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Ökonomie und Resilienz

Man kann der gegenwärtig praktizierten Wirtschaftswissenschaft nur schwer die Kompetenz absprechen. Dazu tritt sie zu dominant auf und ist im täglichen Leben allgegenwärtig. Aber man kann der Orthodoxie die Fähigkeit absprechen, sinnvoll einer grundlegend neuen Situation mit neuen Methoden bzw. mit wirtschaftlich neuen Strategien zu begegnen bzw. sie zu unterstützen.

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Unsere Wirtschaftswissenschaften sind auf das Gedankenmodell des Kapitalismus ideologisch fixiert. Sie hat die Tatsache, dass das Hauptziel des menschlichen Wirtschaftens in der Versorgung der Bevölkerung liegen könnte, komplett an den Rand geschoben. Stattdessen wurde der „Raubzug“ (die individuelle Bereicherung) zum globalen Ziel. Und es ist dafür gesorgt, dass dieses Ziel nur eine Minderheit der Teilnehmer auf Kosten der Mehrheit und insbesondere auf Kosten unserer Lebensgrundlage (der Biosphäre) auch wirklich erreicht.

Zu meiner Jugendzeit gab es noch den real existierenden Sozialismus oder auch Kommunismus. Der Kapitalismus hatte sich verständlicherweise dagegen klar abzugrenzen. Der ideologische Druck auf den Kapitalismus war groß und die Antwort des Kapitalismus war, wie nicht anders zu erwarten, hochgradig ideologisch. Nachdem die sozialistischen und kommunistischen Ansätze als nicht realisierbar aufgegeben werden mussten, hat der Kapitalismus seine ideologische Haltung aber konsequent beibehalten. Es ließ sich recht gut damit leben und im Zweifelsfall standen einfache und schlichte Argumente zur Verfügung, um die kapitalistische Position zu verteidigen. Und die wirklichen Gewinner in diesem Spiel sind nicht notwendig viele, aber sie sind einflussreich und sorgen dafür, dass unter dem Gesichtspunkt der Bestandssicherung Änderungen nur in geringem Umfang eintreten.

Inzwischen verfügen wir über breitere Erkenntnisse. Die kapitalistische Wirtschaftsweise wird als effizient verstanden, aber sie produziert dabei laufend sogenannte externe Effekte oder auch „Externalitäten“, die im Einzelfall vernachlässigbar erscheinen, aber über die Jahrzehnte und in Summe „Kollateralschäden“ verursacht haben, die uns heute summarisch als „Klimakrise“ beglücken. Wir stehen vor der Frage, wie wir in Zukunft wirtschaften sollen, um die angesprochenen Kollateralschäden zu vermeiden oder doch in Summe drastisch zu verringern?

Das ist aber eine Frage, die man einer stark ideologisch geprägten Wirtschaftslehre nicht stellen kann. Die Ideologie ist der Auffassung, dass Wirtschaften nur im Rahmen der von ihr vertretenen Perspektive möglich ist. Etwas anderes zu denken ist „des Teufels“. Sie können dem Papst auch nicht den Vorwurf machen, dass er die Welt ausschließlich durch die katholische Brille sieht.

Das Problem dieser ideologischen Haltung liegt darin, dass bis auf ein kleines Häuflein von Ökonomen die orthodoxe Lehre sich überhaupt keine Gedanken macht oder gemacht hat, wie man denn auf den Fall reagieren könnte und müsste, wenn sich die herrschende Auffassung als unzureichend, falsch, oder gar schädlich erweisen könnte.

Unser gegenwärtiges Wirtschaftsdenken ist auf die kurzfristige Unmittelbarkeit beschränkt. Manche indigenen Völker (und auch in unserer eigenen Geschichte) beziehen bei Entscheidungen die absehbaren Handlungskonsequenzen für mehrere Generationen ein. Wir meinen, mit dem schmalen Bild von Angebot und Nachfrage seien regelmäßig alle wichtigen handlungsleitenden Parameter erfasst. Alles andere gilt als vernachlässigbare Externalität.

