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Gestaltende Politik?

Putins Ukraine-Krieg hat nicht nur unsere nationale Abhängigkeit in Bezug auf die Energieversorgung deutlich zutage treten lassen. Als Folge passiert exakt das, was mit der immer wieder diskutierten „Energiewende“ wohl auch unvermeidlich gewesen wäre: die Kosten für Energie steigen heftig und unkontrolliert. Der mediale Aufschrei ist erheblich, aber angesichts der seit Jahren immer wieder diskutierten und geforderten Wende reibt man sich die Augen und fragt sich: was soll das?!

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Die Politik hat das zweifelhafte „Glück“, dass die Preissteigerung ausschließlich als Folge eines Krieges in der Ukraine gesehen wird. Hätte die Politik diese Entwicklung als Folge ihrer längst fälligen Maßnahmen zur Energiewende vertreten müssen, könnte ich die Aufregung verstehen. Also kann man der Politik nur zurufen: Nutzt die Chance! Hier tut sich ein Sachzwang auf, bei dem die politischen Organe die Schuld an der Situation medienwirksam auf Putin abwälzen können. Die Energiepolitik ist in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren einer kompletten Fehleinschätzung aufgesessen. Sie hat dafür auch viel Geld investiert und in den Sand gesetzt. Das lässt sich offensichtlich klein reden. Deshalb der Appell an die Politik: Nutzt die Chance für die überfällige Energiewende! Wenn das gelingt, könnte man die Fehler der Vergangenheit leicht verschmerzen.

Ob hier etwas Konstruktives geschieht, möchte ich aber bezweifeln. Wie schon einmal dargestellt, versteht sich das politische System in den westlichen Demokratien als ein Organ der gesellschaftlichen Moderation. Wenn im nationalen System Veränderungen eintreten, versucht die Politik, die damit verbundenen Fehlentwicklungen zu puffern oder zu „reparieren“. Aber vor elf Jahren (2011) hat das Beratergremium der Bundesregierung (WBGU[1]) angesichts der Klimakrise eindringlich gefordert, den Reparaturbetrieb der Moderation aufzugeben und eher „gestaltend“ tätig zu werden. Die Forderung ist sicher richtig, aber die Rahmenbe-dingungen, unter denen eine Gestaltung möglich wäre, sind m.E. organisatorisch gar nicht oder nur bedingt vorhanden.

Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen ….“[2]

Wenn unsere Regierung gestaltend wirken wollte, würden sich ihr schlagartig Gegner in den Weg stellen, wo vorher eitel Freude war. Eine Schlussfolgerung wäre, dass in unserer Gesellschaft eine wirkliche politische Gestaltung nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wir bezeichnen Teile des politischen Systems als Regierung in der Erwartung, dass sie gestaltend wirken kann. Aber vielleicht hat sich die mit dem Regieren verbunden geglaubte Macht aufgelöst, zerfasert und wurde statt von der Regierung teilweise von anderen „Akteuren“ unserer Gesellschaft übernommen. Diejenigen, von denen wir glauben, dass sie führen sollten und könnten, sind aufgrund ihres Machtverlustes nur noch in der Lage, zwischen den zwischenzeitlich entstandenen neuen „Trägern der Macht“ zu moderieren. Gleichzeitig ist keiner der neuen Träger der Macht selbst in der Lage, seinerseits gestaltend zu wirken, weil auch ihnen die notwendige Macht und insbesondere die Legitimität zur Gestaltung fehlen. Es lassen sich nur noch solche Sachverhalte gemeinsam gestalten, die die Machtverhältnisse nicht verändern oder die als „Sachzwang“ erkannt zum Handeln zwingen und damit eine gestaltende Reaktion unvermeidlich machen.

Den Sachzwang als Mittel zur Gestaltung hat, so scheint es mir, so mancher Politiker begriffen. Sie haben ihre relative Machtlosigkeit in vielen Konstellationen erkannt und versuchen stattdessen die Möglichkeit zu nutzen, Sachverhalte so zu „führen“, dass sie in der jeweiligen Situation Chancen haben, zum Sachzwang zu werden oder sich als Sachzwang darstellen lassen. Damit kann den sonst widerstrebenden Beteiligten mangels Alternativen eine Zustimmung zu einer gestaltenden Entscheidung viel leichter abgerungen werden.

Mein Eindruck ist, dass unser demokratisches System zunehmend an Führungskraft verliert und die politische Vielstimmigkeit nicht von der Sache getragen und von der Aufgabe der Politik bestimmt werden, sondern von Empörung, Aufmerksamkeitserzeugung, politischem Überlebenstricks und internem Gerangel getragen werden. Dabei tritt die Gestaltung der sachlichen Problematik m.E. in den Hintergrund.

