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Demokratie im Wandel?

Die von weiten Teilen unserer Bevölkerung akzeptierte repräsentative Demokratie steht unter Beobachtung. Einerseits fühlen sich viele als abgehängt und sind frustriert (nach dem Motto: unsere Stimme zählt sowieso nicht) und andererseits sind die tatsächlichen ablaufenden Prozesse für viele nicht mehr nachvollziehbar.

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Viele sind auch zu bequem geworden, sich mit den Prozessen, die sie nicht unmittelbar betreffen, zu befassen. Die Vorstellung einer Gemeinschaft, für die es sich lohnen könnte, sich einzusetzen, droht verloren zu gehen.

Es gibt viele Gründe für dieses Verhalten. Einer mag darin liegen, dass in unserem bisher gepflegten Wirtschaftssystem „Freiheit und Autonomie Hand in Hand gehen. Autonom zu sein bedeutete frei zu sein und frei zu sein bedeutete autonom zu sein. Es war jedoch eine eigentümliche Form der Freiheit. Im Zeitalter des Fortschritts herrschte eine negative Freiheit – die Freiheit von Bindungen, die Freiheit von Zwang, die Freiheit der Autarkie und Eigenständigkeit, die wir bis heute kennen. Unter den Angehörigen der sogenannten Generation X, Y, und Z stößt dieses Verständnis von Freiheit zunehmend auf Ablehnung. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, die von Eigentum zu Zugang, vom Tauschwert zu Teilwert, von Märkten zu Netzwerken und von Autonomie zu Teilhabe übergeht. Für eine intelligent vernetzte Kohorte von Digital Natives kämen Autonomie und Ausschließlichkeit – die Abschottung vom Rest der Welt – einem Todesurteil gleich“, meint Jeremy Rifkin1.

Etwas allgemeiner fasst eine Studie der OECD aus dem Jahr 2019 ihr Urteil über die repräsentative Demokratie zusammen: „Die aktuellen Strukturen von Demokratie und Staatsführung lösen ihre Versprechen nicht ein.“2

In Berlin hat man diese Ausführungen offensichtlich auch zur Kenntnis genommen. Man ist sogar aktiv geworden und hat vor wenigen Wochen einen Bürgerrat ins Leben gerufen, um der Politikverdrossenheit etwas entgegen setzen zu können. Ich persönlich halte diesen Vorgang für sehr bemerkenswert, aber die Resonanz oder sagen wir, ein gezieltes ‚Marketing‘ für dieses neue, die repräsentative Demokratie ergänzende Instrument als wichtigen Schritt in die richtige Richtung ist nicht festzustellen. Das Gremium ist installiert, aber ganz schnell ‚Schwamm drüber‘, damit es ja keiner merkt. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären?

Nach der Theorie der repräsentativen Demokratie fällt den Parteien u.a. die Aufgabe zu, die Ideen und Stimmungen der Bevölkerung aufzugreifen und ihnen ein Gesicht zu geben. Wir müssen leider feststellen, dass diese Aufgabe nicht oder nicht mehr richtig wahrgenommen wird. Die Parteien nehmen nur auf, was in ihr Programm zu passen scheint, anstatt es umgekehrt zu machen: das Parteiprogramm anhand der Ideen und Stimmungen zu formulieren, damit hier ein Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Bevölkerung und den Erfordernissen einer staatlichen Organisation gefunden werden kann.

Die Parteien leben ähnlich wie die Abgeordneten in Blasen oder sogenannten Echokammern. Die Idee des Bürgerrates auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens könnte diese Echokammern wirkungsvoll aufbrechen. Das setzt aber voraus, dass dieses neue Instrument auch vom parlamentarischen ‚Fußvolk‘ akzeptiert und genutzt wird. Die Parteien müssen trotz der Kritik aus ihrer Schmollecke heraustreten und dieses Instrument aktiv für eine umfassende Politik nutzen.

Um die Bedeutung dieser Bürgerräte besser bewerten zu können, sollte man sich die Argumente der Altvorderen bei der Gründung der Demokratie in Amerika auf der Zunge zergehen lassen:

„Die Gründerväter waren in Sorge, dass in einer Demokratie unweigerlich Lager und Interessengruppen gegeneinander antreten und die Herrschaft des Volkes in die Herrschaft des Pöbels umschlägt, die Minderheiten zum Schweigen bringt und an den Rand drängt.3“ John Adams (2. Präsident der USA, 1791 – 1801) äußert sich ähnlich: „Eine Demokratie hält nicht lange. Sie verschwendet, erschöpft und erledigt sich von selbst. Es gab noch nie eine Demokratie, die nicht Selbstmord begangen hätte.4“ Man hat deshalb in Amerika alles daran gesetzt, eine basisdemokratisch orientierte Struktur zu verhindern. Diese Haltung wurde offensichtlich auch für die Verfassungen in Europa übernommen. Deshalb sollen die verschiedenen Bevölkerungsteile und Meinungsspektren lt. unserer Verfassungen durch Parteien repräsentiert werden. Aber offensichtlich gelingt das immer weniger.

