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Klimawandel braucht Wachstum??

Anlass für diese Fragestellung ist ein relativ kurzes Interview, das Lisa Nienhaus mit Mariana Mazzucato, (Ökonomieprofessorin) führte und in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende 20./21. Januar 2024 veröffentlichte. Mazzucato äußert sich zu einer Reihe von Wirtschaftsproblemen, zu denen ich keinen Widerspruch vorzubringen wüsste, aber sie führt dann aus:

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„Natürlich wollen wir Wachstum. (…) Wenn es kein Wachstum gibt, gibt es keine Beschäftigung, es fehlen die Innovationen, die wir brauchen (..). Wir brauchen Wachstum, um soziale und ökologische Probleme zu lösen. Wachstum ist nicht das Ziel, das Ziel ist es, diese Probleme zu lösen. (…)“ Hier hätte ich mir gewünscht, dass Lisa Nienhaus eingehakt hätte, um Mariana Mazzucato zu einer detaillierteren Erläuterung zu veranlassen.

So wie sich Mazzucato äußert, folgt sie der Argumentation der Mainstream-Ökonomie. Es kommt ihr gar nicht die Idee, dass sich hier ein eklatanter Widerspruch aufbaut. Die Wachstumsideologie hat zu mindesten zwei Problemen geführt: einmal zu Überproduktionen, damit das System überhaupt funktioniert (am Laufen gehalten werden kann) und zum anderen ist sie damit auch wesentlich Ursache für den Klimawandel. Es ist nun ein kurzer Weg von mehr Wachstum zu noch mehr Klimaproblemen – das ist m.E. kein Lösungsbeitrag!

Da Wachstum in der Vergangenheit scheinbar viele Probleme lösen konnte, hat sich die Ökonomie immer mehr auf dieses ‚Wundermittel‘ gestützt und hat nie ernsthaft überlegt, ob es hierzu nicht auch (komplexere) Alternativen geben könnte. Die Problemlösungen durch Wachstum haben immer mehr externe Effekte entstehen lassen, die zu Beginn vernachlässigbar erschienen, aber inzwischen bestimmen diese externen Effekte akkumuliert den Klimawandel und viele unserer sozialen und gesellschaftlichen Problemstellungen. Und die Ökonomie hat dazu keine Meinung, weil sie meint, dass sei nicht ihr Aktionsfeld, weil sie diese Effekte aus ihrem Weltbild bewusst ausgeklammert hat. Oder besser, sie kann es nicht, weil sie sich seit vielen Jahrzehnten nie über das Konzept der ‚externen Effekte‘ wirklich Rechenschaft abgelegt hat und deshalb die zunehmende Problematik gar nicht erkannte oder erkennen wollte.

Wachstum ist, so wie wir das Phänomen heute definieren, eine Exponentialfunktion, die in einem begrenzten bzw. endlichen System Erde keinen Platz hat. Sie explodiert relativ schnell ins Unendliche und kommt dadurch physikalisch absehbar mit der Endlichkeit des Planeten in einen ernst zunehmenden Konflikt. Die Wachstumsdefinition ist zudem ein völlig unzureichende Kennzahl, weil sie alles als Zuwachs erfasst, was ohne qualitativen Unterschied als Mehr, Höher, Schneller und in Geld dargestellt werden kann. Wenn das Ahrtal ‚absäuft‘, fließen die Aufwendungen zur Wiederherstellung der Zerstörungen als ‚Wachstum‘ in die Kennzahl ein. Nach der Logik werden wir bei zunehmenden Schäden durch Klimawandel bis zum bitteren Ende immer mehr Wachstum generieren.

Mazzucatos Ausführungen sind dahingehend zu interpretieren, dass sie die Lösung des Klimawandels im Wachstum sieht. Die Aussage impliziert m. E., die Lösung des Klimawandels auf (rein) technologischem Wege finden zu wollen. Ein alternativer Ansatz, der sich aus einer Ziel- und Verhaltensänderung und einer in Grenzen denkbaren technologischen Unterstützung ergeben könnte, schließt sie offensichtlich als aussichtslos aus. Mazzucato würde sich sonst vermutlich vorsichtiger ausdrücken.

Dabei tritt die Ökonomie auf wie eine naturgegebene Kaufmanns-‘Physik’. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft, d.h. das gegenwärtig gültige „Geschäftsmodel“ der Ökonomie ist eine soziale, menschengemachte, komplexe Struktur, die in der Vergangenheit zweifelsohne ihre Vorteile ausspielen konnte. Es ist aber ein Geschäftsmodell, das unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit langfristig ‚an die Wand fährt‘. Es sei denn, wir ändern das Geschäftsmodell. Das wird im Allgemeinen unter dem Begriff der Transformation erfasst.

Über die fälligen Änderungen gibt es gegenwärtig noch keinen Konsens, weil niemand so recht weiß, wo denn was geändert werden soll. In einer solchen Situation verfügt man über kein Ziel, aber man kann als Ersatzstrategie alle Aktivitäten unterlassen, deren Schädlichkeit erkannt wurden. In dem bestehenden Modell gilt als ein großer Treiber das, was man so allgemein als ‚Wachstum‘ bezeichnet. Das sogenannte Wachstum in einem räumlichen Bereich ist der Quotient (in Prozent) aus BiP des laufendes Jahres abzüglich des BiP vom Vorjahr (im Zähler) bezogen auf das BiP des Vorjahres (im Nenner). Ist die Prozentzahl positiv, sind die Gazetten voll des Lobes und sprühen vor rosigen Zukunftsprognosen. Im anderen Fall richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Regierung mit dem Hinweis, macht mal was! So ganz genau weiß man nicht, was zu machen ist, weil es viele Alternativen gibt und der schlichte Quotient wenig wegweisende Informationen bereithält. Er beschreibt einfach einen meist vorübergehenden Zustand, aber macht über den Prozess, wie die Zahl zustande kommt, keinerlei ergänzende Angaben.

