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Transformation – ja, aber wie?

Viele Artikel, die ich im Rahmen der Transformationsdiskussion gelesen habe, befassen sich mit den Fragen, was wir mit Blick auf Klimakrise in unserem Verhalten und unserem Handeln alles ändern sollten. Je länger ich mich mit diesen Fragen beschäftige, desto unzufriedener werde ich. Es fehlen mir wissenschaftlich begründete Aussagen zu dem sozialen Aspekt der Transformation, wie wir all diese Erkenntnisse einer breiten Bevölkerung vermitteln wollen.

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Dabei gehe ich davon aus, dass es gilt, die Unterstützung einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht für dieses existenzielle Transformations-Projekt zu gewinnen.

Dabei dürfen wir nicht davon ausgehen, dass sich alle Welt für die Fragen interessieren, die gegenwärtig von wenigen Politikern und von einen relativ kleinen Kreis von Wissenschaftlern bearbeiten werden. Wir müssen feststellen, dass die Erkenntnis der negativen Umweltveränderungen bei vielen Menschen eher Unmut oder Angst auslösen denn Interesse an einer Zusammenarbeit zur Beseitigung der Probleme. Diese Emotionen führen auch bei einem großen Teil der Bevölkerung zur Verdrängung der Problemstellung. Im schlimmsten Fall verweigern sich (zum Glück nur kleine Teile) der Bevölkerung und sprechen von Manipulation, Freiheitsberaubung, Krieg gegen das eigene Volk und ähnlichem Unsinn.

Ich fühle mich bei diesen Diskussionen oft ins Mittelalter katapultiert, weil die Sichtweise so bar jeden Wissens und jeder Erkenntnis ist. Man fragt sich, ob diese Menschen keine Schulbildung erfahren haben, weil sie die einfachsten Grundlagen des Physik- oder Chemieunterricht in den Wind schlagen. Sie „glauben“ etwas, das vor dreihundert Jahren nicht verwunderlich wäre, weil damals die meisten Bürger kaum lesen und schreiben konnten, geschweige denn über eine hinreichende Schulbildung verfügten.

Unser Wissen über die Zusammenhänge ist seit der Aufklärung gewaltig angewachsen. Wir brauchen nicht mehr zu glauben, wir wissen über viele Sachverhalte heute recht genau Bescheid. Was die Menschen aber verunsichert, ist m.E. die Tatsache, dass wir viele Dinge wissen, aber gleichzeitig auch erkennen müssen, dass es einfache und „knackige“ (eineindeutige) Lösungen nur noch sehr selten gibt. Sie bilden die absolute Ausnahme.

Die alten Lösungen sahen gut aus, weil sie nie über ihren selbst definierten Tellerrand hinausschauten und die Schäden jenseits des Tellerrandes, die sie anrichteten, gar nicht wahrgenommen wurden; es waren lineare Detaillösungen, die die mit den Aktivitäten verbundene Kollateralschäden stets als irrelevant zur Seite schoben. Unsere heutigen Problemstrukturen sind durch die Jahrzehnte lang vernachlässigten (angeblich irrelevanten) Kollateralschäden gekennzeichnet und sie holen uns jetzt ein; eine simple „lineare“ Lösung wie ehemals muss als ausgeschlossen gelten.

Die Probleme prasseln von allen Seiten auf uns ein und wir müssen statt Einzelfalllösungen endlich systemische Lösungsansätze suchen. Sie sind aber hochkomplex und verschließen sich deshalb einer einfachen linearen und lokalen Behandlung. Zudem ist diese Problemkategorie einem Publikum, das immer noch auf  die „knackigen“ Lösungen hofft und von der Politik darin oft auch bestärkt wird, nur schwer zu vermitteln.

