus Institute gestoßen, auf der Göpel ihre weiteren Ausführungen aufbaut. Sie fasst den Inhalt für ihre Zwecke zusammen.

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Dabei entstand bei mir der Wunsch, diese Studie im Original zu lesen. Sie steht als kostenloses PDF im Internet zur Verfügung. Es gibt sogar eine autorisierte Übersetzung ins Deutsche.

https://greattransition.org/documents/gt_deutsch.pdf

Der deutsche Bericht umfasst 108 Seiten. Das ist mehr als sich hier sinnvoll verarbeiten lässt. Aber es lohnt sich, diesen Bericht herunterzuladen. Selten habe ich eine Studie gelesen, die mich mehr in ihren Bann zog.

Die Studie versucht Antwort zu geben auf die folgenden großen Fragen:

1. Wo stehen wir? (Was ist der aktuelle Stand 2002? Soviel weiter sind wir nicht gekommen)
2. Wohin gehen wir? (Wohin treiben wir?)
3. Wohin wollen wir? (Was wollen wir erreichen? Was sind unsere Ziele?)
4. Wie kommen wir ans Ziel? (Wie kommen wir dorthin?)
5. Die Geschichte der Zukunft
6. Formen des Übergangs

Dabei wird das anstehende Problem von der nationalen Ebene auf eine „planetarische“ Ebene gehoben und der Zeitbezug ausgeweitet: Die anstehenden Veränderungen werden nicht aus dem Handeln der letzten paar Generationen erklärbar. Es geht nicht um die nationale Befindlichkeit, sondern es wird deutlich, dass die „Great Transition“ ein Menschheitsproblem darstellt. Dabei werden viele Alternativen, die gewöhnlich auf der Ebene der ökonomischen Substitution oder mit der scheinbaren grenzenlosen Größe des Planeten beantwortet werden, plötzlich zu Fragen eines Nullsummenspiels innerhalb planetarischer Grenzen: was der eine zu viel in Anspruch nimmt, fehlt dem anderen, die ‚planetarische‘ Summe ist vom Grundsatz her immer Null.

Ein weiterer Gesichtspunkt der Studie ist unsere Auffassung von Wirtschaft. Damit diese von uns geschaffene Institution funktioniert, müssen wir auf vieles verzichten (ohne es als Verzicht wahrzunehmen) und erhalten dafür ein beachtliches Maß an Wohlstand, der wiederum auf Kosten anderer Menschen auf diesem Planeten erzielt wird (Nullsummenspiel). Das Ziel der Wirtschaft als Anhäufung materieller Dinge sollte durch ein humanitäres Ziel der menschlichen Entwicklung ersetzt werden, dem die Wirtschaftsaktivitäten zu dienen haben.

Die wechselseitigen Abhängigkeiten werden m.E. erstmalig in einem so umfassenden Zusammenhang dargestellt. Trotz der Komplexität wird versucht, sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Der planetarische Ansatz macht aber auch deutlich, wie wenig Urteilsfähigkeit am rechten und linken Rand unserer Gesellschaft versammelt ist. Dort herrscht nicht der Verstand, dort herrscht m.E. die Angst vor der Veränderung. Dabei ist Veränderung ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil unseres Lebens.

Da man davon ausgehen kann, dass wir mehr oder weniger wissen, wo wir stehen, erscheint die Frage wichtig, in welche Richtung entwickeln wir uns? Um eine realistische Antwort auf diese Frage zu finden, nutzen die Autoren die Szenario-Methode, indem sie drei Szenarien unter dem Begriff der „Weltsicht“ entwickeln. Für jeden dieser drei ‘Archetypischen Weltsichten’ lassen sich zwei Varianten entwickeln (vgl. Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, 2002, S. 28 f.). Die drei Grundszenarien werden unter der Bezeichnung ‚Konventionelle Welten‘, ‚Barbarei und Verfall‘ und ‚Große Übergänge‘ geführt. „Für die erste Variante ist das Fortschreiben des Bestehenden charakteristisch, die zweite geht von einem grundlegenden, aber unerwünschten sozialen Umbruch aus und die dritte von einem ebenso grundlegenden, aber erwünschten sozialen Wandel.“(S. 26)

„Die Weltsicht der „Konventionelle Welten behauptet, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert in derselben Richtung wie bisher weiterentwickelt, ohne große Überraschungen, ohne Brüche, ohne eine grundsätzliche Erneuerung der Zivilisation. Dieselben Kräfte und Werte, die derzeit die (ökonomische) Globalisierung vorantreiben, würden demzufolge auch die Zukunft prägen. Kleinere Anpassungen in Wirtschaft und Politik würden genügen, um soziale, ökonomische und ökologische Probleme in den Griff zu bekommen.“ (S. 26)