Die Ökonomie spricht gerne von ihren Erkenntnissen als quasi „physikalische Gesetze“, und geht bevorzugt davon aus, dass sie ewig gelten werden. Die Ökonomie macht dabei aber den Kardinalfehler, dass sie sich auf ein mechanistisches Weltbild aus der Zeit Newtons (1642 – 1726) beruft. Dieser mechanistische Ansatz eignet sich nicht oder nur sehr eingeschränkt, um die komplexen sozialen Prozesse des gegenwärtigen Wirtschaftens hinreichend zu beschreiben oder gar zu verstehen.

Man könnte nun meinen, es wäre doch ein einfaches, die externen Effekte beim wirtschaftlichen Handeln künftig zu berücksichtigen. Der Begriff der externen Effekte ist ein Sammelbegriff für alles, was die Wirtschaftswissenschaften in ihren Betrachtungen bevorzugt als irrelevant ausschließen. Dazu zählen teilweise auch die Erkenntnisse anderer Wissenschaftszweige wie Psychologie, Soziologie, Physik und politische Wissenschaften. Dahinter verbirgt sich ein ganzer Kosmos der verschiedensten Aktivitäten und Zusammenhängen. Man könnte auch sagen, die Wahrnehmung der Externalitäten könnte einen Untersuchungsfeld eröffnen, das die Wirtschaftswissenschaft gegenwärtig weder kennt noch beschreiben kann, schweige denn Vorschläge entwickeln könnte, wie künftig damit umgegangen werden soll.

In lockeren Gesprächen wird oft der Vorschlag gemacht: gebt den Externalitäten einfach Preise, dann gewinnen sie im ökonomischen Sinne Entscheidungsrelevanz. So einfach ist das nicht. Der als Externalität erfasste Sachverhalt taucht ja in dem Begriffsapparat der Wirtschaftswissenschaften nicht mehr auf. Der Begriff der Externalität ist wie ein großer Papierkorb zu verstehen, in den „Überflüssiges“ entsorgt wird. Man kann im Rahmen der Ökonomie einen Preis nur festlegen, wenn der bezeichnete Gegenstand ein Wirtschaftsgut darstellt, das nach herrschender Meinung auf einem Markt Abnehmer findet. Das ist durch die Klassifizierung als Externalität aber ausgeschlossen.

Ob die Externalitäten Wirtschaftsgüter sein können, entscheidet sich auch an der Frage der Eigenständigkeit. Externalitäten sind oft Eigenschaften eines Wirtschaftsgutes oder eine Prozesses, die im Einzelfall als vernachlässigbar angesehen, aber in der Masse dann relevant werden kann. Für die Masse ist aber nach herrschender Auffassung niemand mehr verantwortlich zu machen, weil jeder Einzelfall (möglicherweise zu Recht) als irrelevant angesehen wurde. Hieraus kann man in etwa erkennen, dass eine Veränderung der relevanten Wirtschaftssituation nicht oder nur schwer durch Reparaturen am Begriffsapparat der orthodoxen Wirtschaftslehre erfasst werden kann.

Noch schwieriger wird es, wenn man davon ausgeht, dass die strikte Wachstumsorientierung unseres Wirtschaftssystems künftig mit ziemlicher Sicherheit ein Auslaufmodell sein wird. Oft wird lapidar vorgetragen, dass Wohlstand die neue Orientierung sei. Wachstum ist ein einfacher Quotient, der aus dem Bruttoinlandsprodukt gewonnen wird. Wohlstand ist ein deutlich komplexerer Sachverhalt, dessen Bestimmung je nach Verfahren i.d.R. eine ganze Reihe von unterschiedlichen Sachverhalten kombiniert, die sowohl quantitative als auch qualitative Kenngrößen umfassen.

Die Aufhebung des simplen und direkten Zusammenhangs von Wirtschaften und Wachstum könnte auch damit beginnen, dass man das mit dem Wachstum eng verbundene Kurzfristigkeitsdenken durch neue Regeln aufzubrechen versucht. Dieser Vorgänge lösen aber zwangsläufig eine Entwicklung aus, die die Verteilung von Gewinnern und Verlieren des Prozesses neu mischt.