Mazzucato glaubt in dem Zuwachs des Wachstumsquotienten einen Ausdruck für Innovationen sehen zu können. Das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. Das BiP (Bruttoinlandsprodukt) ist ein fortlaufender Prozess, der kann eine Kernleistung (vergleichbar wie im Vorjahr), einen Zuwachs an Leistungen und einen Abgang an Leistungen aufweisen. Wie man leicht erkennt, kann die Kernleistung zunehmen, weil z.B. die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung gestiegen ist und der Grundbedarf steigt, weil sich die Gesundheitsvorsorge wandelt, weil die Transportleistung wächst (u.ä.). Im Falle von Inflation kann BiP auch rein monetär wachsen. Darin drückt sich in aller Regel die quantitative Veränderung der Leistungserstellung aus. Die Innovationen, von denen Mazzucato spricht, sind qualitativ neue Leistungen, die es im Vorjahr als Innovation des Berichtjahres noch nicht gegeben hat. Sie werden vielleicht verstehen, dass ich hierin nur einen prozentual recht begrenzten Beitrag zum Wachstum erkennen kann, weil Kernleistung plus Zuwachs abzüglich Abgang in Summe und Durchschnitt etwa bei 1 – 1,5% liegen.

Was in der Diskussion regelmäßig nicht aufscheint, sind die Abgänge. Sie werden als Ausdruck der Schwäche gerne übergangen. Das sind aber jene Leistungen, die von Unternehmen im Vorjahr noch erbracht wurden, die aber aus unterschiedlichen Gründen im laufenden Jahr nicht mehr im Markt vertreten sind. Sie wären interessante Indikatoren für anstehende Veränderungen. Wenn der Wachstumsquotient nicht den Vorjahresquotienten erreicht, gibt es eine Vielzahl von Gründen (geringer Zuwachs, großer Abgang, Strukturveränderungen in der Kernleistung, u.a.m.). Wenn man nun die Gründe für die Erhöhung des Abgangs kennen würde, wüsste man ggfs., was zu tun ist. Das wissen wir aber i.d.R. nicht und es wird uns auch medial nicht vermittelt. Es wäre deshalb wünschenswert, nicht nur die Zugänge in ihren Qualitäten dargestellt zu bekommen, sondern auch die Qualität des Abgangs. Dann gewönne der Leser hinsichtlich dessen, was Wachstums sein könnte, eine gewisse Urteilsfähigkeit und das Wachstum verlöre durch diese Analytik etwas von seinem Fetischcharakter.

Eine wachsende Bevölkerung, egal ob durch Geburtenzahl oder durch Zuwanderung, wird immer wirtschaftliches Wachstum auslösen. Innovationen können u.a. auch ein Grund für Wachstum sein. Wenn aber durch große Veränderungen der Produktionsstruktur sich viele Unternehmen vom Markt zurückziehen und viele neue hinzukommen, so ist auch das kein Grund für Unruhe. Aber Wachstum um seiner selbst willen, ist Unsinn, weil das steigende Produktionsvolumen auch seine Konsumenten finden muss.

Da liegt m.E. ein wesentlicher Knackpunkt: Wir glauben, dass unser Wirtschaftssystem nur dann bestehen kann, wenn ständig „mehr“ produziert wird und das überbordende Produktvolumen nur durch ein subtiles und perfides Marketing in Konsum umgewandelt werden kann. Dabei wird vergessen, dass Kaufen um seiner selbst willen völlig sinnleer ist. Es ist nur dann sinnvoll, wenn ich das erworbene Gut benötige und/oder mich über den Erwerb freuen und ihn genießen kann. Das ist aber nicht das Ziel des Verkäufers. Nach seiner Vorstellung und getrieben durch die angebliche Notwendigkeit, Wachstum zu generieren, soll ich mich nach dem Erwerb blitzartig einem neuen Erwerbsvorgang widmen, um den vorgeblichen ‚Einkaufskick‘ nicht zu verlieren. Bei diesem schwachsinnigen Verhalten steigen immer mehr Menschen aus. Es gibt also auch von dieser Seite für Wachstum ganz reale Grenzen.

Der Tag hat immer nur 24 Stunden. Je mehr Kaufakte ich in diesem 24 Stunden absolvieren soll, um das System am Laufen zu halten, desto weniger Zeit bleibt für produktive Arbeit als Voraussetzung für den Konsum, zum Schlafen und Entspannen, für Kommunikation mit Freunden und Familie, für Kultur, fürs Essen und zum Genießen. Vorausgesetzt, ich verfüge über das notwendige Geld. Wenn ich mich darauf einlasse, komme ich mir vor, wie ein gehetztes Tier. Dieses System macht in letzter Konsequenz verrückt. Übrigens, der Umsatz der Psychopharmaka ist in den letzten 15 Jahren gewaltig angestiegen. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass wir in unserer Konsumentenrolle inzwischen komplett überfordert sind.

Also mehr Wachstum, d.h. noch mehr Konsum erscheint mir in einer Vernunft gesteuerten Umgebung schwer vermittelbar. Was soll denn mit Wachstum unter diesen Bedingungen erreicht werden? Die Erwartung, das System am Laufen zu erhalten, scheint mir kein ausreichender Grund zu sein, um Wachstum weiterhin als die Lösung unserer anstehenden Probleme zu erkennen.

Die Wachstumskritik aus der Sicht des Individuums tangiert den Ökonomen natürlich nicht. Dort herrscht nicht der Mensch, sondern der ‚homo oeconomicus‘: Ein egoistisches Konstrukt, das den Begriff der Überforderung gar nicht kennt. Dort, wo der leibhaftige Mensch schon lange von Psychopharmaka abhängig ist, handelt dieser Homukulus immer noch angeblich ‚rational‘ und damit ökonomisch richtig.