Helmut Willke kommt auf einer ausführlicher dargestellten Basis zu einem ähnlichen Urteil:

Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger Industriegesellschaften als ‚dahintreibend‘. Diese frühe Diagnose Etzionis[3], die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem -, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbst erzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projektes nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.“[4]

Diese Diagnose aus 2014, sofern sie unterändert zutrifft, ist nicht erfreulich und setzt der einfachen Forderung der WBGU aus 2011 deutliche Grenzen. Es genügt nicht die Forderung zu formulieren. Man muss auch Wege und Strukturen finden, dieser Forderung in einem demokratischen System Geltung zu verschaffen. Das ist eine Herausforderung, für die die westlichen Demokratien m.E. bisher noch keine handhabbare Lösung gefunden haben. Und das Demokratie-Problem könnte ein größeres Gewicht entwickeln als die virulente Klimakrise. Die Klimakrise entwickelt sich zum Sachzwang und wird uns und damit die Politik unnachgiebig und dauerhaft vor sich her treiben.

Ob wir aber in der Lage sein werden, unsere Demokratie so umzuformen, dass der unverzichtbar demokratische Kern erhalten bleibt, aber die liebgewonnen, systemschädlichen Privilegien aufgehoben werden können, steht noch nicht fest.

Willke hat in einem Youtube Beitrag aus dem Jahre 2017 zum Ausdruck gebracht, welche Eigenschaften der Demokratie er als zentrale Komponenten erhalten wissen will. Er führt dort fünf zentrale Gesichtspunkte auf:

  • Legitimität
  • Partizipation
  • Transparenz
  • Effektivität und
  • Rechenschaftspflicht

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Und Willke fragt sich zu Recht, ob die Erwartung sinnvoll ist, dass in einer Umwelt des Wandels sich die Idee der Demokratie dem formalen Wandel entziehen kann? Sein Ansatz fußt auf den fünf Komponenten, die sich zwar graduell verändern können, die aber für eine Demokratie unverzichtbar seien.

Bei dem, was man politische Gestaltung nennen könnte, sind zuvorderst die Komponenten Transparenz und Effektivität betroffen. Wenn wir mehr Gestaltungskraft fordern, wäre es auch angebracht, der Rechenschaftspflicht ein höheres Gewicht beizumessen. Wenn Gestaltung unser Ziel ist, müssen auch erweiterte Partizipationsmöglichkeiten das Mehr an organisierter Effektivität ausgleichen und dem Handeln auch eine Richtung geben, die der Legitimität eingebunden wird.

Demokratie verbindet man eng mit den historischen Begriffen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus dem 17. Jahrhundert. Das beschreibt so etwas wie die Ziele der modernen Demokratie. Die fünf Punkte von Helmut Willke konkretisieren organisationale Gestaltungsprinzipien einer nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebenden Gesellschaft. Oder anders gewendet: wenn eine Gesellschaft sich entlang der fünf Prinzipien strukturiert, könnten die drei Ziele gewissermaßen (organisch) als Emergenz entstehen, d.h. die drei Ziele könnten sich aus dem gesellschaftlichen System  herausbilden (emergieren), ohne dass man sie ständig verbalisiert oder bewusst neu zu gestalten versucht. Diese Vorstellung bleibt vorerst eine These. Sie hätte aber den großen Vorteil, dass man die Ziele nicht immer wieder auf die fokale Situation aufpfropfen müsste, was regelmäßig erhebliche, möglicherweise überflüssige „Reparaturaktivitäten“ auslöst, weil die Systemzusammenhänge nicht verstanden werden.

Der erste große Aufbruch zu einer Gestaltung von Gesellschaftspolitik war die Untersuchung von Amitai Etzioni über „Die aktive Gesellschaft“. Die Veröffentlichung hat 1971 in den politischen und sozialen Wissenschaften wie eine Bombe eingeschlagen. Leider hat sich parallel der Neoliberalismus breit gemacht, der eine simple Ideologie anbot und der Politik Entlastung dadurch versprach, dass er Glauben machte, der Markt würde es schon richten. Das System, das Etzioni als Gesellschaft ansprach, hat der Neoliberalismus negiert: Es gäbe nur egoistisch handelnde Individuen. Nach mehreren Desastern haben die meisten jetzt gemerkt, dass dieser „Marktglaube“ zu simpel strukturiert ist, um eine hochkomplexe Gesellschaft zufriedenstellend steuern zu können. Als Folge hat der WBGU 2011 richtigerweise den Anspruch auf eine Gestaltung in den Raum gestellt. Das Dumme ist nur, der Raum wird m.E. nur von ganz wenigen wissenschaftlich aufbereitet. Wir können deshalb auch nicht auf hinreichende Erkenntnisse und ausreichend komplexe Strukturen zurückgreifen, auf die eine demokratisch fundierte „Gestaltung“ gegenwärtig gesichert aufbauen könnte. Umso vorsichtiger und umsichtiger sollten wir vorgehen. Ob uns aber die konkrete Lage dazu die notwendige Zeit lässt, bleibt zu hoffen.


[1] WBGU, Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011

[2] King, Alexander u. Schneider, Bertrand: Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, 1991, in: SpiegelSpezial (Nr.2/1991), S. 104, zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III, 2014, S. 22

[3] Etzioni, Amitai, Die aktive Gesellschaft, 1975; die englische Fassung (The Active Society) wurde 1971 veröffentlicht.