Für die Produkte werden künftig z. B. gesetzlich Mindestlebenserwartungen definiert, wird Reparaturfähigkeit gefordert und eine Produkteigenschaft erwartet, die das einfaches Recyceln der eingesetzten Materialien sicherstellt. Bei Investitionen ist zu bestimmen, dass Erhaltung und Sanierung Priorität vor Neuanschaffung erhält. Dem Neubau wird auferlegt, so zu bauen, dass das Produkt eine lange Lebensdauer aufweist und mit einfachen Mitteln erhalten, an neue Verwendungen angepasst bzw. saniert werden kann. Zur Durchsetzung muss das Gesetz den Nutzern bzw. der Aufsicht die Möglichkeit bieten, die Beachtung die neue Regeln auf dem Rechtsweg durchzusetzen.

Durch die konkrete Unterbindung einer ständigen Kurzfristorientierung unserer gegenwärtigen Wirtschaftsaktivitäten werden wir feststellen können, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem ein riesiges System systematischer Verschwendung darstellt. Wir sind zwar effizient im Kleinen, aber durch unsere Orientierung an der Kurzfristigkeit dürfen die Güter, die wir produzieren, nicht zu lange halten, weil jeder dadurch veranlasste Neuverkauf die „Kiste am Brummen“ hält – zu Lasten unserer Lebensgrundlagen und unserer Mitwelt.

Die Wirtschaftswissenschaften gehen von einem ewigen Wachstum aus. Die Formel, die das Wachstum beschreibt, ist dabei so gestaltet, dass das Wachstum nicht nur in der Erwartung des Ewigen steht, sondern auch aufgrund der formalen Erfassung als Exponentialgleichung irgendwann mathematisch „explodiert“. Das hat aber bisher offensichtlich noch die wenigsten Wirtschaftswissenschaftler so richtig interessiert. Ähnlich geht es mit dem Ressourcenverbrauch, der natürlich für einzelne Ressourcen als begrenzt erkannt wird. Als Entlastung kommt dann schnell der Begriff der Substituierbarkeit ins Spiel . d.h. die knappe (und damit eventuell teure) Ressource wird dann durch eine andere ersetzt. Von der grundsätzlichen Möglichkeit der Endlichkeit der Ressourcen spricht die Ökonomie gewöhnlich nicht.

Die Thermodynamik der modernen Physik kann darstellen, dass alle Prozesse in der Natur irreversibel ablaufen, d.h. wenn ein Gleichgewichtszustand (und der spielt in den Wirtschaftswissenschaften eine beachtliche Rolle) durch laufende Prozesse verlassen wird, ist der alte Gleichgewichtszustand nicht mehr wiederherzustellen. Eventuell ist ein neues Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau darstellbar. Wenn wir Steinkohle verheizen, entsteht im Wesentlichen Energie, Staub und CO2. Der Prozess ist aber nur in dieser Richtung durchführbar (also irreversibel). Wir kennen das von den sogenannten Kipp-Punkten, deren Überschreitung ein Zurück zum Ausgangspunkt verbauen.

Aus Energie, Staub und CO2 sind wir nicht in der Lage, wieder Kohle herzustellen. Das klingt lächerlich, aber die auf der Mechanik aufbauende Theorie der Wirtschaftswissenschaften kann so etwas postulieren. Sie werden aber hoffentlich keinen ernstzunehmenden Vertreter finden, der diese Vorstellungen für die Praxis behauptet.

Die Irreversibilität der natürlichen Prozesse führt dazu, dass jeder dieser Prozesse einen Beitrag zur Entropie leistet. Dabei beschreibt Entropie ein Maß für die Umwandlung von Ressourcen in Energie. Die Energie ist nicht mehr auflösbar oder rückführbar. Je mehr wir Ressourcen extrahieren, desto mehr Energie setzen wir frei. Die „Entropiezeche“1 zahlen wir dadurch, dass die Energie nach unserem Gebrauch zwar in der Welt ist, aber für uns künftig nicht mehr nutzbar ist. Diese hier grob umrissenen Gedanken aus der Physik nimmt die Wirtschaftswissenschaft i.d.R. gar nicht zur Kenntnis.

Wenn wir also viele dieser angesprochenen Gesichtspunkte (es gibt noch viel mehr) realisieren, werden wir – oft automatisch, weil die Zusammenhänge sich dann ändern, eine ganz beachtliche Veränderung unseres Wirtschaftssystems auslösen.