Wachstum wird in der ‚Alltagsökonomie‘ gerne als eine Voraussetzung für ausreichende Beschäftigung gesehen. Diese Auffassung kann bei wachsender Bevölkerung durchaus richtig sein, aber was bedeutet Wachstum bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und insbesondere bei sogenannten ‚alternden Gesellschaften‘. Ich denke dabei an die Mehrzahl der europäischen Länder. Haben wir nicht gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine eklatante Unterversorgung mit Arbeitskräften? Es fehlen in Deutschland gegenwärtig hunderttausende von Arbeitskräften. Man spricht von jährlich notwendiger Zuwanderung von 400.000 Menschen. Unabhängig, ob die Zahl realistisch ist: Kehrt sich da nicht die Frage um? Es steht doch gegenwärtig nicht die Beschäftigung in Frage, sondern das anzustrebende Wachstum, sofern hier eine reziproke Verbindung besteht.

Wenn wir – rein theoretisch als Gedankenspiel – unser Produktionsvolumen an den Beschäftigtenstand anpassen könnten, würden wir zwar ein unbefriedigendes Wachstum ausweisen, aber die Beschäftigung würde dadurch nicht zwangsläufig berührt. Der ‚Workforce‘ wäre es absolut egal, wie sich die Wachstumskennzahl entwickelt, solange ihre Beschäftigung konkret nicht in Frage steht. Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass wir dem Begriff des Wachstums endlich die Rolle zumessen müssen, die ihm realiter auch zukommt. Wenn das Wachstum in Deutschland unbefriedigend wäre, dann würde damit heftig Politik gemacht, aber der konkrete Arbeitnehmer einer florierenden Firma sind dadurch nicht tangiert. Für ihn ist ‚Wachstum‘ nur eine Zahl für die Berichterstattung in den Zeitungen.

Die Klimakrise verlangt Reaktionen von uns, die wir nicht mit der einfachen Formel des „Weiter so“ erledigen können. Die Politik pflegt eine große Zurückhaltung für Maßnahmen, die Auswirkungen auf das haben könnte, was wir so in der Alltagsökonomie unter Wachstum verstehen. Wir müssen dem Begriff des Wachstums seine Totschlag-Argumentation nehmen, indem wir Wachstum besser analysieren und differenzierter damit umgehen. So wie wir heute Wachstum verwenden, laufen Wachstum und Klimakrise parallel: mehr Wachstum führen zu mehr Krise, mehr Krise zu mehr Schäden, deren Beseitigung wieder zu mehr Wachstum führen, u.s.f. – das ist – so gesehen – ein sich selbst verstärkender Prozess und absolut kontraproduktiv.

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Warum tun wir uns so schwer…?

Wir blicken auf eine rund 75 Jahre umfassende Periode zurück, in der offensichtlich die westliche Wirtschaftsentwicklung, insbesondere in Europa, enorm zugenommen hat. Darin haben wir uns in der Erwartung einer vergleichbaren zukünftigen Entwicklung bequem eingerichtet. Aber schon seit 50 Jahren warnt die Wissenschaft (außerhalb der Ökonomie) vor der einseitigen (man könnte auch sagen: ideologischen) Wahrnehmung des Narrativs dieser Entwicklung.

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Der zunehmende Wohlstand begann in den 1970er Jahren sich von den wirtschaftlichen Erfolgs- und Wachstumsmeldungen abzukoppeln. Das statistisch gemessene Bruttoinlandsprodukt (BiP) nahm weiter zu, während der „Wohlstand“ als ein etwas komplexerer Zusammenhang stagniert bzw. sinkt.

Die Erfolgsseite stellt uns die Ökonomie regelmäßig in den schönsten Farben dar. Über die Schäden, die dieser Erfolg weltweit auslöst und ausgelöst hat, kann die Ökonomie gar nicht berichten, weil ihr dafür die notwendigen Instrumente fehlen. Die Ökonomie behandelt diese schädlichen Sachverhalte pauschal als „externe Effekte“ und kann darüber keine hinreichend konkreten Aussagen treffen. Die Ökonomie hat sich aus der konstruktiven Diskussion um eine tragfähige Lösung leider selbst eliminiert.

Als Folge kommen die Einwände gegen die unveränderte Fortführung unserer Wirtschaftsweise auch eher aus der Physik, der Biologie, der Ökologie und aus den Sozialwissenschaften. Die Herausforderung liegt nun darin, dass die relativ geschlossene (‚enge‘) und bis dato anerkannte Denkstruktur der Ökonomie einer interdisziplinär zusammengesetzten, empirisch basierten Wissensbasis gegenübersteht, das zahllose Einzelaussagen betroffen hat, denen aber ein offizielles und anerkanntes (relativ homogenes) „Weltbild“ fehlt. Die Zusammenhänge müssen m.E. dabei komplexer erfasst werden als jene der Ökonomie und erfordern, weil neu, einen relativ hohen Informationsstand nicht nur in einer Wissensdisziplin, sondern in verschiedenen Wissensbereichen, was oft den Eindruck vermittelt, dass die vielen Wissensinseln in einem „Meer des Nichtwissens“ ohne inneren Zusammenhang schwimmen.

Wir haben in der Schule und an den weiterbildenden Einrichtungen regelmäßig gelernt, dass die ‚Welt‘ in Kästchen verpackt werden kann und dass die Kästchen durchaus auch unabhängig von einander existieren können. Nun hat die Wissenschaft festgestellt, das diese Erwartung nicht erfüllt werden kann – alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Damit benötigen wir dringend ein neues umfassendes ökologisches „Weltbild“ oder Narrativ des Geschehens, jenseits der linearen ökonomischen Modelle, auch um die Sorge, Angst und Ablehnung gegenüber den „Neuen Erkenntnissen“ abbauen zu können.

