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Eine Zeitenwende?

Der gegenwärtige Tumult auf der großen politischen Bühne ist nur schwer bis gar nicht durchschaubar. Es bleibt als Alternative nur, sich in Gelassenheit zu üben und dabei die etwas längerfristige Entwicklung ins Auge zu fassen. Wir Kinder der unmittelbaren Nachkriegszeit haben das Glück, auf eine relativ lange Periode zurückschauen zu können, in der sich eine komplexe, aber durchaus regelbasierte Welt entwickelte, die einige autokratische Akteure jetzt versuchen, grundlegend und teilweise gewaltsam zu ändern. Dabei ist m.E. nicht die Tatsache der Veränderung das Problem, sondern die Art und Weise, wie die Veränderung aufgegriffen und realisiert werden soll. Scholz charakterisierte die Situation m.E. 2022 zu Recht mit dem Begriff einer Zeitenwende. Ist es wirklich nur eine?

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Im Nachkriegsdeutschland stand der Wiederaufbau an erster Stelle. In dieser Zeit war jeder bemüht sein Ziel von einer für ihn machbaren Form von Wohlstand zu erreichen. Die damit verbundenen Arbeiten hatten für die Mehrzahl der Bürger einen erkennbaren Sinn. Wirtschaftspolitisch folgte man den Vorschlägen von J. M. Keynes, der sinnvollerweise den Aufbau als eine Symbiose von öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft propagierte. Diese Vorstellungen haben die Menschen bis etwa in die 1980er Jahre begleitet und die Vorgehensweise war unstreitig erfolgreich.

„Die Sichtweise auf die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft drehte sich (dann) um 180 Grad. Davor war man davon ausgegangen, dass ein funktionierendes Gemeinwesen die Voraussetzung für eine gut laufende Wirtschaft sei. Nun drehte sich das und die neoklassische Sichtweise setzte sich mit der Idee durch, dass alle Werte am Markt geschaffen werden und die arme Wirtschaft für den gierigen öffentlichen Sektor aufkommen müsse“ (Emma Holten über Zahlen, SZ, 12./13.4.2025, S. 46).

Schon in den 1970er Jahren wurde eine Ideologie geboren, die eng mit der Mont-Pelérin-Gesellschaft verknüpft ist. In Deutschland wurde die Idee von der ordoliberalen Freiburger Schule unterstützt und F. von Hayek und Wilhelm Röpke spielten eine wichtige Rolle. Die beiden haben zusammen mit anderen ihre differenzierte Idee vom Neoliberalismus systematisch durch Vorträge und den Aufbau von „Instituten“ in die Welt getragen. Unter Reagan (USA) und Thatcher (UK), gewann die Ideologie des Marktes und einer Marktgesellschaft insbesondere in den USA unter dem Verlust vieler seiner Differenzierungen politische Bedeutung.

In Europa war der Wiederaufbau etwa in den 1970er Jahren erfolgreich abgeschlossen und jetzt brauchte man neue Ziele. Bisher war Leistung die Kategorie, die zählte. Im Neoliberalismus verlor die Leistung an Bedeutung und statt ihrer wurde der Erfolg zum neuen Leitbild erkoren. Leistung ist individuell gestaltbar, Erfolg hat meist viele Väter, u.a. auch den Zufall. Es wurde offen das „Schneller, Höher, Weiter“ als intrinsisches Ziel des Kapitalismus propagiert, denn der Aufbau lag im Wesentlichen hinter uns. Der Wiederaufbau vermittelte den Menschen einen Sinn, aber mit „Schneller, Höher, Weiter“ kann man kaum einen tieferen Sinn vermitteln, es sei denn, man anerkennt Konsum als die schlichte Bemühung um die Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems und den Erwerb von Geld als Ersatz für den Sinn des Lebens.

Das „Schneller, Höher, Weiter“ der neuen Zeit verursacht weltweit gewaltige Schäden, die man in den ersten Jahren als lokale Phänomene übersehen konnte. 1972 kam dann das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows) heraus und konnte die verheerenden Folgen der neuen Ideologie systematisch aufzeigen. Das Buch wurde von weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaftler in einem ersten Schritt belächelt.

Die Tatsache, dass die vielen lokalen Phänomene als ein globales System gesehen werden muss, war den „National“-Ökonomen nur schwer vermittelbar. Dieses Problem ist bis heute nicht überwunden. Daraus entwickelte sich die „grüne“ Idee, die schrittweise in die politische Agenda übernommen wurde. Damit hatte der Neoliberalismus sich einen immer mächtiger werdenden Gegner geschaffen. Und das Problem dabei ist, dass die Ökonomie darauf keine vernünftige Antwort zu geben weiß. Die „grüne“ Idee stellt letztlich das kapitalistische System nicht aus ideologischen Gründen in Frage, sondern durch knackige wissenschaftliche Erkenntnisse, die darin zusammen gefasst werden können, dass ‚ewiges‘ Wachstum in einem ‚endlichen‘ System Erde physikalisch nicht realisierbar ist. Ein „Weiter so“ fährt über kurz oder lang das „System“ (und damit auch die Ökonomie) gegen die Wand.

Der Neoliberalismus erfuhr dann in 2008 sein ideologisches „Canossa“. Die Finanzkrise hätte es, wenn die Ideologie „richtig“ gewesen wäre, gar nicht geben dürfen, denn der Markt hätte das verhindern müssen, wenn er so funktionieren würde, wie behauptet. Wobei die Fehlentwicklung im Rahmen des Finanzmarktes offen zutage trat, dessen hohes Maß an Deregulierung man als „Garantie“ verstand, dass dieser Markt im Sinne des Neoliberalismus „richtig“ funktioniert. Das ist in meinen Augen der Anfang vom Ende des Neoliberalismus.

