Schlagwort-Archive: Ideologie

Ökonomie und Resilienz

Man kann der gegenwärtig praktizierten Wirtschaftswissenschaft nur schwer die Kompetenz absprechen. Dazu tritt sie zu dominant auf und ist im täglichen Leben allgegenwärtig. Aber man kann der Orthodoxie die Fähigkeit absprechen, sinnvoll einer grundlegend neuen Situation mit neuen Methoden bzw. mit wirtschaftlich neuen Strategien zu begegnen bzw. sie zu unterstützen.

» weiterlesen


Unsere Wirtschaftswissenschaften sind auf das Gedankenmodell des Kapitalismus ideologisch fixiert. Sie hat die Tatsache, dass das Hauptziel des menschlichen Wirtschaftens in der Versorgung der Bevölkerung liegen könnte, komplett an den Rand geschoben. Stattdessen wurde der „Raubzug“ (die individuelle Bereicherung) zum globalen Ziel. Und es ist dafür gesorgt, dass dieses Ziel nur eine Minderheit der Teilnehmer auf Kosten der Mehrheit und insbesondere auf Kosten unserer Lebensgrundlage (der Biosphäre) auch wirklich erreicht.

Zu meiner Jugendzeit gab es noch den real existierenden Sozialismus oder auch Kommunismus. Der Kapitalismus hatte sich verständlicherweise dagegen klar abzugrenzen. Der ideologische Druck auf den Kapitalismus war groß und die Antwort des Kapitalismus war, wie nicht anders zu erwarten, hochgradig ideologisch. Nachdem die sozialistischen und kommunistischen Ansätze als nicht realisierbar aufgegeben werden mussten, hat der Kapitalismus seine ideologische Haltung aber konsequent beibehalten. Es ließ sich recht gut damit leben und im Zweifelsfall standen einfache und schlichte Argumente zur Verfügung, um die kapitalistische Position zu verteidigen. Und die wirklichen Gewinner in diesem Spiel sind nicht notwendig viele, aber sie sind einflussreich und sorgen dafür, dass unter dem Gesichtspunkt der Bestandssicherung Änderungen nur in geringem Umfang eintreten.

Inzwischen verfügen wir über breitere Erkenntnisse. Die kapitalistische Wirtschaftsweise wird als effizient verstanden, aber sie produziert dabei laufend sogenannte externe Effekte oder auch „Externalitäten“, die im Einzelfall vernachlässigbar erscheinen, aber über die Jahrzehnte und in Summe „Kollateralschäden“ verursacht haben, die uns heute summarisch als „Klimakrise“ beglücken. Wir stehen vor der Frage, wie wir in Zukunft wirtschaften sollen, um die angesprochenen Kollateralschäden zu vermeiden oder doch in Summe drastisch zu verringern?

Das ist aber eine Frage, die man einer stark ideologisch geprägten Wirtschaftslehre nicht stellen kann. Die Ideologie ist der Auffassung, dass Wirtschaften nur im Rahmen der von ihr vertretenen Perspektive möglich ist. Etwas anderes zu denken ist „des Teufels“. Sie können dem Papst auch nicht den Vorwurf machen, dass er die Welt ausschließlich durch die katholische Brille sieht.

Das Problem dieser ideologischen Haltung liegt darin, dass bis auf ein kleines Häuflein von Ökonomen die orthodoxe Lehre sich überhaupt keine Gedanken macht oder gemacht hat, wie man denn auf den Fall reagieren könnte und müsste, wenn sich die herrschende Auffassung als unzureichend, falsch, oder gar schädlich erweisen könnte.

Unser gegenwärtiges Wirtschaftsdenken ist auf die kurzfristige Unmittelbarkeit beschränkt. Manche indigenen Völker (und auch in unserer eigenen Geschichte) beziehen bei Entscheidungen die absehbaren Handlungskonsequenzen für mehrere Generationen ein. Wir meinen, mit dem schmalen Bild von Angebot und Nachfrage seien regelmäßig alle wichtigen handlungsleitenden Parameter erfasst. Alles andere gilt als vernachlässigbare Externalität.