Wir sprechen gerne von Individualismus, wenn wir im Grunde den Egoismus meinen – es klingt einfach verbindlicher. Wenn wir von Nützlichkeit oder vom ökonomischen Nutzen sprechen, so ist i.d.R. der anthropozentrische Aspekt der Sache gemeint, die Sache nutzt in erster Linie dem Akteur und in seltenen Fällen den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung. Den Schaden an anderer Stelle übersehen wir in unserer Bequemlichkeit und egoistischen Selbstbezogenheit gerne.

Wenn wir uns von der egoistisch-ökonomischen Perspektive frei machen wollen, so müssen wir den einseitigen Aspekt des Nutzens zu einer Funktion erweitern, die der Erwartung über den persönlichen Nutzen hinaus einen allgemeinen systemischen Sinn gibt. Der anthropozentrische Aspekt muss einem systemischen Zweck weichen, der nicht allein durch ‚meine‘ individuellen Wünsche, sondern durch eine Funktionserfüllung im Rahmen des Systems der Biosphäre bestimmt wird.

Da Nutzen regelmäßig im Rahmen der Ökonomie in Geld ausgedrückt wird, verliert diese Denomination im Rahmen des systemischen Ansatzes seine grundlegende Bedeutung. Funktion (oder auch ‚Sinn‘) lässt sich nur in Ausnahmefällen durch Geld ‚substituieren‘ (ersetzen).

Auf der Suche nach einem Ersatz der Dominanz unseres einseitigen ökonomischen Denkens muss man sich fragen, ob es Ausführungen oder Darstellungen hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungsperspektiven gibt, die qualitativ gut aufbereitet sind, die über eine ausreichende ‚prognostische Relevanz‘ verfügen und die auf den üblichen ökonomischen Begriffsapparat weitgehend verzichten und trotzdem relativ treffsichere Aussagen machen können. Die Treffsicherheit der meist kurzfristigen ökonomischen Prognosen lässt regelmäßig viele Wünschen offen; langfristige Prognosen erscheinen aufgrund des eingeschränkt kurzfristigen Perspektive der Ökonomie gar nicht möglich.

Als langfristige und relativ genaue Prognose fällt die Studie über „Die Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972 auf. Die dort getroffenen Feststellungen sind in ihrer Treffsicherheit jeder ökonomischen Prognose um Längen voraus, trotz des ungeheuren langen Zeitraums, den diese Studie abzudecken vorgibt. Es wäre also sinnvoll, sich zu fragen, was diese Studie auszeichnet.

Bei der Suche nach deren Grundlagen stößt man auf Ausführungen von Hartmut Bossel, einem Professor (em.) für Umweltsystemanalyse der Universität Kassel. Er war Mitglied des ‚Club of Rome‘ und hat an der oben genannten Studie offenbar mitgewirkt. Seine Erkenntnisse hat er in einem Buch1 niedergelegt. Ergänzt werden seine Ausführungen durch eine Veröffentlichung „Umweltwissen2“ (zuletzt 2013), in der die faktischen Zusammenhänge in zahllosen Schaubildern und Zahlen eindringlich präsentiert und kommentiert werden.

Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede der Vorgehensweise des Club of Rome von derjenigen der herrschenden Ökonomie? Es beginnt schon bei dem Ziel oder dem Zweck, der die Betrachtung auf das Untersuchungsobjekt lenkt. M.E. ist der Zweck unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems (anders als es die Politik oft vorträgt) im Grunde auf eine individuelle Vermögensmehrung (andere sprechen von Kapitalakkumulation) beschränkt. Der eigentliche Sinn (oder die Funktion) des Wirtschaftens, der sich als ‚Versorgung‘ verstehen ließe, ist dabei nur Mittel zum Zweck. Die Versorgungsfunktion ist ein Beiprodukt (auch Kuppelprodukt), um nicht die Vermögensmehrung (als Ausdruck einer schlichten Gier) als ausschließliches Ziel der wirtschaftlichen Aktivitäten nennen zu müssen.

Schaut man sich die Vermögensverteilung an, so wird deutlich, dass dieses Ziel der Vermögensmehrung seit Jahrzehnten etwa die Hälfte unserer Bevölkerung wirklich erreicht. Die andere Hälfte trägt wahrscheinlich nicht weniger zur Wirtschaftsleistung bei, aber die individuelle Vermögensmehrung kommt bei ihnen nicht an.

Mit dem Ziel der individuellen Vermögensmehrung wird auch deutlich, dass Wirtschaften in unserem heute verwendeten Sinne die Biosphäre mit keinem Wort erfasst noch versteht. Die Biosphäre ist ausschließlich Ressource, also Mittel zum Zweck der Vermögensmehrung. Die vornehmlich rücksichtslose Vernutzung der Biosphäre ist vergleichbar mit einem Sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen.

Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist nicht nur anthropozentrisch ausgelegt, es wurde, ausgelöst durch das vermeintlich unbegrenzte Wirtschaftswachstum, auch von der Idee getrieben, man könne alles „Schneller, höher und weiter“ machen, wobei der Ressourcenverbrauch völlig aus dem Blick geriet, weil man mit dem Begriff der Substitution und des technologischen Fortschritts glaubte, immer einen Ausweg finden zu können. Das Postulat unbegrenzten Wachstums wäre bei einer Anerkennung begrenzter globaler Ressourcen ein offensichtlicher Widerspruch in sich.

Damit genug des Versuchs, das bestehende Wirtschaftssystem auf sein Ziel hin zu beschreiben. Unser Wirtschaftssystem verfügt über keinen allgemeinen Sinn oder eine Funktion, da selbst die Wohlstandsschaffung aufgrund der Vermögensverteilung und der Wohlstandstatistik mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr korreliert. Deshalb wurde oben festgestellt: Unser Wirtschaftssystem dient ausschließlich der individuellen Vermögensmehrung unter der falschen Annahme grenzenlosen Wachstums und unter wissentlicher Inkaufnahme der Zerstörung unserer künftigen Lebensgrundlagen.