Rifkin2 identifiziert die handlungsleitende Effizienz als kritischen „Dreh- und Angelpunkt“ unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Aus meiner Sicht muss zur Effizienz noch die Gewinnmaximierung als Ausdruck der inhärenten Gier hinzugefügt werden, um den Gedanken einer effizienten Handlungsweise ins Schädliche zu übertreiben und damit unser System hinsichtlich seiner Anpassungsfähigkeit (Resilienz) nachhaltig zu schwächen.

„Der Übergang von der Effizienz zur Anpassungsfähigkeit geht mit umfassenden Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft einher,

  • etwa der Verschiebung von Produktivität zu Erneuerbarkeit, (als nachhaltiges Kriterium)
  • von Wachstum zu Wohlstand, (von einem engen Konzept zu einer Form der Vielfalt)
  • von Eigentum zu Zugang, (nicht der Besitz zählt, sondern die Nutzungsmöglichkeit)
  • von Märkten mit Käufern und Verkäufern zu Netzwerken mit Anbietern und Nutzern, (das schlichte Denken in Angebot und Nachfrage weicht einer komplexeren Kommunikation)
  • von linearen Prozessen zu kybernetischen Prozessen, (von simplen zu komplexen Systemen)
  • von vertikaler zu lateraler Integration, von zentralisierten zu dezentralen Wertschöpfungsketten, (von der Hierarchie zum Netzwerk)
  • von Unternehmenskonglomeraten zu agilen hoch technisierten kleinen und mittelgroßen Genossenschaften, verlinkt in variablen Gemeingütern,
  • vom geistigen Eigentum zu Open Source (kostenfreie Gemeingüter)
  • von Nullsummenspielen zu Netzwerkeffekten, (von Gewinnern u. Verlierern zu breiterer Teilhabe)
  • von der Globalisierung zur Glokalisierung, (von der Anonymität zur Regionalität mit deutlich begrenzten globalen Bezügen)
  • vom Konsumismus zu Ökosystemdienstleistungen, (‚Shoppen‘ ist dann keine Freizeitbeschäftigung mehr)
  • vom Bruttoinlandsprodukt zu Indikatoren der Lebensqualität, (siehe Wachstum vs. Wohlstand)
  • von negativen externen Effekten zur Kreislaufwirtschaft, (Müll ist keine Lösung)
  • von der Geopolitik zur Biosphärenpolitik.“3 (Erhaltung der Biosphäre als Lebensgrundlage)

Es geht nicht darum, Verhaltensweisen zu diskreditieren, es geht darum, festzustellen, dass bestehende und verbreitete Verhaltensweisen keinen Beitrag zur Problemlösung mehr darstellen. Insofern werden wir an einer Transformation unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsleben nicht vorbeikommen. Je früher wir das verstehen, desto erträglicher werden die Konsequenzen sein.

„Früher dachte ich, die größten Umweltprobleme seien der Verlust der biologischen Vielfalt, der Zusammenbruch der Ökosysteme und der Klimawandel. Ich dachte, mit 30 Jahren guter Wissenschaft wären wir in der Lage, diese Probleme zu adressieren. Aber ich habe mich geirrt. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Apathie … und um diese Probleme zu lösen, brauchen wir einen geistigen und kulturellen Wandel.“4

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1Diesen Begriff habe ich bei J. Rifkin (Das Zeitalter der Resilienz, 2022) erstmals gefunden.

2Rifkin, Jeremy, Das Zeitalter der Resilienz, 2022

3Jeremy Rifkin, 2022, S. 12 (In Klammern habe ich versucht, minimale Erläuterungen zu geben)4

4Gus Speth, in: Duncan Austin, “The Towering Problem of Externality-Denying Capitalism”, real-world economics review, issue no. 102, 18. December 2022, pp. 30-54, (eigene Übersetzung)

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Lineares Denken – was ist die Alternative?

Das lineare Denken ist eine Folge unseres Weltbildes und wie wir uns die Welt erklären. Wir unterscheiden meist strikt in Subjekt und Objekt. Das Subjekt steht gewöhnlich außerhalb des Objekts, vergleichbar mit der Vorstellung von Göttern außerhalb der realen Welt. Diese Sichtweise wird auch noch verstärkt durch die Vorstellung von Ursache und Wirkung oder genauer von der präferierten Vorstellung von einer Ursache und einer Wirkung.