Die Ökonomie spricht gerne von ihren Erkenntnissen als quasi „physikalische Gesetze“, und geht bevorzugt davon aus, dass sie ewig gelten werden. Die Ökonomie macht dabei aber den Kardinalfehler, dass sie sich auf ein mechanistisches Weltbild aus der Zeit Newtons (1642 – 1726) beruft. Dieser mechanistische Ansatz eignet sich nicht oder nur sehr eingeschränkt, um die komplexen sozialen Prozesse des gegenwärtigen Wirtschaftens hinreichend zu beschreiben oder gar zu verstehen.

Man könnte nun meinen, es wäre doch ein einfaches, die externen Effekte beim wirtschaftlichen Handeln künftig zu berücksichtigen. Der Begriff der externen Effekte ist ein Sammelbegriff für alles, was die Wirtschaftswissenschaften in ihren Betrachtungen bevorzugt als irrelevant ausschließen. Dazu zählen teilweise auch die Erkenntnisse anderer Wissenschaftszweige wie Psychologie, Soziologie, Physik und politische Wissenschaften. Dahinter verbirgt sich ein ganzer Kosmos der verschiedensten Aktivitäten und Zusammenhängen. Man könnte auch sagen, die Wahrnehmung der Externalitäten könnte einen Untersuchungsfeld eröffnen, das die Wirtschaftswissenschaft gegenwärtig weder kennt noch beschreiben kann, schweige denn Vorschläge entwickeln könnte, wie künftig damit umgegangen werden soll.

In lockeren Gesprächen wird oft der Vorschlag gemacht: gebt den Externalitäten einfach Preise, dann gewinnen sie im ökonomischen Sinne Entscheidungsrelevanz. So einfach ist das nicht. Der als Externalität erfasste Sachverhalt taucht ja in dem Begriffsapparat der Wirtschaftswissenschaften nicht mehr auf. Der Begriff der Externalität ist wie ein großer Papierkorb zu verstehen, in den „Überflüssiges“ entsorgt wird. Man kann im Rahmen der Ökonomie einen Preis nur festlegen, wenn der bezeichnete Gegenstand ein Wirtschaftsgut darstellt, das nach herrschender Meinung auf einem Markt Abnehmer findet. Das ist durch die Klassifizierung als Externalität aber ausgeschlossen.

Ob die Externalitäten Wirtschaftsgüter sein können, entscheidet sich auch an der Frage der Eigenständigkeit. Externalitäten sind oft Eigenschaften eines Wirtschaftsgutes oder eine Prozesses, die im Einzelfall als vernachlässigbar angesehen, aber in der Masse dann relevant werden kann. Für die Masse ist aber nach herrschender Auffassung niemand mehr verantwortlich zu machen, weil jeder Einzelfall (möglicherweise zu Recht) als irrelevant angesehen wurde. Hieraus kann man in etwa erkennen, dass eine Veränderung der relevanten Wirtschaftssituation nicht oder nur schwer durch Reparaturen am Begriffsapparat der orthodoxen Wirtschaftslehre erfasst werden kann.

Noch schwieriger wird es, wenn man davon ausgeht, dass die strikte Wachstumsorientierung unseres Wirtschaftssystems künftig mit ziemlicher Sicherheit ein Auslaufmodell sein wird. Oft wird lapidar vorgetragen, dass Wohlstand die neue Orientierung sei. Wachstum ist ein einfacher Quotient, der aus dem Bruttoinlandsprodukt gewonnen wird. Wohlstand ist ein deutlich komplexerer Sachverhalt, dessen Bestimmung je nach Verfahren i.d.R. eine ganze Reihe von unterschiedlichen Sachverhalten kombiniert, die sowohl quantitative als auch qualitative Kenngrößen umfassen.