Was wäre die Alternative? Hartmut Bossel hat in seinem Buch „Umweltwissen“ versucht einen Handlungsrahmen zu beschreiben. Der Rahmen wird durch die Biosphäre und ihre Rückkopplungen bestimmt und es besteht die Erwartung, dass der Mensch sich mit seinem wirtschaftlichen Handeln an den Vorgaben und Einschränkungen der Biosphäre auszurichten hat. Das Wirtschaften hat nur in diesem Rahmen seinen nachhaltigen Platz. Dem Biosphären-Ansatz fehlt folglich die ausschließliche Anthropozentrik unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems.

Ausgangspunkt des vorgeschlagenen Ansatzes ist das Handelns in einem Rahmen von „Erhaltung und Entfaltung“ (vgl. Umweltwissen, I3.5, S. 10). „Aus der Grundforderung der nachhaltigen Entfaltungsfähigkeit lassen sich recht präzise die Bewertungskriterien und ihre Gewichtung angeben und abgrenzen (…). Sie sind also nicht beliebig und lassen sich nicht als ‚Ideologie‘ fortschieben. (…) Dagegen zeigt sich bei einer solchen Betrachtung die ganze ideologische Fragwürdigkeit von Kriterien wie ‚Wirtschaftlichkeit‘, ‚Kostenminimierung‘, ‚technische Höchstleistung’, ‚Konkurrenzfähigkeit‘ usw., die nur im gewichteten Zusammenspiel mit anderen Kriterien eine gewisse Existenzberechtigung haben.3“ Durch diese Verschiebung der Prioritäten könnte die Dominanz der Wirtschaftsdenkens aufgehoben oder doch stark relativiert werden.

Die Realisierung eines solchen Handlungsrahmens wird uns Menschen zwangsläufig eine umfassendere Verantwortlichkeit auferlegen. Es kann nicht mehr nur darum gehen, dass wir als Spezies einseitig unser ganz persönliches „Wohl“ ausleben. Wir müssen uns verpflichtet fühlen, wenn nicht die gesamte Biosphäre im Blick zu behalten, so doch die Situation unserer künftigen Generationen lebenswert zu gestalten. „Unsere Handlungen haben beträchtliche Wirkungen auf die ferne Zukunft und die dann existierenden Organismen und Systeme. Da wir bewusst handeln und viele dieser Wirkungen kennen, erhebt sich die Frage, inwieweit wir absehbare künftige Folgen bei unseren heutigen Handlungen berücksichtigen müssen.4“ Sie muss durch eine bewusste Wertentscheidung zur Übernahme von Verantwortung durch den Menschen beantwortet werden.

Unser bestehendes Wirtschaftssystem glaubt immer noch große Teile der Verantwortung an den „Markt“ abgeben zu können, in der Erwartung, dass dieser Mechanismus diese Aufgabenstellung nach der Devise übernimmt, was der Markt macht, ist ‚richtig‘, ‚gerecht‘ und ‚vernünftig‘. Das ist ein gewaltiger Trugschluss – der Markt ist wie ein Algorithmus: was nicht in ihn hinein programmiert wird, kann er auch nicht leisten. Und das Programm schreiben hoffentlich weiterhin wir Menschen und keine anonyme künstliche Intelligenz.

Was heißt nun Erhaltung und Entfaltung im Einzelnen? Bossel folgt dabei einer systemischen Sichtweise und führt aus, dass Mindestanforderungen für folgende fünf Leitwerte gegeben sein müssen, um das System Biosphäre zu erhalten und zu entfalten:

  • Physische Existenz und Reproduktion
  • Handlungsfreiheit
  • Sicherheit
  • Wirksamkeit
  • Wandlungsfähigkeit

„Diese Leitwerte ergeben sich aus aus der folgenden Fragestellung: Was sind die elementaren Erfordernisse eines selbstorganisierenden Systems, dessen Überleben und Entfaltung von verstreuten Ressourcen in einer sich zufällig verändernden und teilweise feindlichen Umwelt abhängen.5

Dabei verkörpert ‚Existenz‘ den Umstand, dass das Überleben eines offenen Systems vom freien Austausch von vorhandenen Stoffen, Energie und Information mit seiner Umwelt abhängt.

Mit ‚Handlungsfreiheit‘ ist die Fähigkeit gemeint, Bedrohungen des Systems durch alternatives Handeln vermeiden oder abwenden zu können. ‚Sicherheit‘ erfordert eine gewisse Kontinuität, Stabilität und Regelmäßigkeit, um eine Vorhersehbarkeit von Überlebenschancen entwickeln zu können. Die ‚Wirksamkeit‘ stellt sicher, dass die Beschaffung von Stoffen aus der Umwelt i.d.R. zu angemessenen Erträgen führt. Die ‚Wandlungsfähigkeit‘ versetzt das System in die Lage, auf Veränderungen der Umwelt durch eine Veränderung seiner Struktur und/oder seines grundsätzlichen Verhaltens (Selbstorganisation) zu reagieren.6

Nochmals zurück zur Ausgangsfrage: Warum tun wir uns so schwer, auf breiter Basis einen Wandel herbeizuführen? Wir sind diesbezüglich in den letzten 200 Jahren vom Schicksal verwöhnt worden. Die aufkommende Technologie, gepaart mit dem Kapitalismus, haben uns schrittweise in eine Situation geführt, die man zumindest seit den letzten 50 Jahren mit Überfluss7 beschreiben könnte. Unser System hat sich von der Notwendigkeit des Broterwerbs schrittweise in einen Zustand gewandelt, indem nicht mehr die Versorgung im Zentrum steht, sondern wir gezwungen sind, durch überproportionalen kurzfristigen Konsum das im wesentlichen Geld generierende System am Laufen zu halten. Es wäre ein Perpetuum mobile, wenn nicht gleichzeitig die Abfallberge gewaltig wachsen und die Lebensgrundlagen durch dieses Verhalten zunehmend reduziert würden. Die ständig wachsenden künstlich stimulierten Bedürfnisse einerseits und das überbordende Angebot lassen das Leben für viele als ganz einfach erscheinen – aber das ist ein Tanz auf dem Vulkan oder alternativ: es ist ein Stühlerücken auf dem Deck der ‚Titanic‘.

