Anlass für diese Fragestellung ist ein relativ kurzes Interview, das Lisa Nienhaus mit Mariana Mazzucato, (Ökonomieprofessorin) führte und in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende 20./21. Januar 2024 veröffentlichte. Mazzucato äußert sich zu einer Reihe von Wirtschaftsproblemen, zu denen ich keinen Widerspruch vorzubringen wüsste, aber sie führt dann aus:
» weiterlesen
„Natürlich wollen wir Wachstum. (…) Wenn es kein Wachstum gibt, gibt es keine Beschäftigung, es fehlen die Innovationen, die wir brauchen (..). Wir brauchen Wachstum, um soziale und ökologische Probleme zu lösen. Wachstum ist nicht das Ziel, das Ziel ist es, diese Probleme zu lösen. (…)“ Hier hätte ich mir gewünscht, dass Lisa Nienhaus eingehakt hätte, um Mariana Mazzucato zu einer detaillierteren Erläuterung zu veranlassen.
So wie sich Mazzucato äußert, folgt sie der Argumentation der Mainstream-Ökonomie. Es kommt ihr gar nicht die Idee, dass sich hier ein eklatanter Widerspruch aufbaut. Die Wachstumsideologie hat zu mindesten zwei Problemen geführt: einmal zu Überproduktionen, damit das System überhaupt funktioniert (am Laufen gehalten werden kann) und zum anderen ist sie damit auch wesentlich Ursache für den Klimawandel. Es ist nun ein kurzer Weg von mehr Wachstum zu noch mehr Klimaproblemen – das ist m.E. kein Lösungsbeitrag!
Da Wachstum in der Vergangenheit scheinbar viele Probleme lösen konnte, hat sich die Ökonomie immer mehr auf dieses ‚Wundermittel‘ gestützt und hat nie ernsthaft überlegt, ob es hierzu nicht auch (komplexere) Alternativen geben könnte. Die Problemlösungen durch Wachstum haben immer mehr externe Effekte entstehen lassen, die zu Beginn vernachlässigbar erschienen, aber inzwischen bestimmen diese externen Effekte akkumuliert den Klimawandel und viele unserer sozialen und gesellschaftlichen Problemstellungen. Und die Ökonomie hat dazu keine Meinung, weil sie meint, dass sei nicht ihr Aktionsfeld, weil sie diese Effekte aus ihrem Weltbild bewusst ausgeklammert hat. Oder besser, sie kann es nicht, weil sie sich seit vielen Jahrzehnten nie über das Konzept der ‚externen Effekte‘ wirklich Rechenschaft abgelegt hat und deshalb die zunehmende Problematik gar nicht erkannte oder erkennen wollte.
Wachstum ist, so wie wir das Phänomen heute definieren, eine Exponentialfunktion, die in einem begrenzten bzw. endlichen System Erde keinen Platz hat. Sie explodiert relativ schnell ins Unendliche und kommt dadurch physikalisch absehbar mit der Endlichkeit des Planeten in einen ernst zunehmenden Konflikt. Die Wachstumsdefinition ist zudem ein völlig unzureichende Kennzahl, weil sie alles als Zuwachs erfasst, was ohne qualitativen Unterschied als Mehr, Höher, Schneller und in Geld dargestellt werden kann. Wenn das Ahrtal ‚absäuft‘, fließen die Aufwendungen zur Wiederherstellung der Zerstörungen als ‚Wachstum‘ in die Kennzahl ein. Nach der Logik werden wir bei zunehmenden Schäden durch Klimawandel bis zum bitteren Ende immer mehr Wachstum generieren.
Mazzucatos Ausführungen sind dahingehend zu interpretieren, dass sie die Lösung des Klimawandels im Wachstum sieht. Die Aussage impliziert m. E., die Lösung des Klimawandels auf (rein) technologischem Wege finden zu wollen. Ein alternativer Ansatz, der sich aus einer Ziel- und Verhaltensänderung und einer in Grenzen denkbaren technologischen Unterstützung ergeben könnte, schließt sie offensichtlich als aussichtslos aus. Mazzucato würde sich sonst vermutlich vorsichtiger ausdrücken.
Dabei tritt die Ökonomie auf wie eine naturgegebene Kaufmanns-‘Physik’. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft, d.h. das gegenwärtig gültige „Geschäftsmodel“ der Ökonomie ist eine soziale, menschengemachte, komplexe Struktur, die in der Vergangenheit zweifelsohne ihre Vorteile ausspielen konnte. Es ist aber ein Geschäftsmodell, das unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit langfristig ‚an die Wand fährt‘. Es sei denn, wir ändern das Geschäftsmodell. Das wird im Allgemeinen unter dem Begriff der Transformation erfasst.