Neben der Problemlage ist auch die Frage nach dem Ziel kritisch. Wir haben uns an eine Metrik gewöhnt, die unserem linearen Denken entspricht. Wir stellen aber zunehmend fest, dass wir aufgrund der fehlerhaften Metrik Zielen hinterher laufen, die weder nachhaltig noch „Sinn-voll“ sind. Durch eine Änderung der Metrik werden die Ziele aber komplexer und sind gegenwärtig nicht in einer schlichten Zahl oder einem (Container-)Begriff plakativ darzustellen. Im Prinzip sind wir gegenwärtig als Gesellschaft ein Stück weit orientierungslos, weil die alten Ziele nicht mehr „funktionieren“ und neuen gesellschaftlichen Ziele auf breiter Basis noch nicht (für jedermann) erkennbar institutionalisiert sind.

Wenn wir also Projekte aufsetzen wollen, um eine Transformation herbeizuführen, haben wir eine Gruppe Wissenschaftler, die eine Menge über die notwendigen Prozesse weiß, aber sich nicht trauen darf (weil nicht legitimiert), neue Ziele festzulegen. Die Gruppe, die über die Legitimation der Politik verfügen würde, traut sich auch nicht, weil in der Konkurrenzdemokratie jede Partei zu jeder Zeit bemüht ist, Fehler der „anderen“ zu identifizieren, statt einen sinnvollen mehrheitlichen Diskurs über die Grenzen der Parteien hinweg zuführen, der sich nicht wieder am kleinsten gemeinsamen Nenner orientiert, sondern die generationsübergreifenden Probleme lösen soll.

Wie soll der Problemzusammenhang in die Bürgerschaft getragen werden, wenn die Wissenschaftler unter sich bleiben und die Politik mindestens so kurzfristig ‚tickt‘ wie die Wirtschaft? Wie soll dann eine langfristige globale Problematik einer Lösung zugeführt werden? Auf dem Felde der öffentlichen Information und des Narrativs kann ich nur eine Figur ausmachen: Maja Göpel. Sie tourt durch Deutschland und versucht sich in einer relativ verständlichen Sprache den Bürgern zu nähern und den von ihr vertretenden Perspektivwechsel in ein Narrativ zu packen, um den „Souverän“ (das Wahlvolk) in kleinen Schritten für die Sache der Transformation zu gewinnen.

Und was muss sie dabei für Beschimpfungen und unqualifizierte Äußerungen zur Kenntnis nehmen, für deren Verursacher die Feststellung mangelnder Urteilskraft (Kant) hochgradig geschmeichelt ist. Es ist doch sinnlos, großartige materielle und institutionelle Veränderungen aufzuzählen und zu propagieren oder zu fordern, wenn wir nicht sicherstellen können, dass der gesellschaftliche Konsens ausreicht, diese weitreichenden (und ggfs. auch guten) Ideen mit bürgerlicher Zustimmung umsetzen zu können. Außer Maja Göpel ist mir in der ‚Community‘ bisher niemand aufgefallen, der sich dieser Aufgabe so intensiv widmet. Die meisten Teilnehmer der ‚Community‘ sitzen in ihrem Elfenbeinturm, wo doch Kommunikation so wichtig wäre. Namhafte Politiker findet man hier sowieso nicht. Das Eisen ist politisch viel zu heiß und Politiker folgen gewöhnlich einer kurzfristigen Parteiräson oder dem Fraktionszwang. Die Wirtschaft redet wenigstens von Agilität, Parteien haben für ihre Organisation in diesem Sinne noch kein Rezept gefunden.

Wir sind gewohnt, Projekte über Ziel-Mittel-Relationen zu realisieren. Nun stehen wir vor der Frage, was machen wir mit einem Transformationsprojekt, für das kein klares Ziel bestimmt ist und bei dem die Mittel gegenwärtig in vielleicht nötige, aber oft dubiose Anpassungsleistungen an den Klimawandel fließen. Wenn aber Ziel und Mittel nicht definiert werden können, welche respektable Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wäre denn bereit, seinen guten Namen für ein solches Projekt zu riskieren. Das Desaster ist doch vorprogrammiert! Da kann man nur verlieren!