Die Aufhebung des simplen und direkten Zusammenhangs von Wirtschaften und Wachstum könnte auch damit beginnen, dass man das mit dem Wachstum eng verbundene Kurzfristigkeitsdenken durch neue Regeln aufzubrechen versucht. Dieser Vorgänge lösen aber zwangsläufig eine Entwicklung aus, die die Verteilung von Gewinnern und Verlieren des Prozesses neu mischt.

Für die Produkte werden künftig z. B. gesetzlich Mindestlebenserwartungen definiert, wird Reparaturfähigkeit gefordert und eine Produkteigenschaft erwartet, die das einfaches Recyceln der eingesetzten Materialien sicherstellt. Bei Investitionen ist zu bestimmen, dass Erhaltung und Sanierung Priorität vor Neuanschaffung erhält. Dem Neubau wird auferlegt, so zu bauen, dass das Produkt eine lange Lebensdauer aufweist und mit einfachen Mitteln erhalten, an neue Verwendungen angepasst bzw. saniert werden kann. Zur Durchsetzung muss das Gesetz den Nutzern bzw. der Aufsicht die Möglichkeit bieten, die Beachtung die neue Regeln auf dem Rechtsweg durchzusetzen.

Durch die konkrete Unterbindung einer ständigen Kurzfristorientierung unserer gegenwärtigen Wirtschaftsaktivitäten werden wir feststellen können, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem ein riesiges System systematischer Verschwendung darstellt. Wir sind zwar effizient im Kleinen, aber durch unsere Orientierung an der Kurzfristigkeit dürfen die Güter, die wir produzieren, nicht zu lange halten, weil jeder dadurch veranlasste Neuverkauf die „Kiste am Brummen“ hält – zu Lasten unserer Lebensgrundlagen und unserer Mitwelt.

Die Wirtschaftswissenschaften gehen von einem ewigen Wachstum aus. Die Formel, die das Wachstum beschreibt, ist dabei so gestaltet, dass das Wachstum nicht nur in der Erwartung des Ewigen steht, sondern auch aufgrund der formalen Erfassung als Exponentialgleichung irgendwann mathematisch „explodiert“. Das hat aber bisher offensichtlich noch die wenigsten Wirtschaftswissenschaftler so richtig interessiert. Ähnlich geht es mit dem Ressourcenverbrauch, der natürlich für einzelne Ressourcen als begrenzt erkannt wird. Als Entlastung kommt dann schnell der Begriff der Substituierbarkeit ins Spiel . d.h. die knappe (und damit eventuell teure) Ressource wird dann durch eine andere ersetzt. Von der grundsätzlichen Möglichkeit der Endlichkeit der Ressourcen spricht die Ökonomie gewöhnlich nicht.

Die Thermodynamik der modernen Physik kann darstellen, dass alle Prozesse in der Natur irreversibel ablaufen, d.h. wenn ein Gleichgewichtszustand (und der spielt in den Wirtschaftswissenschaften eine beachtliche Rolle) durch laufende Prozesse verlassen wird, ist der alte Gleichgewichtszustand nicht mehr wiederherzustellen. Eventuell ist ein neues Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau darstellbar. Wenn wir Steinkohle verheizen, entsteht im Wesentlichen Energie, Staub und CO2. Der Prozess ist aber nur in dieser Richtung durchführbar (also irreversibel). Wir kennen das von den sogenannten Kipp-Punkten, deren Überschreitung ein Zurück zum Ausgangspunkt verbauen.

Aus Energie, Staub und CO2 sind wir nicht in der Lage, wieder Kohle herzustellen. Das klingt lächerlich, aber die auf der Mechanik aufbauende Theorie der Wirtschaftswissenschaften kann so etwas postulieren. Sie werden aber hoffentlich keinen ernstzunehmenden Vertreter finden, der diese Vorstellungen für die Praxis behauptet.