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Wenn diese Präferenz nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist (und das ist eigentlich die Regel), wird bevorzugt „abstrahiert“ (vereinfacht). Man hofft dabei, die wesentliche Ursache mit der wesentlichen Wirkung verknüpft zu haben und folgt der Vorstellung, dass die aus subjektiver Sicht ‚unwesentlichen‘ Eigenschaften ohne grundsätzlichen Schaden als nicht relevante Teile des Handelns ausgeblendet werden können.

Man schafft also bei dieser Vorgehensweise unweigerlich sogenannte „Kollateralschäden“, löst also dauernd kleinere ‚Schäden‘ aus, die man bewusst in Kauf nimmt, weil diese kleinen ‚Schäden‘ im Einzelfall als tolerierbar gelten.

Dieser verbreitete Ansatz, dem eine durchaus nachvollziehbare und auch erfolgreiche Logik innewohnt, trifft nun auf ein ökonomisches Verhalten, das seit rd. 200 Jahren das „Ich“ (den Egoismus) und einen entfesselten Freiheitsbegriff (ohne die damit verbundene Verantwortung) feiert. Dadurch werden die Kollateralschäden zusätzlich und nachhaltig marginalisiert und drohen dem Bewusstsein der Gesellschaft (dem ‚Wir‘) verloren zu gehen.

Die Kollateralschäden werden als solche nicht mehr wahrgenommen bis sie sich aufgrund ihrer großen Zahl und ihrer Häufigkeit von einem Kollateralschaden (im Einzelfall klein und mickrig) zu einem Masseschaden zusammenballen, und z.B. als ‚Klimakrise‘ das Bewusstsein der Menschen rückerobern.  

Die Beschreibung dieser Vorgehensweise wird seit einigen Jahrzenten als „linear“ bezeichnet. Um es ein wenig besser vorstellbar zu machen, sollten wir uns die Realität als ein filigranes Netz mit seinen vielen Verknüpfungen denken. Das lineare Denken greift nun aus diesem Netz einige Aspekte heraus, die das Prädikat „wesentlich“ erhalten und dann kommt die intellektuelle Schere, und zerschneidet das Netz der Verknüpfungen, um das augenscheinlich Wesentliche zu entnehmen und zu verarbeiten. Das Netz der Realität wird dadurch zerstört oder doch merklich beeinträchtig. Wir können davon ausgehen, dass das Netz sich i.d.R. um das Wesentliche herum wieder zusammenfindet, aber es ist nicht mehr das Ursprüngliche und muss ein neues Fließgleichgewicht finden. Gelingt das nicht, wird die Nebensache zum Problem.

Wenn man handelt, greift man unvermeidlich in das Netz der Realität ein, aber unsere gegenwärtige Sichtweise kann mit den ausgelösten „Kollateralschäden“ nicht umgehen, weil dafür ein anderes Denk-Werkzeug notwendig wäre. Dieses Werkzeug wurde vor ca. 70 Jahren geschaffen und hat sich relativ gut im Rahmen der Sozialwissenschaft durchgesetzt. Es ist aber (noch) nicht in der breiten Bevölkerung angekommen.

Frederic Vester hat vor mehr als 40 Jahren erste Ansätze für die Öffentlichkeit formuliert und acht Gesichtspunkte herausgestellt, um das lineare Denken in das zu transformieren, was man damals laterales oder vernetztes Denken nannte (vgl. meinen Beitrag hier: Vernetztes Denken v. 27.02.2022). Inzwischen sind wir weiter: Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt wurde aufgegeben, weil sie in komplexen Zusammenhängen nur schwer aufrechterhalten werden kann. Weiter wird deutlich, dass die Ursache-Wirkung-Relation, insbesondere in komplexen Zusammenhängen, das Denken sehr schnell an seine Grenzen führt.