Was heißt das für die Transformationsgeschäft? Angenommen, wir hätten  das Transformationsprojekt definiert, bleibt doch die Frage, wie arbeiten Wissenschaft und Projektbeteiligte zusammen? Wie schaffen wir es, eine ausreichende Mehrheit der Bürger zu begeistern, die dem Ergebnis des Projektes letztlich auch zustimmt? Wir sind offensichtlich nicht in der Lage, ein Projekt dieser Größenordnung und Brisanz im Rahmen unserer gewohnten Institutionen auf die Beine zu stellen.

Umso wichtiger sind m.E. in diesem Prozess neue Beteiligungsformen, die einerseits den bestehenden schwerfälligen Institutionen Beine machen und andererseits in der Lage sind, jene Wählerschichten zu aktivieren, um die sich die alten Institutionen nicht mehr kümmern wollen. Das Spektrum gilt wohl als zu dispers, zu mühselig, zu widerspenstig, zu inhomogen. Diese Wählergruppe würde die Parteien aufgrund ihrer Inhomogenität und Vielfalt vor große interne Akzeptanzprobleme stellen. Deshalb müssen wir andere Wege der Beteiligung (im Grund also neue Institutionen) finden und zulassen.

Gibt es eine weitere Alternative? Wenn wir von einem Projekt sprechen, unterscheiden wir gewöhnlich drei Kategorien: die Ausgangslage, das Ziel und die Mittel. Die Zielformulierung, so haben wir festgestellt, ist gegenwärtig kaum mehrheitsfähig. Der Einsatz der Mittel braucht ein Ziel; ohne Ziel keine Mittel. Es bleibt die Ausgangslage übrig. Über sie gibt es die meisten Informationen und über die gegenwärtige Situation gibt es deshalb auf Grund der verfügbaren Fakten ein gewisses Erschrecken, aber auch die einfacheren, faktenbasierten Diskussionen. Man weiß, von was man redet: Kein falscher Optimismus, keine “Hockey-Sticks“ für das Morgen. Hier scheint das Problembewusstsein den meisten der Beteiligten klar vor Augen zu stehen.

Unser westliches Denken ist in dieser Situation ziemlich hilflos. Da wir schon mehrfach über die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels philosophiert haben, gäbe es einen alten Denkansatz, den die buddhistische Philosophie vor 2.500 Jahren entwickelte. Um den Vorteil dieses Ansatzes nutzen zu können, müssten wir unser strammes zukunftsorientiertes Denken in Ziel und Mittel zurückstellen. Wir müssen uns auf die Ausgangssituation konzentrieren und akzeptieren, dass „sie ist, wie sie ist“! Diese Feststellung setzt voraus, dass wir die Ausgangssituation dann eingehend analysieren, um ideologische, einseitige und fehlerhafte Wahrnehmungen (die sogenannte „Verblendung“) durch Achtsamkeit ausschließen bzw. auf ein Minimum reduzieren zu können.

Als Folge haben wir dadurch eine Grundlage, um die Situation und die maßgeblichen Aktivitäten, die sie geschaffen haben, dahingehend zu bewerten, welche der Aktivitäten für die Situation als „unheilsam“ (es fällt mir kein moderneres Wort dafür ein) zu klassifizieren sind. Und für die als „unheilsam“ erkannten Aktivitäten gilt das schlichte Ziel, sie mit sofortiger Wirkung konsequent zu unterlassen. Mit jedem Schritt wird etwas „Unheilsames“ aus der Situation eliminiert und die Situation damit ständig schrittweise zum Besseren gewendet.

Die beschriebene Vorgehensweise ist im westlichen Sinne eine sogenannte Stückwerkstechnik, aber sie kann auch dann, wenn keine großen Ziele unser Verhalten lenken, zu einem Zustand führen, der deutlich besser sein wird als nichts zu tun, weil man sich auf Ziele und Mittel nicht verständigen kann. Die Bestimmung des „Unheilsamen“ gilt nicht für das gesamte Projekt, sondern nur für die aktuelle Situation. Wichtig ist die Erkenntnis, dass das „Unheilsame“ eine Qualität darstellt, die es zu vermeiden gilt. Damit ist dem gängigen allgegenwärtigen ökonomischen Denken eine wesentliche Grundlage entzogen, weil unser Verständnis von Ökonomie rein quantitativ orientiert ist.