Die Irreversibilität der natürlichen Prozesse führt dazu, dass jeder dieser Prozesse einen Beitrag zur Entropie leistet. Dabei beschreibt Entropie ein Maß für die Umwandlung von Ressourcen in Energie. Die Energie ist nicht mehr auflösbar oder rückführbar. Je mehr wir Ressourcen extrahieren, desto mehr Energie setzen wir frei. Die „Entropiezeche“1 zahlen wir dadurch, dass die Energie nach unserem Gebrauch zwar in der Welt ist, aber für uns künftig nicht mehr nutzbar ist. Diese hier grob umrissenen Gedanken aus der Physik nimmt die Wirtschaftswissenschaft i.d.R. gar nicht zur Kenntnis.

Wenn wir also viele dieser angesprochenen Gesichtspunkte (es gibt noch viel mehr) realisieren, werden wir – oft automatisch, weil die Zusammenhänge sich dann ändern, eine ganz beachtliche Veränderung unseres Wirtschaftssystems auslösen.

Rifkin2 identifiziert die handlungsleitende Effizienz als kritischen „Dreh- und Angelpunkt“ unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Aus meiner Sicht muss zur Effizienz noch die Gewinnmaximierung als Ausdruck der inhärenten Gier hinzugefügt werden, um den Gedanken einer effizienten Handlungsweise ins Schädliche zu übertreiben und damit unser System hinsichtlich seiner Anpassungsfähigkeit (Resilienz) nachhaltig zu schwächen.

„Der Übergang von der Effizienz zur Anpassungsfähigkeit geht mit umfassenden Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft einher,

  • etwa der Verschiebung von Produktivität zu Erneuerbarkeit, (als nachhaltiges Kriterium)
  • von Wachstum zu Wohlstand, (von einem engen Konzept zu einer Form der Vielfalt)
  • von Eigentum zu Zugang, (nicht der Besitz zählt, sondern die Nutzungsmöglichkeit)
  • von Märkten mit Käufern und Verkäufern zu Netzwerken mit Anbietern und Nutzern, (das schlichte Denken in Angebot und Nachfrage weicht einer komplexeren Kommunikation)
  • von linearen Prozessen zu kybernetischen Prozessen, (von simplen zu komplexen Systemen)
  • von vertikaler zu lateraler Integration, von zentralisierten zu dezentralen Wertschöpfungsketten, (von der Hierarchie zum Netzwerk)
  • von Unternehmenskonglomeraten zu agilen hoch technisierten kleinen und mittelgroßen Genossenschaften, verlinkt in variablen Gemeingütern,
  • vom geistigen Eigentum zu Open Source (kostenfreie Gemeingüter)
  • von Nullsummenspielen zu Netzwerkeffekten, (von Gewinnern u. Verlierern zu breiterer Teilhabe)
  • von der Globalisierung zur Glokalisierung, (von der Anonymität zur Regionalität mit deutlich begrenzten globalen Bezügen)
  • vom Konsumismus zu Ökosystemdienstleistungen, (‚Shoppen‘ ist dann keine Freizeitbeschäftigung mehr)
  • vom Bruttoinlandsprodukt zu Indikatoren der Lebensqualität, (siehe Wachstum vs. Wohlstand)
  • von negativen externen Effekten zur Kreislaufwirtschaft, (Müll ist keine Lösung)
  • von der Geopolitik zur Biosphärenpolitik.“3 (Erhaltung der Biosphäre als Lebensgrundlage)

Es geht nicht darum, Verhaltensweisen zu diskreditieren, es geht darum, festzustellen, dass bestehende und verbreitete Verhaltensweisen keinen Beitrag zur Problemlösung mehr darstellen. Insofern werden wir an einer Transformation unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsleben nicht vorbeikommen. Je früher wir das verstehen, desto erträglicher werden die Konsequenzen sein.