Der neuere Ansatz, der zu Vesters Zeiten in seinen Kinderschuhen steckte, kümmert sich nicht um Ursache und Wirkung, sondern konzentriert sich auf die Funktion (den Zweck, den Sinn) von komplexen, organisatorischen Einheiten, die nun als ‚Systeme‘ begriffen werden. Bei sozialen Systeme spricht man nicht mehr von Elementen des Systems, sondern von Teilnehmenden. Durch die Wortwahl wird deutlich, dass hier die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird, weil das sogenannte Subjekt i.d.R. selbst als Teil des sozialen Systems betrachtet werden muss. Zwischen den Teilnehmenden des Systems bestehen relativ enge Verknüpfungen. Die Grenze des Systems wird anhand der Verknüpfungen definiert: Im System existieren mehr Relationen untereinander als zur Außenwelt des Systems.

Die Betonung der Verknüpfungen (Relationen) macht deutlich, dass im Rahmen eines Systems jede Handlung automatisch Auswirkungen auf andere Teilnehmende des Systems hat. Das „Netz“, das dadurch geschaffen wird, und in dem die Teilnehmer eingebunden sind, relativiert den üblichen Egoismus und auch den Freiheitsbegriff, weil der Teilnehmer im Rahmen des Systemzwecks nur soweit frei ist, als er die Freiheit des nächsten Teilnehmenden und das Überleben des Systems zu respektieren hat.

Soziale Systeme haben definitionsgemäß eine Funktion. Die Funktion ist konstituierend. Ohne Funktion (oder ohne Zweck) ist ein System nicht denkbar. Das ‚richtige‘ Handeln im Rahmen des Systems wird anhand der Funktion des Systems bestimmt.

Daraus wird verständlich, dass eine Systemveränderung in erster Linie voraussetzt, dass das System in seinen vielen Bezügen verstanden wird. Dabei gibt es vorerst keine Prioritäten, kein Wesentlich und keine Vernachlässigbarkeit. Da der Mensch im Umgang mit Komplexität sehr rasch an seine Grenzen stößt, bietet die Systemtheorie die Möglichkeit, Subsyteme zu definieren – mit anderen Worten, die hohe Komplexität des Gesamtsystems kann in kleinere Systemeinheiten mit jeweils begrenzter Komplexität heruntergebrochen werden, ohne dabei die Komplexität des Gesamtsystems unzulässig zu reduzieren bzw. zu „abstrahieren“.

Ergänzt wird das Konzept durch die Erkenntnis, dass soziale Systeme über die Möglichkeit der Selbststeuerung (Autopoiese) verfügen. Grundlage ist die Tatsache, dass die teilnehmenden Systemelemente als System ggfs. etwas schaffen, das nicht aus den Eigenschaften der Elemente unmittelbar ableitbar ist. Diese Eigenschaft wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man von einem System sagt, das Ganze sei mehr als seine Teile. Das, was das System kreiert, bezeichnet man als Emergenz. Hiermit möchte ich die Beschreibung der Theorie hier beenden, weil der Anlass es nicht rechtfertigt, noch mehr in die Details zu gehen.

Der Leser wird aus den dürren Beschreibungen spüren, dass die Systemtheorie verglichen mit den Ansätzen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen relativ komplex ist. Dabei gilt unter Systemtheoretikern die Maxime: Um komplexe Strukturen zu analysieren, braucht es komplexe Werkzeuge. Ist die Komplexität des verwendeten Werkzeugs der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes nicht angemessen, kann die Analyse nicht erfolgreich sein, weil dann unzulässig stark abstrahiert werden muss. Das Ergebnis, das auf abstrahierter Ebene gefunden wird, ist oft nicht mehr sinnvoll auf die Zusammenhänge der Realität zu übertragen. Und dann fallen wir wieder in das häufig anzutreffene Problem des linearen Denkens!

Betrachten wir die Ökonomie: Sie hat seit etwa 200 Jahren ständig dadurch abstrahiert, indem man Verknüpfungen, die den Gedankengang der Ökonomie störten, als Externalität in die Bedeutungslosigkeit verschoben hat. Durch diese Prozesse hat man eine Ökonomie geschaffen, die normative Lösungen anbietet, die aber in vielen Bereichen mit der Realität nichts mehr zu tun haben.