„Die Perspektive „Verfall und Barbarei beschwört die Möglichkeit, dass diese Probleme nicht bewältigt werden, sondern sich in einer Abwärtsspirale dramatisch steigern und damit das Krisenmanagement der bestehenden Institutionen überfordern. Am Ende stünden dann Anarchie oder Diktatur.“ (S.27)

„Das Szenario der Großen Übergänge, das im Zentrum dieses Essays steht, nimmt eine grundlegende, historisch einmalige Veränderung der Lebenseinstellung und der Gesellschaftsordnung in den Blick. Neue Werte und ein neues Leitbild der Entwicklung würden diesem Szenario zufolge die Lebensqualität und eine Grundversorgung aller Menschen, Solidarität und globale Gerechtigkeit sowie die Nähe zur Natur und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken.“ (S. 27)

„Für jedes der drei Szenarien definieren wir zwei Varianten und erhalten so insgesamt sechs Szenarien. Indem wir die Konventionelle Welten in Marktkräfte und Politische Reformen unterteilen, legen wir den Finger auf einen in der zeitgenössischen Debatte zentralen Punkt. In dem marktwirtschaftlichen Szenario treibt der offene Wettbewerb auf dem Weltmarkt die Entwicklung voran. Soziale und ökologische Aspekte gelten als sekundär. Im Gegensatz dazu geht das Szenario Politische Reformen von umfassenden, aufeinander abgestimmten staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der natürlichen Umwelt aus.

Auch das pessimistische Szenario Verfall und Barbarei unterteilt sich in zwei Varianten, den totalen Zusammenbruch und die Welt als Festung. Der Zusammenbruch tritt nach einer immer weitere Kreise ziehenden Spirale von Konflikten und Krisen ein, die schließlich außer Kontrolle geraten und sämtliche Institutionen unter sich begraben. Die Welt als Festung wäre die autoritäre Antwort auf den drohenden Zusammenbruch, bei der sich eine privilegierte Minderheit in einer Art globaler Apartheid durch einen Verbund abgeschotteter Enklaven gegen die Zumutungen der verarmten Mehrheit schützt.

Die beiden Varianten der Großen Übergänge heißen Öko-Kommunalismus und Neues Nachhaltigkeits-Paradigma. Der Öko-Kommunalismus kämpft für den Umweltschutz vor Ort, direkte Demokratie und wirtschaftliche Autarkie. Er ist zwar bei einigen Umweltgruppen und in anarchistischen Subkulturen beliebt, aber es ist nicht recht erkennbar, wie er sich trotz der derzeitigen Globalisierungstendenzen behaupten will, ohne die eine oder andere Form der Barbarei in Kauf zu nehmen. Das vorliegende Buch identifiziert Great Transition mit dem Neuen Nachhaltigkeits-Paradigma. Dieses könnte den Charakter der Zivilisation weltweit verändern, ohne in eine moderne Version der „Kleinstaaterei“ zurückzufallen. Die Hinwendung zur Nachhaltigkeit soll weltweite Solidarität, den Austausch unter den Kulturen und die wirtschaftliche Verflechtung fördern und gleichzeitig einen freiheitlichen, menschenwürdigen und ökologischen Übergang gewährleisten.“ (S.27)

„Die Szenarien unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen. Marktkräfte verlassen sich auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs. Politische Reformen hängen davon ab, dass sich die überwältigende Mehrheit der Regierungen auf eine nachhaltige Zukunft einigt. Die Welt als Festung muss sich auf bewaffnete Kräfte verlassen, um für Ordnung zu sorgen, die Umwelt zu schützen und das Abgleiten in den Zusammenbruch zu verhindern. Das Szenario der Großen Übergänge strebt eine nachhaltige, lebenswerte Zukunft an und entwickelt dafür neue Werte, ein neues Entwicklungsmodell und hofft auf das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt.“

„Die für die genannten Visionen jeweils charakteristischen Annahmen, Werte und Mythen haben ideengeschichtliche Wurzeln. (…) Das Szenario der Marktkräfte hängt einem merkantilen Optimismus an und glaubt an eine verborgene Hand, die für gut funktionierende Märkte sorgt und so alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme löst. Der wichtigste

Vordenker ist Adam Smith (1776), zu den aktuellen Vertretern gehören viele neoliberale Wirtschaftstheoretiker. ‚Politische Reformen‘ beruht hingegen auf der Überzeugung, dass die Märkte staatlicher Kontrolle bedürfen, um ihren immanenten Hang zu Wirtschaftskrisen, sozialen Unruhen sowie zur Umweltverschmutzung auszugleichen. John Maynard Keynes wurde unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise zum „Vater“ der Theorie, die den Kapitalismus mit seinen zerstörerischen Kräften in verträgliche Bahnen lenken will (Keynes 1936).