„Früher dachte ich, die größten Umweltprobleme seien der Verlust der biologischen Vielfalt, der Zusammenbruch der Ökosysteme und der Klimawandel. Ich dachte, mit 30 Jahren guter Wissenschaft wären wir in der Lage, diese Probleme zu adressieren. Aber ich habe mich geirrt. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Apathie … und um diese Probleme zu lösen, brauchen wir einen geistigen und kulturellen Wandel.“4

…………………………………………………………………………………………………..

1Diesen Begriff habe ich bei J. Rifkin (Das Zeitalter der Resilienz, 2022) erstmals gefunden.

2Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, 2022

3Jeremy Rifkin, 2022, S. 12 (In Klammern habe ich versucht, minimale Erläuterungen zu geben)4

4Gus Speth, in: Duncan Austin, “The Towering Problem of Externality-Denying Capitalism”, real-world economics review, issue no. 102, 18. December 2022, pp. 30-54, (eigene Übersetzung)

» weniger zeigen

Kapitalismus im Wandel

Die Bankenkrise in 2008/2009 kennzeichnet vermutlich den Wendepunkt des Neoliberalismus. Seit wenigen Jahren bestimmt die Klimakrise unser wirtschaftspolitisches Denken. Der Grund liegt dabei in der Erkenntnis, dass zumindest der Kapitalismus westlicher Prägung seine Anziehungskraft verliert, weil die laufend notwendigen Reparaturen an diesem System den vermittelten Erwartungen widersprechen. Dabei setzt den Beobachter in Erstaunen, dass die kapitalistische Ökonomie zwar die Defizite erkennt, aber keine Ideen oder Vorschläge entwickelt, wie die Defizite auszugleichen sind.

» weiterlesen

Meine Erklärung für dieses Verhalten ist sehr einfach und direkt: Wenn das System des Kapitalismus im Wesentlichen auf glaubensähnlichen Dogmen beruht, so können wir von den Hohepriestern der kapitalistischen Ökonomie nicht erwarten, dass sie Alternativen bereitstellt. Es ist ähnlich wie mit der katholischen Kirche. Mit ihr können Sie auch nicht über eine alternative oder neue Bibel verhandeln. Das stellt ihr Selbstverständnis in Frage.

Damit kommen wir an eine Grundsatzfrage: Wenn eine Veränderung von innen heraus auf der Basis von Einsicht nicht möglich erscheint, so müssen wir einen Ansatz von außen versuchen. Der radikale Ansatz versucht Struktur und Prozesse in einem Schritt zu eliminieren. Man nennt so etwas vereinfacht Revolution und stürzt damit das gesamte System ins Chaos. Es gibt in der mehr als 200-jährigen Geschichte unseres Wirtschaftssystems Beispiele, die m.E. ausnahmslos schief gegangen sind. Wenn man glaubt, dass man weiß wie ein neues System auszusehen hat und man nimmt den Weg über die „tabula rasa“, landen wir immer in der Restauration, also in einer Neuauflage des alten System, weil die Unsicherheit für die vielen Beteiligten so groß wird, dass man sich „sicherheitshalber“ schnell wieder der alten Regeln erinnert und restauriert. Das kann nicht der Königsweg sein.

Der alternative Weg ist der Weg durch die Institutionen. Wir gehen von der Prämisse aus, dass wir Struktur und Prozess zu unterscheiden wissen. Wir lassen gedanklich die Infrastruktur bestehen und wenden uns einer schrittweisen Änderung der Prozesse zu. Die Erhaltung der bestehenden Infrastruktur vermittelt die notwendige Sicherheit und Beständigkeit. Die inkremental veränderten Prozesse geben uns die Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln und ggfs. Fehler zu korrigieren. Das ist die ganz normale Strategie, die zur Anwendung kommt, wenn Organisationen erkennen, dass ihr bisheriger Weg zwar erfolgreich war, aber die Fortführung des Weges aufgrund von Änderungen der jeweiligen Umwelt nicht mehr tragbar, nicht finanzierbar oder schlicht obsolet zu werden droht.