Diese Vorgehensweise stellt auch nicht alles auf einmal in Frage, sondern nimmt sich inkremental einzelne Sachverhalte vor. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Bürgerschaft bei dem Transformationsprozess abzuholen und mitzunehmen, erscheint diese fernöstliche Strategie, auf unsere Verhältnisse übertragen, von großem Vorteil, weil die jeweiligen Schritte aus einem Ist-Zustand heraus erfolgen (und damit auch für die Betroffenen) konkret und überschaubar bleiben. Der weitere Vorteil liegt darin, dass in den Fällen, in denen die nationale oder globale Ebene nicht mitzieht oder sich nicht einig ist, trotzdem im Sinne einer Verbesserung der jeweiligen Situation gehandelt werden kann. Wir müssen nur darauf achten, dass die Fehler, die zum Problem geführt haben, nicht wiederholt werden. Es bleibt auch immer die Gefahr, dass scheinbar simple lineare Lösungen sich vordrängen. Aber wir haben ja die schlechten Erfahrungen der Vergangenheit und hoffentlich genügend „Watchdogs“ in Gestalt der NGOs und ähnlicher Institutionen, die aufpassen, wenn wir uns vom Ist-Zustand ausgehend schrittweise wirklich an die Verbesserung machen.

Das ist sicher nicht der große Coup und auch nicht der gewünschte Befreiungsschlag, aber es ist ein gangbarer Weg, solange sich die Politik (seit über 50 Jahre) nicht um die Erkenntnisse der Wissenschaft schert, auch kein gemeinsames Transformationsnarrativ zu produzieren in der Lage ist, vielleicht auch insgesamt einfach ratlos ist und unverändert der alten Devise anhängt: Augen zu und durch! Mit der fragwürdigen Hoffnung: wenn wir wieder die Augen aufmachen, war das alles nur ein böser Traum? Die Strategie war noch nie erfolgreich! Das ist die schlechteste aller denkbaren Alternativen.

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Demokratie und eine polarisierte Gesellschaft

In der Theorie der Demokratie kommt Polarisierung m.E. gar nicht vor. Demokratie wird uns als Ideal verkauft. Die Wirklichkeit mit ihren Unzulänglichkeiten kommt darin nicht vor. Die Demokratie kennt Meinungsverschiedenheiten, die sie als solche toleriert und braucht, um aus der Vielfalt der Meinungen eine Haltung zu entwickeln, die das gemeinsame politische Handeln stützt.

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Demokratie braucht deshalb einen Grundkonsens, wie mit Auffassungen und Meinungen umzugehen ist. Unsere Verfassung hat vor über 70 Jahren das Schwergewicht der Konsensbildung den Parteien übertragen.

Wenn wir heute von einer polarisierten Gesellschaft sprechen müssen, so haben offensichtlich die Parteien diese Konsensbildungsfunktion nicht oder zumindest ungenügend wahrgenommen. Den Grund könnte man in der Struktur der Parteien suchen. Haben sich die Parteien so verändert, dass sie diese Aufgabe nicht (mehr) adäquat wahrnehmen können? Oder: Die Entwicklung der Parteien ist stehen geblieben und die Umstände haben sich so verändert, dass die Parteien damit überfordert sind. Oder: Die Erwartung vieler Wähler hat sich stark gewandelt und die Parteien haben darauf (bisher) keine adäquate Antwort gefunden. Das, was die Parteien bewegt, trifft offensichtlich nicht die Erwartungen eines immer größeren Teils des ‚Wahlvolkes‘.

Durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft rückte die Idee der Gesellschaft und Solidarität leider in den Hintergrund. Der Neoliberalismus kennt lt. Margret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Ein solch gravierendes Missverständnis befeuert die Polarisierung; jeder (der es sich leisten kann!) glaubt sich auf einer Insel und meint seine sogenannten „Freiheits“-Ansprüche ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft durchsetzen zu können. Und eine große Zahl von denen, die es sich nicht leisten können, die also auf eine solidarische Gesellschaft angewiesen wären, steigt aus: Nicht mit mir! 