Hinter der These vom Zusammenbruch steht die trostlose Überzeugung, dass Bevölkerungsexplosion und hemmungsloses Wirtschaftswachstum direkt in den ökologischen Kollaps führen und heftige Verteilungskämpfe sowie den Niedergang der Institutionen auslösen werden. Thomas Robert Malthus hat in seinem „Versuch über das Bevölkerungsgesetz“ 1798 die These aufgestellt, die einer arithmetischen Reihe folgende Nahrungsmittelproduktion könne keinesfalls mit dem der geometrischen Progression gehorchenden Bevölkerungswachstum Schritt halten und gehört damit zu den einflussreichsten Vorreitern.

Eine erste Ausprägung der ‚Welt als Festung‘ beschrieb Thomas Hobbes 1651 mit seinem „Leviathan“. Der Mensch sei des Menschen Wolf, behauptete er, und müsse daher mit starker Hand geführt werden. Zwar bekennen sich nur wenige heute offen zu derart autoritären Auffassungen, aber viele Menschen sehen eine solche Entwicklung in ihrer Ratlosigkeit als logische Folge der unkontrollierten gesellschaftlichen Polarisierung und der Umweltzerstörung, die sie allenthalben beobachten.

Ahnherren des ‚Öko-Kommunalismus‘ sind William Morris und die Sozialreformer des 19. Jahrhunderts (Thompson 1993), die von Ernst Schumacher geforderte Rückkehr zum menschlichen Maß (1981) oder der Traditionalismus eines Mahatma Gandhi (1993). (…)

Das ‚Neue Nachhaltigkeits-Paradigma‘ muss sich mangels historischer Vorbilder seinen eigenen Weg bahnen; genau genommen wagt das vorliegende Buch den ersten Versuch, das Paradigma zu erläutern. Immerhin hat John Stuart Mill schon Mitte des 19. Jahrhunderts mit großem Weitblick die Vorstellung von einer post-industriellen Gesellschaft entwickelt, die nicht primär nach materiellen Reichtümern strebt, sondern nach menschlicher Entwicklung (Mill 1848)“. (S. 30)

„Eine recht geläufige Weltsicht – oder eher die Negation einer Weltsicht – wurde bisher noch gar nicht erwähnt. Viele, wenn nicht die meisten Menschen schwören jeglichen Spekulationen und Philosophien ab und entscheiden sich für ein „Durchwursteln“ (Lindblom 1959). Es ist die große Masse der Nicht-Bewussten, Unbesorgten und Uninteressierten, die schweigende Mehrheit, der nichts ferner liegt, als nach einer Antwort auf die großen Fragen der Zukunft zu suchen.“ (Great Transistion, 2002, S.30)

Hier muss man m. E. ein Missverständnis aufklären: Lindblom hat das „Muddling through“ (das Durchwursteln) als Handlungsstrategie weder vertreten noch propagiert. Zu seiner Zeit (1960er Jahre) war die Euphorie in Bezug auf den Erfolg von Plänen weit verbreitet, und die Systemtheorie stand noch in ihren Anfängen. Lindblom war ein scharfer Beobachter und Kritiker dieser Euphorie, weil er feststellen musste, dass sich die meisten hochfliegenden und ‚eleganten‘ Planungen aufgrund der komplexen Bezüge in der Praxis auf ein chaotisches „Durchwursteln“ reduzierten. Diese Hybris besteht auch heute noch, wenn man glaubt, dass eine wünschbare Vorstellung sich über eine allzu schlichte Plansetzung wirksam umsetzen lässt. Es sollte eigentlich klar geworden sein, dass erfolgreiche Interventionen in komplexen sozialen Systemen (als Prozess gestaltet) mit zu den schwierigsten Aufgaben gehören, die man sich vorstellen kann.

An dieser Stelle möchte ich enden. Die hier in Ausschnitten dargestellten Grundlagen werden in der Studie ausgebaut, erläutert, verknüpft, teilweise mit interessanten Narrativen versehen und soweit möglich, konsequent zu Ende gedacht. Ich kann dem Leser nur einen Eindruck vermitteln und hoffe, das ich diesem Anspruch in Teilen gerecht werde. Es wäre aber vermessen, zu erwarten, dass diese Studie mehr ist als ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der schwierigen Lage, aus der wir gemeinsam nach einem sinnvollen Ausweg suchen. Man kann auch erkennen, dass sich seit der Studie aus dem Jahr 2002 in den vergangenen 22 Jahren wenig zum Besseren verändert hat und die jüngsten geopolitischen Randbedingungen sich eher einer Verschlechterung zu neigen. Die Studie bleibt politisch unerwartet aktuell.

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