Stattdessen haben sich die rechtsextremen Parteien darauf spezialisiert, dem Wahlvolk zu vermitteln, dass sie angeblich dem Volk ‚aufs Maul schauen‘ und rückwärtsgewandte Illusionen aufgreifen, um sie ‚ungefiltert‘ in den Politikbetrieb einzubringen, ohne ihr jeweiliges Realisierungspotenzial zu prüfen und sinnvoll abzuwägen.

Vor diesem Hintergrund müsste eigentlich die Einführung des Gedankens eines Bürgerrates ein demokratischer Paukenschlag sein. Ich habe den Paukenschlag leider nicht gehört, er war wohl sehr verhalten.

Dabei ist die Idee eines basisdemokratischen Elements unter Beibehaltung der repräsentativen Demokratie nichts Neues. Der Bürgerrat soll die repräsentativen Strukturen nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die „Echokammern“ können nur dadurch aufgebrochen werden, indem andere Perspektiven als jene der Parteien formuliert, aufbereitet und in den Politikbetrieb (als eine Form von Bürokratie) eingeführt werden.

Bürgerräte und vergleichbare Einrichtungen mit basisdemokratischen Elementen sind in vielen Ländern an der Tagesordnung. In einem gutgemachten Beitrag der ARD unter dem m.E. unglücklichen Titel: „Sollen wir wählen oder losen?“ wird ausgeführt, dass es weltweit mindestens 400 erfolgreiche Anwendungsbeispiele gibt, die sich auf eine Ausarbeitung von Prof. Dr. Peter Dienel5, Wuppertal aus den 1970er Jahren beziehen. Rifkin6 bezeichnet diese Form einer Ergänzung der repräsentativen Demokratie „Peerocracy“ und zeigt erfolgreiche Anwendungen des Konzeptes u.a. in Südamerika. Die Legitimationsstrukturen einer repräsentativen Demokratie bleiben dabei unangefochten, aber die Problemaufbereitung erfolgt in der bürgerschaftlichen Öffentlichkeit deutlich breiter als in den Hinterzimmern der Parteien. Rifkin verweist u.a. auf die Erarbeitung einer alternativen Haushaltsplanung durch die Bürgerräte, die offensichtlich den Nerv der Wähler trafen. In dem Beispiel wurde der Haushaltsplan von der repräsentativen Politik übernommen und schlicht umgesetzt.

Wichtig erscheint es, Bürgerräte auf allen Ebenen des politischen Geschehens einzurichten. Wir können davon ausgehen, dass durch die Beteiligung großer Bevölkerungsteile ein Wissen und ein Verständnis für politische Gesichtspunkte und deren oft komplizierte Umsetzung entsteht. Das ist Bildung am praktischen Objekt. Dazu braucht es kein Studium, dazu reicht ein gesunder Menschenverstand und ein paar neutral gehaltene Informationen, um die jeweilige Problematik angemessen zu vermitteln.

Bürgerräte werden zu einem Projektthema einberufen, befassen sich mit diesem Projekt und seinen Lösungsmöglichkeiten und erstellen einen Bericht. Nach der Diskussion des Berichts in den Gremien der repräsentativen Politik löst sich der jeweilige Bürgerrat wieder auf. Es entstehen keine neuen bürokratischen Strukturen, auf die sich z.B. Lobbyisten einstellen könnten, um ihren Einfluss auf das Projekt geltend machen zu können. Für ein anderes Thema wird ein neuer Bürgerrat zusammengestellt.

Dieser Vorgang ist m.E. eine Bildungsinitiative am praktischen Objekt, deren Reichweite nicht weit genug eingeschätzt werden kann. Im Umfang kleine Bürgerräte umfassen auf kommunaler Ebene etwa 25 bis 75 Personen. Auf Landkreisebene vielleicht 100 bis 150 Personen. Multiplizieren Sie bitte diese Zahl nur mit der Hälfte der Zahl der Kommunen zuzüglich der Landkreise, der Länder und auf Bundesebene. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch Problemstellungen gibt, die sich nicht an die bürokratische Gliederung unseres Gemeinwesens halten. Gehen wir weiter davon aus, dass es pro Gliederungseinheit mindestens einen Bürgerrat pro Jahr gibt. All das hochgerechnet gibt einen gigantischen Schub für mehr Beteiligung einerseits und andererseits im Bereich der politischen Bildung einen praxisorientierten Fortschritt, der heute kaum vorstellbar ist. Wir müssen nicht alle und jeden für Politik begeistern, aber wir würden durch die Bürgerräte eine Basis legen, um unsere Demokratie deutlich zu beleben, um reaktiver und kommunikativer zu werden. Die Kommunikation zwischen den Parteien bekommt sachlich neue Impulse und der teilweise kindische Hickhack um des „Kaisers Kleider“ könnte reduziert werden.
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1Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, Frankfurt 2022, S. 258f.

2Zitiert nach Rifkin, a.a.O., S. 261

3Rifkin, a.a.O., S. 258 (eine Aussage von James Madison, 4. Präsident der USA, 1809 – 1817)

4Zitiert nach Rifkin, a.a.O., S. 258

5Dienel, C. Peter, Die Planungszelle, 5. Auflage, 2004

6Rifkin, a.a.O., S. 259ff.

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