Weil sich der Neoliberalismus ausschließlich auf den Markt konzentrierte, fand die Entwicklung der Infrastruktur unseres Gemeinwesens in den letzten dreißig Jahren keine Beachtung mehr. Man versuchte die Bundesbahn an die Börse zu bringen und hat politisch alle Register gezogen, um dieses Ziel zu erreichen, in der Hoffnung, dass die Bundesregierung den lästigen Schuldenproduzenten an die Börse durchreichen könnte. Das ist kläglich gescheitert – so doof ist der Markt nun auch wieder nicht.

Wir haben jetzt das zweifelhafte Glück, einen wesentlichen Teil unseres Mobilitätssystems über die nächsten 20 – 30 Jahre wieder hochzupäppeln, um eine sinnvolle und funktionierende Infrastruktur jenseits des Automobils zu erhalten.

Das Automobil wird uns noch Jahrzehnte (möglicherweise als E-mobil) begleiten, aber der Platzbedarf dieser Form von Mobilität verstopft als „ruhender Verkehr“ unsere Wohngebiete und als aktiver Verkehr unsere Verbindungsstraßen. Das Automobil ist gerade dabei, seinen Prestige-Status zumindest in den großen Städten zu verlieren. Bei einem gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr wird das Auto in den städtischen Verdichtungen eher zu einem Hindernis, denn ein Mittel für Mobilität.

Die Fokussierung auf den Markt ließ einen neuen Gedanken Realität werden: die Globalisierung. Das regelbasierte Wirtschaftssystem, dem sich viele Wirtschaftsnationen verpflichtet fühlten, hat dazu geführt, dass die Lieferketten und die damit eng verbundene Skalierung der Produkte ausgebaut wurden. Man teilte die Produkte auf, skalierte sie und suchte für jedes Teil oder Teilsystem die billigsten Produktionsverhältnisse und verlagerte deren Produktion auf den Globus dorthin, weil der Transport (die sogenannte Lieferkette) so billig darzustellen war, dass sich diese Vorgehensweise trotz des unstreitig erhöhten Koordinationsbedarfs offensichtlich rechnete. Diese Idee hat eine ganz wichtige Voraussetzung: Auf dem Globus muss zumindest in wesentlichen Teilen Frieden und wechselseitig akzeptierter Freihandel (zumindest keine Zölle) herrschen und die Teilnehmer an der Globalisierung müssen sich dem wirtschaftlichen Diktat des kapitalistischen Wirtschaftsweise unterwerfen. Manche nennen diese Wirtschaftsform deshalb auch Wirtschaftskolonialismus.

Die Pandemie hat dann trotz relativ friedlicher Umstände deutlich gemacht, dass die Idee der Globalisierung eine sehr fragile Konstruktion darstellt. Mit dem Angriff Putins auf die Ukraine in 2022 wurde für jedermann klar, dass die Voraussetzungen für eine weitere Globalisierung wohl nicht mehr vorliegen. Dann kommt 2025 Donald Trump an die Macht und meint, dass Zölle eine wunderbare Idee seien, um seine MAGA-Ideologie der Welt aufs Auge zu drücken. Erste Reaktionen zeigen, dass diese Vorstellungen auf heftigen Widerspruch stoßen. Dabei geht es nicht nur um verbale Reaktionen, sondern um die Reaktionen des Finanzmarktes. Sollte sich herausstellen, dass Trump bei diesem Verwirrspiel große finanzielle Gewinne erzielt hat, wird es eng für ihn. Er hätte dann eine heilige Kuh des amerikanischen Finanzsystems in Frage gestellt und diejenigen, die ihn großzügig unterstützen, werden sich absehbar (vorsichtig) zurückziehen.

Die veränderten geopolitischen Gegebenheiten haben schlagartig auch deutlich gemacht, dass unsere Infrastruktur nicht nur auf dem Felde der Mobilität und der Verteidigung völlig vernachlässigt wurde. Plötzlich rückt die Tatsache in den Fokus, dass wir zwar nach dem Kriege einen bemerkenswerten Wiederaufbau hingelegt haben, aber wir haben im Neoliberalismus vor lauter Markt „vergessen“, dass diese damals aufgebaute Infrastruktur auch systematisch erhalten und gegebenenfalls auch ausgebaut werden muss.

Wir haben im Rahmen der Ideologie des Neoliberalismus alles getan, um den angeblichen „Moloch“ unserer Bürokratie abzubauen, so die fehlerhafte Argumentation. Im Rahmen dieser Verschlankungen wurden Ämter geschlossen, Personal ausgedünnt, Dienstleistungen der Verwaltung ausgelagert, bis die heutige Verwaltung einen Zustand erreicht hat, bei der die infrastrukturellen Aufgaben nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden können. Gleichzeitig hat aber die Flut von teilweise fragwürdigen Regulierungen ständig zugenommen und niemand hat die Schere, die sich dadurch auftat, erkennen wollen.

Heute ist wie schon vor Jahren die „Entbürokratisierung“ wieder ein riesiges Thema. Solange man hierbei immer nur die Verwaltung im Auge hat, wird es nichts werden. Der Fisch stinkt vom Kopf her – die Verwaltung ist an die Gesetze gebunden, also kann man nicht erwarten, dass die Verwaltung in der Lage ist, sich selbst zu entbürokratisieren. Das muss schon ein politisches Gremium machen. Das ist aber eine mühselige Arbeit, die vermutlich wenig Freude bringt, weil es schwer wird, aus dieser Konstellation als erfolgreicher „Sieger“ hervorzugehen. Das Feld war schon in der Vergangenheit mit ausreichend politischen Leichen gepflastert.

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