Man sollte ein paar Beobachtungen heranziehen, um die hier vertretene Auffassung zu begründen und verständlich zu machen. In unserer Parteienlandschaft verfügte die SPD einmal über die meisten Mitglieder (deutlich über eine Million), heute hat sie noch knapp die Hälfte. Deutliche Schrumpfungsprozesse weisen auch die anderen Volksparteien auf. Der FDP sind Teile ihrer konservativsten Wähler zur AFD abgewandert; die AFD ist zerstritten und mit sich selbst beschäftigt. Die FDP, so meine Wahrnehmung, hat es aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, sie ist eine Klientelpartei geworden, die außer ihrer Klientel keine Bürger vertreten will. Die Linken hatten für ein paar Jahre zunehmende Mitgliederzahlen, verlieren gegenwärtig bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Gründe sind sicher vielfältig und teilweise selbstgemacht. Aber man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass das Interesse des ‚Wahlvolkes“ am politischen Geschehen zumindest ein Stück weit verloren gegangen ist.

Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Was ist mit den 30 – 40 Prozent unserer Gesellschaft, die wählen dürfen. aber regelmäßig nicht zur Wahl gehen? Dieses Verhalten als schlichtes Desinteresse zu geißeln, trifft nicht den Kern. Das politische Interesse wäre m.E. schon vorhanden, aber die bestehenden Strukturen stoßen viele ab, sich aktiv oder passiv einzumischen. Mit ‚aktiv‘ ist ein Sich-Einbringen gemeint und ‚passiv‘ bedeutet, sich zu einer Wahl aufstellen zu lassen.

Wenn wir das Ergebnis der Wahlen in den letzten Jahren anschauen, so könnte man zu der Auffassung gelangen, dass hier einige Problemstellungen in die gleiche Richtung laufen. Die Parlamentszusammensetzung weist 80 Prozent Akademiker auf. Der Anteil der Akademiker in der Bevölkerung liegt bei etwa 20 Prozent. Frauen, Selbstständige und Handwerker (u.a.m.) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. Es gibt noch viele weitere Gesichtspunkte, in denen das Parlament in keiner Weise als „repräsentativ“ verstanden werden könnte. Um es kurz zu machen: Könnte es sein, dass viele Nichtwähler glauben, „dass es auf sie sowieso nicht ankommt“[1]. Verena F. Hasel[2] zitiert eine Bertelmann Studie, die zu dem Ergebnis kommt, „dass es in den Stimmbezirken, die bei der Bundestagswahl 2017 die niedrigste Beteiligung zu verzeichnen hatten, 70 Prozent mehr Menschen ohne Schulabschluss und 50 Prozent mehr Haushalte aus dem unteren Milieu gab als in denen, wo besonders viele Menschen zur Wahl gegangen waren. Damit, so heißt es in der Untersuchung, sei das Resultat der Bundestagswahl ‚sozial nicht repräsentativ‘. (…) Wären Nichtwähler eine Partei, so hätten sie in der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt“.

Wir leisten uns das, was Richard D. Precht[3] eine Konkurrenzdemokratie nennt. Kooperation unter den Parteien entsteht nur und ganz begrenzt in Zwangssituationen. Und selbst da herrschen immer ein zelebrierter Auseinandersetzungsmodus und der Versuch der Abgrenzung. Anstatt zwischen den Wahlen zum „Wohle des Volkes“ eine ruhigere Gangart einzulegen, geht der „Krieg“ oft unterschwellig weiter. Ist das die Natur der Demokratie oder ist dieses Verhalten einfach nur Krampf? Wir, das Wahlvolk; bekommen Schaukämpfe vorgeführt, die inhaltlich keinen Mehrwert haben. Aber die Parteien möchten uns glauben lassen, dass dieses Verhalten normal und alternativlos sei (Darstellungspolitik vs. Entscheidungspolitik).