Nun kommt die Wissenschaft, die erst in den letzten Jahrzehnten in ihre heutige Bedeutung für Politik und Gesellschaft hineingewachsen ist, und kann anhand weitgehend unbestreitbarer Erkenntnisse darstellen, dass der ‚Tanz‘ absehbar sein Ende finden wird. Nicht weil der Wohlstand nicht tragfähig sein könnte, sondern weil die verwendeten Erfolgsfaktoren der Wirtschaft in einer endlichen Welt uns bisher nur die positive Seite des Prozesses dargestellt haben. So gesehen ist die Wissenschaft der Überbringer einer ‚schlechten‘ Nachricht und in der Bequemlichkeit des Status quo wirkt diese Aussage für das breite Publikum einfach störend oder lästig, weil man sich der aufkommenden Verantwortlichkeit des Menschen, die im systemischen Ansatz angesprochen wird, überhaupt nicht bewusst ist. Die ‚Leute‘ neigen dazu, den unangenehmen Fakten auszuweichen, auch weil natürlich unser Wirtschaftssystem bis dato durch Erfolgsmeldungen eine optimistische Erwartungshaltung verbreitet hat, die jeder Grundlage entbehrt. Man hat die negative Seite des Prozesses systematisch ausgeblendet und so lange als möglich unterdrückt. Und das funktioniert nun nicht mehr!

Die von der Wissenschaft dargestellten Aussichten sind nicht schlecht, aber sie erfordern ein radikales Umdenken und die globale Sorglosigkeit hat ein Ende, weil einer großen Minderheit klargeworden ist, dass die Welt endlich ist und in einer endlichen Welt kein fortwährendes Wachstum möglich ist. Damit wurde die Ikone des Kapitalismus ‚geköpft‘ und das einfach gestrickte Narrativ vom Glück auf der Basis von Wachstum funktioniert so nicht mehr. Es wäre wünschenswert, wenn die Wirtschaftswissenschaften in der Lage wären, Ökonomie auch mal kreativ anders zu denken als nur in den eingefahrenen kapitalistischen Strukturen und Verfahrensweisen. Und dabei nicht nach hinten schauen, sondern das Leben voraus schauend gestalten. Die Begriffe Innovation und Kreativität werden von den Wirtschaftswissenschaften ständig strapaziert, aber eine Anwendung der Begriffsinhalte auf die eigene Sache ist m.E. nicht erkennbar.

Wenn wir jetzt im gesellschaftlichen Rahmen proaktiv handeln könnten, so hätten wir noch beachtliche Handlungsfreiheiten. Je länger wir warten müssen (bis die Erkenntnis durchgesickert ist), desto weniger Freiheitsgrade verbleiben für ein künftiges Handeln. Am Ende des Prozesses besteht vermutlich keinerlei Freiheitsgrad mehr und wir müssen uns dann dem schmalen Korridor anvertrauen, den uns die Situation hoffentlich noch lässt. Wir werden dann Gefangene unserer Unfähigkeit sein, als richtig Erkanntes rechtzeitig und positiv zu akzeptieren und der Vernunft Priorität gegenüber der scheinbaren Bequemlichkeit eines „Weiter so“ einzuräumen.

1Bossel, Hartmut, Globale Wende, Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München 1998

2Bossel, Hartmut, Umweltwissen, Daten, Fakten, Zusammenhänge, Springer Verlag, 1994

3Bossel, H., a.a.O. Seite 10

4Bossel, H., a.a.O. Seite 146

5Bossel, H., a.a.O. S. 146

6Vgl. ausführlicher Bossel, a.a.O. S. 146 f.

7Vgl. J. K. Galbraith, Die Überflussgesellschaft, 1962

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Deindustrialisierung – eine berechtigte Warnung?

Es fällt auf, wie oft in letzter Zeit das Wort „Deindustrialisierung“ in den Mund genommen wird. Die sogenannten Leitmedien befassen sich mit Beiträgen, alle möglichen Verbandspräsidenten äußern sich besorgt – könnte es sein, dass einige der Industrie nahestehende „Think-Tanks“ hier ein neues Narrativ unter „die Leute“ bringen wollen?

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Die Wirtschaft insgesamt spürt natürlich den Veränderungsdruck, der durch die Klimakrise stetig drängender wird. Lange Zeit waren die Wälle hoch, die sie juristisch vor dieser Gefahr geschützt haben. Seit dem das deutsche Bundesverfassungsgericht und eine Reihe europäischer Gerichte hier neue Maßstäbe erlassen haben, schwinden diese Schutzmechanismen. Die Justiz arbeitet nach den erlassenen Gesetzen und ist hier deutlich hartbeiniger und standfester als die Politik mit ihrem „flexiblen“ Gesetzesverständnis. Und die Justiz verbietet sich jeglichen Lobbyismus hinter verschlossenen Türen. Die Gesetze und die real verfügten Maßnahmen der Politik und der Unternehmen werden rechtlich gegeneinander aufgewogen und viele Maßnahmen werden schlicht als zu leicht befunden.

Die großen Wirtschaftsbosse, die sich teilweise dank ihrer politischen Kontakte und der Lobbyarbeit als unangreifbar betrachteten, mussten plötzlich erkennen, dass gute Kontakte in die Politik nicht mehr reichen. Die Gesetze des Landes gelten auch für sie und der Begriff einer „kriminellen Vereinigung“ ist nicht nur auf zweifelhafte Mafia-Strukturen, sondern auch auf Wirtschaftsstrukturen anzuwenden, die bisher als seriös galten. Da ist etwas in Bewegung geraten und die alten Gewissheiten und Privilegien sind im Schwinden.