Wenn wir erkennen müssen, dass dieser Planet endlich ist, entziehen wir der gegenwärtigen ökonomischen Theorie die grundlegende Ideologie vom ewigen Wachstum. Das erkannten auch die Ökonomen und haben deshalb große Anstrengungen unternommen, die herrschende ökonomische Theorie so zu interpretieren, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch darstellbar wird. Das geht jetzt schon seit mindestens 40 Jahren so. Man sollte hier nicht weiter auf Zeit spielen und einen Strich ziehen und anerkennen, dass es hier keine adäquate Lösung gibt. Es wäre auch gut denkbar, sich mit den Erkenntnissen der Physik kurzzuschließen.

Das brächte das reale Wirtschaftssystem nicht unbedingt in ernste Schwierigkeiten, weil ein gesellschaftliches Leben ohne Wirtschaft schlecht denkbar ist. Ob es aber unverändert das heute verbreitete System bleibt, erscheint sehr fraglich. Es fällt mir auf, dass eine Transformation im Gange ist, zu der die wissenschaftsbasierte Ökonomie auf der Grundlage der ihr verfügbaren Denkstrukturen außer ‚Bremsen‘ kaum kreative Beiträge zu leisten vermag. Das Problem der ‚Externalitäten‘ rollt die Ökonomie von rückwärts auf.

Was in der Ökonomie immer als überflüssig oder störend aus ihrem Gedankengebäude als ‚außerhalb der Ökonomie‘ liegend weggedrückt wurde, poppt jetzt als originäre Problemstellung hoch und es ist m.E. deshalb nachvollziehbar, dass die Ökonomie keinen vernünftigen Rat zu geben weiß. Anders kann ich das Abtauchen der großen Wirtschaftsinstitute bei diesen existenziellen Fragestellungen nicht interpretieren.

Kann die Systemtheorie hier Unterstützung leisten? Wenn wir uns klar machen, dass die Fokussierung auf eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt nur eine sehr begrenzte Reichweite hat, könnte die Sichtweise auf das Problem im Rahmen von Systemen von Vorteil sein. Das betrachtende Subjekt ist als Mensch Teil eines Systems, wodurch der Mensch seine Perspektive m.E. verändert: Das Subjekt ist nicht ein „Solist“, sondern ein ‚Teilnehmer‘, der in Systeme eingebunden ist. Das System stellt nicht die Frage nach der Ursache einer Wirkung, sondern fragt, ob die beobachtete Wirkung der Funktion des Systems angemessen ist. Auf diese Weise richtet sich die Perspektive vom Subjekt auf das System, auf ein durch vielschichtige Relationen verbundenes komplexeres Ganzes. Um es etwas konkreter werden zu lassen: wir bewegen uns vom individuellen „Ich“ zum „Wir“. Wenn das Subjekt-Objekt-Denken sehr eng und fokussiert ist, gelingt es über das System den Blick zu weiten und ganzheitlichere Gesichtspunkte in die Untersuchungen einzubeziehen. Systeme wollen ‚leben‘ bzw. ‚überleben‘ und damit rückt die Subjekt-Perspektive in die hinteren Reihen.

Das Ursache-Wirkung-Denken können wir aber nicht aufgeben. Ursache und Wirkung bleiben wesentliche Erkenntniswerkzeuge, sie werden nur durch den systemischen Ansatz alternativ erweitert und schaffen Perspektiven, die das lineare Denken aus Gründen der Komplexität, nicht ermöglichen. F. Vester hat diese Unterscheidung in die Praxis übertragen, indem er vorschlug, beim vernetzten Denken nicht in Produkten (oder Objekten), sondern in Funktionen zu denken.

Um diese Unterscheidung im Alltag besser erkennbar zu machen: Das Automobil ist ein Produkt. Die Mobilität repräsentiert die Funktion, zu der am Ende das Produkt beitragen soll. Das Automobil hat in seiner langen Geschichte zweifelsohne zur Mobilität beigetragen. Aber die Welt hat sich in der Zeit verändert: Die Mehrzahl der Automobile steht täglich ca. 22 Stunden herum, braucht in Städten viel Platz (Parkplatz vor dem Haus und Parkplatz in der Firma), stößt erhebliche Abgase und Feinstoffe aus und verursacht in seiner Massierung innerstädtisch einen hohen Lärmpegel. Wenn man beim Produkt bliebe, kommen solche Argumente selten. Sowie man sich über die Funktion klar wird, wird die Perspektive verändert und der Lösungsraum gewinnt an Weite und Vielfalt.

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