Parlamentarier kennen sich oft seit vielen Jahren und schätzen sich u.U. persönlich und natürlich jenseits der Öffentlichkeit. Sie spielen uns dann regelmäßig ein „Theater“ vor, bei dem man selten den Eindruck gewinnt, es geht wirklich um die Sache.

Die Schweiz hat ihre Form der Demokratie anders gelöst. Man spricht dort von Konkordanz-demokratie[4]. Verkürzt ausgedrückt gilt: Wenn das Wahlvolk „entschieden“ hat, ist eine Allparteienregierung zu schaffen, wobei das Mitspracherecht der Parteien in den sieben Ministerien umfassenden Regierung entsprechend der auf sie entfallenden Wählerstimmen geregelt ist. Alle Parteien arbeiten nach bestem Wissen gemeinsam für die Regierung der Eidgenossen. Sollten sie sich mehrheitlich nicht einigen können, schwebt über allem das Damokles-Schwert der direkten Demokratie. Ist eine Wahlperiode zu Ende, lebt der Konkurrenzmodus auf und jede Partei hat die Möglichkeit, sich im besten Lichte darzustellen und um Stimmen zu kämpfen. Der Konkurrenzmodus endet wieder mit dem Entscheid der Wahl. Diese Form der Konkordanzdemokratie gilt in der Schweiz seit rd. 500 Jahren und scheint recht erfolgreich zu sein.

Kommen wir zu den Alternativen, wie wir unsere Demokratie ergänzen und verbessern können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie können wir die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und in den Prozess eingliedern:

Der gegenwärtige Fraktionszwang, den m.W. alle Fraktionen des Bundes- und der Landtage nutzen, wird viel zu selten aufgehoben. Ich sehe einen Lösungsansatz darin, dass der Fraktionszwang grundsätzlich entfällt. Wenn er bei wichtigen Fragen zur Anwendung kommen soll, muss er begründet, beantragt und von der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten befürwortet werden. Der Fraktionszwang wird damit begründet, dass die demokratische Willensbildung angeblich in den Parteien und Fraktionen erfolgen würde. Die Vorgänge aber sind nicht öffentlich und manche gute Ideen werden dort still und heimlich dem Machtstreben der Partei geopfert. Was es dann ins Plenum schafft, hat seine Ursprünglichkeit, Kreativität und Unschuld verloren. Vielfalt der Ideen wird tendenziell auf Einfalt (auf den Machtgesichtspunkt) reduziert!

Die Schweiz, so kommt es mir vor, nutzt das in der Verfassung vorgesehene Plebiszit als Drohkulisse, um allzu widerspenstige ParlamentariererInnen zur Kooperation zu bewegen. Bei der Durchführung eines Plebiszits können alle Parteien verlieren, sowohl an Stimmen und auch an ‚Reputation‘, also ist es wirklich nur das letzte Mittel. Das ist eine ganz andere Situation als in der Konkurrenzdemokratie, bei der Kooperation durch (möglicherweise unsinnige) Zugeständnisse wie auf dem Basar erkauft werden muss (Beispiel: Tempolimit).

Betrachten wir die Tatsache, dass 30 bis 40 Prozent unseres Wählerpotenzials überhaupt nicht politisch in Erscheinung treten. Sie wählen nicht und weil sie nicht wählen, haben auch die Parteien kein so rechtes Interesse deren Wünsche und Belange aufzugreifen. Das sagen sie natürlich nicht, das wäre schlicht Dummheit. Also betreiben sie diesbezüglich Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse, beides kostet wenig bis nichts. Wenn wir uns aber die Entwicklungen bei Corona oder bei „empörungsrelevanten“ Sachverhalten ansehen, diese Bevölkerungsteile sind nicht stumm und tumb, sondern es besteht die Gefahr, dass aus solchen Kreisen plötzlich „Wutbürger“ werden, um den plakativen Begriff aufzunehmen. Konkret heißt das, dass dieses Potenzial durchaus ansprechbar ist. Und es rumort in diesen Kreisen, weil sie sich als abgehängt empfinden. Die Parteien und das Parlament sind von einer völlig anderen Bevölkerungsgruppe okkupiert und die Parteien haben offensichtlich jede Verbindung zu diesen Nichwählerschichten verloren.