Die absolute Marktorientierung ist gebrochen. Eine Pandemie hat uns allzu deutlich vor Augen geführt, dass der Markt eben doch nur ein im Grunde schlichter Mechanismus ist, der in Krisenzeiten zwar Maskendeals mit unanständigen Provisionserträgen beflügelt, aber das pandemische Problem humanitär nicht zu lösen in der Lage ist. Dann kommt der Angriff Russlands auf die Ukraine. Alle, auch jene, die auf bequemer und vor allem besonders billiger Energie ihr Geschäftsmodell aufgebaut haben, müssen erkennen, dass Deutschland in einem Maße von Russland in Abhängigkeit geraten war, die nicht länger zu tolerieren ist. Und wer waren die intensiven Befürworter des billigen russischen Gases: die energieträchtige Großindustrie – Nordstream 2 lässt grüßen. Hier wurden für diese fixe Idee Milliarden staatliche Euro in der Ostsee versenkt ohne vorher die geopolitischen Zusammenhänge entsprechend kritisch und sorgfältig zu bewerten.

Dann kommt Olaf Scholz mit seinem Hinweis von die „Zeitenwende“. Seine Berater haben hier vermutlich bei Fritjof Capra in den 1980iger Jahren Anleihe genommen, der seinen damaligen Bestseller „Wendezeit“ nannte und im Grunde auch eine Zeitenwende im wissenschaftlichen Verständnis der Welt proklamierte. Ähnliches versucht Scholz nun auf dem politischen Feld. Aber was er genau damit meint…, da lässt er uns noch im Ungewissen. Es gibt gegenwärtig zu viele praktische Baustellen, die eine rasche Lösung fordern, so dass die „Zeitenwende“ noch zurückstehen muss. Der in die Diskussion geworfene Begriff allein genügt schon, um deutlich zu machen, dass zumindest die „alten“ Zeiten vorbei sind, ohne dass wir schon erkennen können, was da heraufdämmern könnte.

Vor diesem Szenario fühlt sich die Industrie, d.h. konkret wohl die Großindustrie als wesentlicher Teil der Realwirtschaft aufgefordert, so mein Eindruck, ihre Bedeutung für das Land in Erinnerung zu rufen und sie tut das mit dem Warnhinweis, es dürfe nicht zu einer Deindustrialierung kommen. Dabei hat niemand – soweit ich das erkennen kann – die Industrie grundsätzlich in Frage gestellt. Natürlich freut es diese Industrieteile nicht, wenn dauernd von KI und Digitalisierung schwadroniert wird und die Industrie, insbesondere die Energiekosten fressende Schwerindustrie, erst weit hinten Erwähnung findet.

Die Wirtschaftsstrukturen stehen vor beachtlichen Herausforderungen. Bisher war es zulässig und herrschende Auffassung, die ökonomischen Externalitäten auch im industriellen Rahmen vom Tisch wischen zu können und sich dafür nicht verantwortlich zu fühlen. Dieser „Freibrief“ verliert zunehmend an Gültigkeit. Die wissenschaftliche Ökonomie hat bisher für die Einbeziehung von Externalitäten keine adäquate Lösung gefunden (und sucht m.W. auch nicht danach). Die Wirtschaft fühlt sich hier vermutlich zu Recht im Stich gelassen.

Die Haltung ist in Grenzen nachvollziehbar: Der Energiemarkt, vormals durch vier ‚Jumbos‘ dominiert, verändert sich. Die ehemals punktuell agierenden Schwergewichte der Energieversorgung lösen sich schrittweise auf und werden vorerst durch ein Netz zahlloser kleiner Produzenten ergänzt und es ist m.E. nur eine Frage der Zeit, wann dieses Netz zum Sprung in die Dominanz ansetzt. Mit jedem neuen Produzenten im Netz sinkt die Bedeutung der vier Großen. Und die Großen sehen in dieser Marktveränderung möglicherweise eine Form der Deindustrialisierung. Ich würde darin einfach einen Strukturwandel erkennen wollen, der mit den neuen technologischen Möglichkeiten eng verknüpft ist. Auf diese Veränderung haben die Energieversorger bisher keine befriedigende Antwort gefunden.

Der niederländische Netzbetreiber Tennet will sich aus Deutschland zurückziehen, weil er im Rahmen seines Aufgabenverständnisses in Deutschland vor einem Investitionsvolumen steht, das aus seiner Sicht mittelfristig nicht die von ihm erwarteten Renditen bereitstellen kann. Wir sind wieder einmal da, wo wir in den letzten 250 Jahren immer wieder standen: Die langfristig wirksame Infrastruktur ist nicht über den privaten Markt zu finanzieren, weil die Renditen mit der Kurzfristigkeit kapitalistischen Denkens und Handelns kollidieren. Also wird der Staat einspringen müssen. Die großen ‚Strategen des radikalen Marktverständnisses‘ werden verschämt wegschauen, um dann in einem Jahrzehnt, wenn das Renditeproblem der Privatwirtschaft dank des Einsatzes der öffentlichen Hand und ihrer Kapitalien überwunden scheint, darauf zu drängen, wieder die Privatisierung anzustreben. Aber die Politik sollte hart bleiben. Infrastruktur wird durch öffentliche Gelder geschaffen und sollten kein Spielball privater Interessen werden.

Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem funktioniert nur dann reibungslos, wenn die Infrastruktur die notwendigen Voraussetzungen hierfür schafft. Die Einkommenschance, die unser Wirtschaftssystem dem Einzelnen bietet, beruht regelmäßig auf einer Infrastruktur, die wir alle im Rahmen einer staatlichen Gemeinschaftsinvestition finanziert haben.

Gegenwärtig dürfen wir feststellen, dass unsere Infrastruktur an vielen Stellen ernsthaft bröckelt. Der Grund könnte darin liegen, dass wir vor lauter individuellem „Money-Making“ vergessen haben, dass das individuelle Verdienen immer auf einer von der Gesellschaft geschaffenen Grundlage beruht, die wir Infrastruktur nennen. Wir müssen feststellen, dass es hier inzwischen an allen Ecken und Kanten klemmt. Haben wir der Perspektive des Marktes und des individuellen „Geldmachens“ zu viel Raum gegeben und dabei über die Jahre die Pflege der Basis dieses „kapitalen Spiels“ schlicht vernachlässigt?