Wenn wir uns über das „Wie ändern?“ möglicherweise einig sind, kommt die Frage nach dem „Was ändern?“. Dabei gibt es auch hier mindestens zwei Alternativen: Eine Reihe von ernst zu nehmenden Autoren (soweit ich sie kenne) konzentriert ihre Kritik auf die Wirtschaftstheorie. Die vorgeschlagenen Änderungen greifen die Modelle an, die der Theorie zugrunde liegen. Diese Aufgabe halte ich für wichtig, aber nicht unbedingt für zielführend.

Die Wirtschaft lebt nicht von der Theorie, sondern vom „Handeln“ und wenn es der Theorie gelingt, das Handeln nachträglich in eine Theorie zu kleiden, umso besser. Die Alternative ist die Beschreibung von festgestellten Defiziten des praktizierten Kapitalismus verbunden mit möglichst konkreten Vorschlägen zu deren Beseitigung.

Dabei möchte ich mich auf Ausführungen von Roger de Weck aus dem Jahr 2009[1] beziehen. Er versucht, die seinerzeitige Krise des Kapitalismus zu erklären und fügt jedem seiner Kapitel ein Fazit bei, indem er die aus seiner Sicht wichtigen und notwendigen Änderungen zusammenfasst. Wichtig ist mir der Hinweis, dass de Weck nicht die Infrastruktur grundsätzlich in Frage stellt, sondern dass er neue Wege vorschlägt, die im Rahmen der Struktur umsetzbar sind. In anderen Fällen richtet er seine Aufmerksamkeit darauf, die bestehenden Prozesse in Frage zu stellen, zu verbessern oder ggfs. künftig zu unterbinden. De Weck hat nicht den Anspruch, die Welt neu zu erfinden, sondern macht Vorschläge, die Welt nur insoweit zu ändern, dass sich neue interessante Wege eröffnen und offensichtliche Fehlentwicklungen künftig entfallen:

Im Folgenden sind seine Gesichtspunkte wiedergegeben, wobei jedes Kapitel seines Buches mit einem „Fazit“ endet:

„Fazit 1

Ein ausgewogener Kapitalismus braucht

  • Mechanismen der Mäßigung von Gier;
  • ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital und namentlich den Abbau steuerlicher Privilegien für das Kapital;
  • Schranken für den Steuerwettbewerb, der mittelfristig die Staaten auszehrt;
  • eine Abkehr vom Defizitdenken in den Vereinigten Staaten und – weil per Definition die Defizite die Überschüsse der anderen ausmachen – ein Ende der trügerischen Sucht nach Überschüssen in Asien und Europa.

Fazit 2

Im real existierenden Kapitalismus

  • bleibt der Staat so wichtig wie der Markt;
  • ist die gemischte Wirtschaft bewusst zu gestalten;
  • ist der Markt als Macht zu begreifen;
  • ist Gegenmacht aufzubauen, damit sich auch die nicht-ökonomischen Werte behaupten.

Fazit 3

Ein demokratischer Kapitalismus

  • beachtet den Vorrang der Demokratie vor der Ökonomie und bricht die Übermacht der Finanzwelt;
  • sorgt für viel Unabhängigkeit der Politik von Wirtschaftsinteressen;
  • achtet den Staat und seine Institutionen;
  • hat zugunsten vernünftiger und wirtschaftsfreundlicher Rahmenbedingungen ein hohes Interesse an einer kompetenten, leistungsfähigen Verwaltung.

Fazit 4

Ein stabiler Kapitalismus

  • verbietet die Spekulation, wo sie viel Schaden stiftet;
  • erdet die Geldhäuser, indem er ihnen viel Eigenkapital abverlangt und sie mithaften lässt, wenn sie Risiken auf ihre Kunden abwälzen;
  • bestraft massiv Gehalts und Bonusexzesse;
  • schafft Anreize für nachhaltige Firmenstrategien, namentlich durch Steuerrabatte auf Gewinne, die wieder ins Unternehmen fließen, und durch Vorgaben für langfristig ausgerichtete Bonus-Systeme.