Über die fälligen Änderungen gibt es gegenwärtig noch keinen Konsens, weil niemand so recht weiß, wo denn was geändert werden soll. In einer solchen Situation verfügt man über kein Ziel, aber man kann als Ersatzstrategie alle Aktivitäten unterlassen, deren Schädlichkeit erkannt wurden. In dem bestehenden Modell gilt als ein großer Treiber das, was man so allgemein als ‚Wachstum‘ bezeichnet. Das sogenannte Wachstum in einem räumlichen Bereich ist der Quotient (in Prozent) aus BiP des laufendes Jahres abzüglich des BiP vom Vorjahr (im Zähler) bezogen auf das BiP des Vorjahres (im Nenner). Ist die Prozentzahl positiv, sind die Gazetten voll des Lobes und sprühen vor rosigen Zukunftsprognosen. Im anderen Fall richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Regierung mit dem Hinweis, macht mal was! So ganz genau weiß man nicht, was zu machen ist, weil es viele Alternativen gibt und der schlichte Quotient wenig wegweisende Informationen bereithält. Er beschreibt einfach einen meist vorübergehenden Zustand, aber macht über den Prozess, wie die Zahl zustande kommt, keinerlei ergänzende Angaben.
Mazzucato glaubt in dem Zuwachs des Wachstumsquotienten einen Ausdruck für Innovationen sehen zu können. Das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. Das BiP (Bruttoinlandsprodukt) ist ein fortlaufender Prozess, der kann eine Kernleistung (vergleichbar wie im Vorjahr), einen Zuwachs an Leistungen und einen Abgang an Leistungen aufweisen. Wie man leicht erkennt, kann die Kernleistung zunehmen, weil z.B. die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung gestiegen ist und der Grundbedarf steigt, weil sich die Gesundheitsvorsorge wandelt, weil die Transportleistung wächst (u.ä.). Im Falle von Inflation kann BiP auch rein monetär wachsen. Darin drückt sich in aller Regel die quantitative Veränderung der Leistungserstellung aus. Die Innovationen, von denen Mazzucato spricht, sind qualitativ neue Leistungen, die es im Vorjahr als Innovation des Berichtjahres noch nicht gegeben hat. Sie werden vielleicht verstehen, dass ich hierin nur einen prozentual recht begrenzten Beitrag zum Wachstum erkennen kann, weil Kernleistung plus Zuwachs abzüglich Abgang in Summe und Durchschnitt etwa bei 1 – 1,5% liegen.
Was in der Diskussion regelmäßig nicht aufscheint, sind die Abgänge. Sie werden als Ausdruck der Schwäche gerne übergangen. Das sind aber jene Leistungen, die von Unternehmen im Vorjahr noch erbracht wurden, die aber aus unterschiedlichen Gründen im laufenden Jahr nicht mehr im Markt vertreten sind. Sie wären interessante Indikatoren für anstehende Veränderungen. Wenn der Wachstumsquotient nicht den Vorjahresquotienten erreicht, gibt es eine Vielzahl von Gründen (geringer Zuwachs, großer Abgang, Strukturveränderungen in der Kernleistung, u.a.m.). Wenn man nun die Gründe für die Erhöhung des Abgangs kennen würde, wüsste man ggfs., was zu tun ist. Das wissen wir aber i.d.R. nicht und es wird uns auch medial nicht vermittelt. Es wäre deshalb wünschenswert, nicht nur die Zugänge in ihren Qualitäten dargestellt zu bekommen, sondern auch die Qualität des Abgangs. Dann gewönne der Leser hinsichtlich dessen, was Wachstums sein könnte, eine gewisse Urteilsfähigkeit und das Wachstum verlöre durch diese Analytik etwas von seinem Fetischcharakter.
Eine wachsende Bevölkerung, egal ob durch Geburtenzahl oder durch Zuwanderung, wird immer wirtschaftliches Wachstum auslösen. Innovationen können u.a. auch ein Grund für Wachstum sein. Wenn aber durch große Veränderungen der Produktionsstruktur sich viele Unternehmen vom Markt zurückziehen und viele neue hinzukommen, so ist auch das kein Grund für Unruhe. Aber Wachstum um seiner selbst willen, ist Unsinn, weil das steigende Produktionsvolumen auch seine Konsumenten finden muss.
Da liegt m.E. ein wesentlicher Knackpunkt: Wir glauben, dass unser Wirtschaftssystem nur dann bestehen kann, wenn ständig „mehr“ produziert wird und das überbordende Produktvolumen nur durch ein subtiles und perfides Marketing in Konsum umgewandelt werden kann. Dabei wird vergessen, dass Kaufen um seiner selbst willen völlig sinnleer ist. Es ist nur dann sinnvoll, wenn ich das erworbene Gut benötige und/oder mich über den Erwerb freuen und ihn genießen kann. Das ist aber nicht das Ziel des Verkäufers. Nach seiner Vorstellung und getrieben durch die angebliche Notwendigkeit, Wachstum zu generieren, soll ich mich nach dem Erwerb blitzartig einem neuen Erwerbsvorgang widmen, um den vorgeblichen ‚Einkaufskick‘ nicht zu verlieren. Bei diesem schwachsinnigen Verhalten steigen immer mehr Menschen aus. Es gibt also auch von dieser Seite für Wachstum ganz reale Grenzen.