Der Rückstau der Infrastruktur ist schrittweise auszugleichen. Man kann dabei nicht von Tendenzen einer ‚Deindustrialisierung‘ sprechen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass ein Zurück zum alten Zustand auch nicht sinnvoll ist. Wir haben es hier mit einem riesigen (eventuell gewollten) Missverständnis zu tun: Wie viel ist ‚Deindustrialisierung‘ und wie viel ist ‚Wandel‘ der wirtschaftlichen Gegebenheiten? Teile der Großindustrie wollen offensichtlich den Wandel als eine Form des „De-Growth“ dadurch verhindern, indem sie versuchen, ihn als „Deindustrialisierung“ zu brandmarken. Man könnte auch sagen, dieser Wandel bedeutet Fortschritt, wenn dieses Wort einen weniger zweifelhaften Inhalt hätte. Rifkin z.B. sieht in dem platzgreifenden Wandel ein Ende des Zeitalters des Fortschritts und den Beginn eines Zeitalters der Resilienz. Vor die Wahl gestellt, würde ich mich gerne für die Resilienz entscheiden..

Die große Sorge der Wirtschaft ruht aus meiner Sicht auf den Einheiten der Großindustrie, weil diese ‚Jumbos‘ es im Laufe ihrer Entwicklung verlernt haben, sich in einer angemessen Zeit an neue Situationen anzupassen. Sie haben sich zu riesigen Bürokratie-Kraken entwickelt. ‚Jumbos‘ meinen in dem Glauben leben zu können, dass sie aufgrund ihrer schieren Größe und Kapitalkraft die Situation stets so beeinflussen können, dass ihre Anpassungsfähigkeit nicht gefordert ist. Dieses Verhalten ist bei einer Marktveränderung vorstellbar, aber die Großindustrie sieht sich Klimaherausforderungen gegenüber, die weit über irgendwelche kleinen Marktveränderungen hinausgehen.

Mit anderen Worten: die Resilienz der Großkonzerne ist angesichts anstehender Umweltveränderungen und m. E. absehbar notwendiger Eingriffe in den Markt zu gering. Um dieser Problemlage vorauseilend einen Schutzwall zu umgeben, wird möglicherweise vor einer ‚Deindustrialisierung‘ gewarnt. Man ist sich also insgeheim seiner Schwäche wegen mangelnder Flexibilität sehr wohl bewusst. Und wir als Gesellschaft wollen verständlicherweise diese Jumbos, die glauben, „too big to fail“ zu sein, nicht bei nächst bester Gelegenheit wieder „retten“ müssen?!

Die politische Großwetterlage hat dafür gesorgt, dass die Globalisierung ihren Reiz verloren hat. Globalisierung ist ein Kind einer naiv verstandenen und umgesetzten Idee ‚Wandel durch Handel‘. Man hat geglaubt, den Autokraten dieser Welt ihr Großmachtdenken durch Vermittlung wirtschaftlicher Vorteile schlicht abkaufen zu können. Diese Haltung verkennt grundlegend die unterschiedlichen Wurzeln des jeweiligen Handelns. Beim Kaufmann reduziert sich alles Handeln auf einen monetären Preis oder „Profit“, bei Autokraten spielt der monetäre Aspekt nur eine Rolle, wenn auch deren altertümlicher Anspruch auf „Thymos“1 (Ehre, Leidenschaft, Stolz, Wut, Herkunft, vielleicht auch Anerkennung u.a.m.) befriedigt wird. Die Haltung des Kaufmanns ist der autokratischen Weltsicht zu schlicht, zu schnöde und zu profan.

Auch die Klimakrise trägt ihren Teil dazu bei. Wir wissen zwar nicht, wie wir mit den externen Effekten umgehen sollen, aber eins wird klar: Globalisierung ist bzw. war nur möglich unter Vernachlässigung wesentlicher ‚unsichtbarer‘ Kosten der externen Effekte. Und setzt eine prinzipiell friedvolle Welt voraus. Die Folge ist nun eine heftige Verschiebung der Prioritäten zur Resilienz. Und die Resilienz baut die Welt umgekehrt auf: lokale Resilienz, regionale Resilienz und das Globale mutiert aufgrund seiner Risiken zu einer Restgröße. Es gibt sogar schon ein neues Wort für diese Prioritätsverschiebung: „Glokalisierung“.

Diese Verschiebung des ökonomischen ‚Weltbildes‘ macht das Leben der Großindustrie nicht einfacher. Große Unternehmen leben vom Durchsatz, von der Massenproduktion und nur höchst selten vom anspruchsvollen Einzelprodukt. Hier wird deutlich, wie Großunternehmen und Globalisierung zusammenhängen – ohne Globalisierung ist der hohe Durchsatz in Frage gestellt, der einen grundsätzlich globalen Markt voraussetzt. Wenn der globale Markt fraglich wird, muss auch die Größe des global handelnden Unternehmens in Frage gestellt werden. Wenn sich die „Glokalisierung“ durchsetzt, hat das heftige Auswirkungen auf die Unternehmensstrukturen. Großunternehmen drohen dabei strukturell aus der Zeit zu fallen. Dieser absehbaren Veränderung eine Warnung vor „Deindustrialisierung“ entgegen zu setzen, wirkt ziemlich kleinkariert.
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1Thymos ist ein altgriechisches Lebensgefühl, das insbesondere der Adel noch für viele Jahrhunderte weiter kultiviert hat. So wie wir heute für ein Schäppchen empfänglich sind, waren das thymotische Denken von Ehre, Stolz und Herkunft geprägt. Geld spielt dabei keine oder nur eine völlig untergeordnete Rolle.

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