Fazit 5

Ein nachhaltiger Kapitalismus

  • lenkt den Eigennutz auf soziale und ökologische Ziele statt allein auf das Gewinnziel;
  • will kein Wachstum um jeden Preis;
  • gründet darauf, dass Eigentum verpflichtet;
  • demokratisiert beharrlich Wirtschaft und Volkswirtschaft.

Fazit 6

Ein liberaler Kapitalismus

  • vermeidet es, in den Markt zu intervenieren, scheut sich aber nicht, ihn zu regulieren;
  • erklärt Unternehmen, deren Konkurs die Volkswirtschaft zerrütten würde, für „systemrelevant“ und erhebt Gebühren für die gewährte Staatsgarantie;
  • schreckt Aktionäre notleidender Firmen davon ab, Staatshilfe zu beanspruchen, indem er sie bei Rettungsaktionen automatisch enteignet;
  • setzt Anreize, um zur Eigenverantwortung und längerfristigen Ausrichtung aller Wirtschaftsakteure beizutragen.

Fazit 7

Im globalen Kapitalismus

  • wird Kooperation so wichtig wie Konkurrenz;
  • hängen Frieden und eine stabile Weltwirtschaftsordnung von der politischen Weitsicht und ethischen Einsicht in die Notwendigkeit  eines Ausgleichs der Interessen zwischen Nord und Süd ab;
  • muss die Staatengemeinschaft lebensnotwendige Ressourcen mit einem Preis versehen;
  • sind eine Weltwirtschafts- und Weltwährungspolitik unerlässlich.“

Aus meiner Sicht stellt sich zu den Ausführungen die Frage: Kann man die vielen sinnvollen und m.E. auch richtigen Gesichtspunkte auf wenige, dominierende „Kenngrößen“ zurückführen? Eine Umsetzung von 28 durchaus sinnvollen Ansatzpunkten fordert u.U. 28 mal Widerspruch heraus. Wenn wir jede der Forderungen linear aufreihen und uns an die Abarbeitung machen würden, könnte es sein, dass wir mehrfach Impulse setzen, die immer wieder an den gleichen Punkten scheitern, weil wir die interne Vernetzung der Gesichtspunkte nicht ausreichend beachtet haben. Die Umsetzung ist dann erfolgversprechend, wenn es gelingt, die oft im Hintergrund stehenden, übergeordneten funktionalen Ordnungsprinzipien zu identifizieren und sie dann auf ihrer Wirkungsebene zu neutralisieren, zu stärken oder durch neue zu ersetzen. Die Idee, die dahinter steht, geht davon aus, dass Maßnahmen, die an den nachgeordneten Folgen herumzudoktern, sinnlos sind, ohne die dahinter liegenden Ursachen zu verändern.

Eines dieser Ordnungsprinzipien scheint m. E. die hochgradige Fokussierung und Reduzierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Denkens auf eine Rendite in Geld zu sein. Dahinter steht die Erwartung, dass jede Handlung, die wir vornehmen, Nutzen hervorrufen kann. Dabei könnte der ‚Nutzen‘ ja in vielerlei Hinsicht (und damit nicht nur in Geld) interpretiert werden. Unsere Fokussierung auf den monetären Aspekt führt zu einer unnötigen Verengung der Perspektive, die unserem allgemein verbreiteten ‚linearen‘ Denken aber sehr entgegenkommt. Dadurch wird der Glaube unterstützt, dass Effizienz und Effektivität abschließend messbar seien. Das gilt aber nur unter der Prämisse eines extrem kurzen Zeithorizontes. Wieviel kurzfristige Effizienz- und Effektivitätserfolge erweisen sich auf längere Sicht als komplette Fehleinschätzung, weil wir uns gewöhnlich für die längerfristige Perspektive unseres Handelns nicht verantwortlich fühlen. Der Grund liegt vielfach darin, dass die Entscheidungssituationen bei einer größeren Variabilität der Prämissen eine deutlich höhere Lösungskomplexität verlangen als unsere gängigen ökonomischen Entscheidungsmodelle bereitstellen.