Diese Situation müssen wir dringend ändern! Die Erwartung, dass sich die eingefahrenen Prozesse der Parteien ohne Druck ändern, ist eine Illusion. Wir müssen diesen 30 – 40 Prozent Abgehängten einen Weg direkter Demokratie eröffnen, der ggfs. außerhalb des gegenwärtigen Grundgesetzes liegt. Es muss etwas Neues sein. Und es muss so gestaltet sein, dass auch die Parteien sachlich so in Bedrängnis geraten, dass sie sich mittelfristig dieser Klientel zuwenden.

Es gibt Ansätze direkter Demokratie in den unterschiedlichsten Formen: den Bürgerrat, das Volksbegehren oder den Bürgerentscheid (auf allen politischen Ebenen mit niedrigen Durchführungsbarrieren), die Planzelle des Peter Dienel (das ‚deliberative‘ Partizipationsmodell) und ähnliche Verfahren, die außerhalb der eingefahrenen politischen Strukturen laufen und weltweit schon viel hundertfach erfolgreich angewendet werden. Man hat leider mit der griffigen Überschrift „Losen statt Wählen“ der dahinter stehenden Idee keinen Gefallen getan. Das Losen steht in zu engem Zusammenhang mit dem Glückspiel und weist in die komplett falsche Richtung. In der Schweiz gibt es eine öffentliche Verwaltungsstelle, die diesen plebiszitären Bestrebungen neutral mit Rat und Tat zur Seite steht und gleichzeitig auf die Einhaltung einer gewissen Mindestform und Vorgehensweise Einfluss nehmen kann.

Immer dann, wenn wir eine kleine, aber repräsentative Gruppe Bürger zusammenstellen wollen, in der jede Gesellschaftsschicht unserer Republik eine reelle Chance hat, vertreten zu werden, so bildet man eine statistisch repräsentative Stichprobe, indem zufällig ausgewählte Bürger aller Schichten angesprochen werden, ob sie (freiwillig) Teil des Prozesses werden wollen. Ziel ist es, in dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Bereiche repräsentativ abbilden zu können.

Die freiwilligen Teilnehmer werden zu einem persönlichen Treffen eingeladen, erhalten dort eine umfassende fundierte und neutrale Einführung in die aktuelle Problemstellung, Sie treffen sich dann in wechselnden Gruppen, um vorher definierte Fragen in freiem Gedankenaustausch (Deliberation) zu diskutieren. Für diese Aufgabe wird auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Das Ergebnis der Diskussion wird mit professioneller Unterstützung zusammengefasst und ist eine Vorlage für die Politik, die darauf reagieren muss. In einem anderen Zusammenhang habe ich ausgeführt, dass auf diese Weise dem Bürger, der gewöhnlich über keine Lobby verfügt, ein Einfluss möglich wird, der dem Lobbyismus der Wirtschaft Paroli bieten kann. Da das Parlament bzw. die Politik gezwungen wird, darauf zu reagieren, wäre das ein starkes Instrument und ein wirksames Gegengewicht zum unvermeidlichen, aber lästigen Lobbyismus der Wirtschaft. Wichtig ist dabei, dass über das Ergebnis in den Medien detailliert berichtet wird, um jenen 30 – 40 Prozent zu zeigen, dass auch ihre Problemstellungen Eingang in die Diskussionen findet.

Wer sich intensiver mit dieser Frage auseinandersetzen will, dem sei das Buch von Verena Friederike Hasel, „Wir wollen mehr als nur wählen“  aus dem Jahre 2019 zum Lesen empfohlen. Es ist gut geschrieben und lässt sich flott lesen.


[1] V. F. Hasel, Wir wollen mehr als nur wählen, DTV 34968, 2019, S. 28

[2] Eda. S. 28

[3] David Richard Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, S. 468f.

[4] Vgl. V.F. Hasel, a.a.O., S. 55, oder David Richard Precht, a.a.O. S. 468f.

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