Der Tag hat immer nur 24 Stunden. Je mehr Kaufakte ich in diesem 24 Stunden absolvieren soll, um das System am Laufen zu halten, desto weniger Zeit bleibt für produktive Arbeit als Voraussetzung für den Konsum, zum Schlafen und Entspannen, für Kommunikation mit Freunden und Familie, für Kultur, fürs Essen und zum Genießen. Vorausgesetzt, ich verfüge über das notwendige Geld. Wenn ich mich darauf einlasse, komme ich mir vor, wie ein gehetztes Tier. Dieses System macht in letzter Konsequenz verrückt. Übrigens, der Umsatz der Psychopharmaka ist in den letzten 15 Jahren gewaltig angestiegen. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass wir in unserer Konsumentenrolle inzwischen komplett überfordert sind.
Also mehr Wachstum, d.h. noch mehr Konsum erscheint mir in einer Vernunft gesteuerten Umgebung schwer vermittelbar. Was soll denn mit Wachstum unter diesen Bedingungen erreicht werden? Die Erwartung, das System am Laufen zu erhalten, scheint mir kein ausreichender Grund zu sein, um Wachstum weiterhin als die Lösung unserer anstehenden Probleme zu erkennen.
Die Wachstumskritik aus der Sicht des Individuums tangiert den Ökonomen natürlich nicht. Dort herrscht nicht der Mensch, sondern der ‚homo oeconomicus‘: Ein egoistisches Konstrukt, das den Begriff der Überforderung gar nicht kennt. Dort, wo der leibhaftige Mensch schon lange von Psychopharmaka abhängig ist, handelt dieser Homukulus immer noch angeblich ‚rational‘ und damit ökonomisch richtig.
Wachstum wird in der ‚Alltagsökonomie‘ gerne als eine Voraussetzung für ausreichende Beschäftigung gesehen. Diese Auffassung kann bei wachsender Bevölkerung durchaus richtig sein, aber was bedeutet Wachstum bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und insbesondere bei sogenannten ‚alternden Gesellschaften‘. Ich denke dabei an die Mehrzahl der europäischen Länder. Haben wir nicht gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine eklatante Unterversorgung mit Arbeitskräften? Es fehlen in Deutschland gegenwärtig hunderttausende von Arbeitskräften. Man spricht von jährlich notwendiger Zuwanderung von 400.000 Menschen. Unabhängig, ob die Zahl realistisch ist: Kehrt sich da nicht die Frage um? Es steht doch gegenwärtig nicht die Beschäftigung in Frage, sondern das anzustrebende Wachstum, sofern hier eine reziproke Verbindung besteht.
Wenn wir – rein theoretisch als Gedankenspiel – unser Produktionsvolumen an den Beschäftigtenstand anpassen könnten, würden wir zwar ein unbefriedigendes Wachstum ausweisen, aber die Beschäftigung würde dadurch nicht zwangsläufig berührt. Der ‚Workforce‘ wäre es absolut egal, wie sich die Wachstumskennzahl entwickelt, solange ihre Beschäftigung konkret nicht in Frage steht. Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass wir dem Begriff des Wachstums endlich die Rolle zumessen müssen, die ihm realiter auch zukommt. Wenn das Wachstum in Deutschland unbefriedigend wäre, dann würde damit heftig Politik gemacht, aber der konkrete Arbeitnehmer einer florierenden Firma sind dadurch nicht tangiert. Für ihn ist ‚Wachstum‘ nur eine Zahl für die Berichterstattung in den Zeitungen.
Die Klimakrise verlangt Reaktionen von uns, die wir nicht mit der einfachen Formel des „Weiter so“ erledigen können. Die Politik pflegt eine große Zurückhaltung für Maßnahmen, die Auswirkungen auf das haben könnte, was wir so in der Alltagsökonomie unter Wachstum verstehen. Wir müssen dem Begriff des Wachstums seine Totschlag-Argumentation nehmen, indem wir Wachstum besser analysieren und differenzierter damit umgehen. So wie wir heute Wachstum verwenden, laufen Wachstum und Klimakrise parallel: mehr Wachstum führen zu mehr Krise, mehr Krise zu mehr Schäden, deren Beseitigung wieder zu mehr Wachstum führen, u.s.f. – das ist – so gesehen – ein sich selbst verstärkender Prozess und absolut kontraproduktiv.
» weniger zeigen