Was könnte das konkret bedeuten?

  • Das Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ als rein quantitatives Maß muss auf eine breitere (komplexere) Basis gestellt und insbesondere auch dem Aspekt der Qualität als Kriterium ein Platz eingeräumt werden.
  • Für den Rahmen der Fristigkeiten muss eine Erweiterung der Produktverantwortlichkeit der Handenden diskutiert werden (Stichworte: Nachhaltigkeit, längerfristige Konsequenzen, wie z.B. Reparaturfähigkeit, Ersatzteilverfügbarkeit).
  • Die in der Verfassung enthaltene Sozialbindung des Eigentums muss eine erweiterte Wirksamkeit und justitiable Konkretisierung erhalten.
  • Die Linearität unserer Denkgewohnheiten, die immer nur eine Ursache auf die linear nächstliegende Wirkung bezieht, muss einer komplexeren Betrachtung der vernetzten Zusammenhänge weichen. Es geht nicht schlicht um das Messbare, es geht auch oft um Qualitäten, die sich einer Messbarkeit entziehen, aber heftige Wirkungen darstellen.

Das gängige Entscheidungskriterium der ‚Rendite‘ repräsentiert ausschließlich die Sichtweise des Investors und nicht die der Nutzer und ggfs. der Öffentlichkeit. Die Lösung könnte statt der schlichten Renditebetrachtung eine Konzeptualisierung des investiven Vorhabens sein. Statt Geld als alleiniges Kriterium zu verwenden, sollte ein „Konzept“ entstehen, das vielfältige Gesichtspunkte aufgreift und zu einer entscheidungsfähigen Einheit verbindet. Das erfolgt vielfach heute schon, nur leider intern und hinter verschlossenen Türen. Die Rentierlichkeit trägt man letztlich als veröffentlichte Projektbegründung des Investors vor. Die restlichen Überlegungen und Konsequenzen werden als unbeachtlich übergangen und „poppen“ zur Unzeit wieder hoch.

Wir greifen mit diesem Argument auch in die bisher praktizierte Unbedingtheit des Eigentums ein, obwohl wir uns schon vor langer Zeit eine Verfassung gegeben haben, in der eindeutig eine Sozialbindung des Eigentums vorgesehen ist (Art. 14, II GG).

Wir müssen zusätzlich feststellen, dass unsere individuellen Ansprüche auf Fläche und Raum zunehmen. Die Spielräume werden folglich kleiner für eine freie Entfaltung ohne Einschränkungen des Spielraums unseres Nächsten. Die Sozialbindung fand bisher nur als Feigenblatt in den politischen Reden Anwendung. Künftig wird diesem Gedanken wohl mehr konkretes Gewicht verliehen werden müssen. Auch wird der Sozialbindungsgedanke die Anwendung des ausschließlichen Rendite-Gedankens als singuläre Entscheidungsbasis zusätzlich einschränken .

Je eher wir erkennen, dass Ressourcen endlich sind, desto mehr werden wir wieder die ‚Qualität‘ zu schätzen wissen, die wir den Dingen jenseits des Geldes zumessen müssen, weil sie nicht mehr beliebig verfügbar sind. Es handelt sich um eine Frage der kollektiven Einstellung. Was Qualität ist und wie wir damit umgehen, müssen aber wir bestimmen.


[1] De Weck, Roger: Nach der Krise – Gibt es einen anderen Kapitalismus?, München 2009.

» weniger zeigen