[4] Willke, Helmut, Systemtheorie III, Steuerungstheorie, 2014, S. 42f

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Ein Gesellschaftsvertrag zur Nachhaltigkeit

Die WBGU[1] hat unter dieser Überschrift in der Veröffentlichung[2] von 2011 (Hauptgutachten/Flagship Report) in englischer Sprache eine ganze Reihe von bemerkenswerten Gedanken zusammengetragen. Die Ausführungen sind zwar schon wieder über ein Dekade alt, aber die dort gemachten Vorschläge haben nach meiner Einschätzung keine rechte politische Resonanz gefunden, mit anderen Worten: es ist nur das wenigste davon realisiert.

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Die große Zahl von Theorieansätzen, Fakten und angeführten Einzelheiten bewerten zu wollen, übersteigt mein Wissen und auch meine Kompetenz. Die Einzelaussagen erscheinen für sich genommen nachvollziehbar und schlüssig, aber ich fühle mich mit meiner Frage „Wie soll das funktionieren?“ allein gelassen – meines Erachtens fehlt da etwas Wesentliches! Ich will versuchen, diese Lücke zu umreißen.

Das Gutachten greift die Idee eines Sozialvertrages auf, die in der Vergangenheit schon bei vielen klassischen Autoren Anwendung gefunden hat. Dabei schauen diese Autoren meist in die historische Entwicklung und glauben dabei so etwas wie einen „Sozialvertrag“ zwischen den gesellschaftlichen Kräften entdecken zu können. Dieser Vertrag wurde real nie geschlossen, sondern Beobachter des Geschehens haben meist nachträglich konstatiert, dass dieses Zusammenspiel in der Abstraktion vertragsähnliche Strukturen besitze. Um es konkret zu machen: es gab um 1750 herum keine Blaupause, wie der Kapitalismus zu gestalten sei – er hat sich in kleinen, manchmal auch größeren Schritten zu seiner heutigen Form evolutionär (also weitgehend ungesteuert) entwickelt.

Das Gutachten versucht nun diesen „Vertrag“ als Metapher zu verwenden, um eine gesellschaftliche Wende weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit griffig zu beschreiben. Es ist der Versuch, den anstehenden Wandlungsprozess als Blaupause (in Form eines groben Planes) zu beschreiben. Dabei ist das „weg vom Kapitalismus und hin zur Nachhaltigkeit“ meine Interpretation. Das Gutachten enthält sich da jeder Stellungnahme. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie Neoliberalismus und Nachhaltigkeit unter einen Hut passen soll, ohne dass sich der Kapitalismus massiv verändert.  

Wenn man das Gutachten genauer liest, so reduziert sich die „Blaupause“ der WBGU auf die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung. Diese drei Aktionsfelder, so mein Eindruck, seien jene Bereiche, in denen Wandel aufgrund des unmittelbar hohen Problemdrucks am vordringlichsten sei. Das Gutachten versucht, einen Sozialvertrag zu mehr Nachhaltigkeit zu schaffen, beschränkt sich aber auf diese drei Aktionsfelder. Damit wird deutlich, dass nicht unser Wirtschaftssystem (der Kapitalismus) zur Diskussion steht, sondern nur die genannten Bereiche. Es ergibt sich die Frage, ob diese „Teilrenovierung“ überhaupt funktioniert ohne sich Gedanken zu machen, wie sich die ‚Renovierung‘ in die anderen (restlichen) Teile von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken könnte. Lässt sich das Wirtschaftssystem sinnvoll in einen Teil spalten, der so etwas wie Nachhaltigkeit praktiziert, neben einen zweiten Teil des Systems, der nach der alten Devise „weiter so“ marschiert? Das erscheint nicht praktikabel. Das Gutachten schenkt diesem Problem aber keine Beachtung.

Es ist mir verständlich, dass diese Frage bewusst ausgeklammert ist, weil die Komplexität der nachfolgenden Zusammenhänge jeden Erkenntnisgewinn aus dem Denken in Ursache-Wirkung unmöglich macht. Wenn wir dem Gutachten folgen und uns auf die drei Aktionsfelder beschränken, sonst aber keinen generellen Wandel z.B. in den sogenannten „handlungsleitenden Prinzipien“ vorsehen, gibt es Konflikte ohne Ende. Unser Wirtschaftssystem lebt von einer Reihe von handlungsleitenden Prinzipien, wie z.B. die kurzfristige Orientierung des Handelns, eine Wertorientierung exklusiv auf Basis des Geldes, das Wachstum, das als unbegrenzt gilt, u.a.. Die Nachhaltigkeit gehört bisher eindeutig nicht dazu. Angenommen, die drei Felder Energie, Urbanisierung und Landnutzung folgen künftig nachhaltigen Prinzipien, wie sollen sich dann der „Rest“ des Wirtschaftssystems bzw. die Gesellschaft verhalten? Müssen sie nachziehen? Ist das so ohne jede Untersuchung der Problematik ratsam? Oder führt der Mangel an Abstimmung in ein Chaos der Zuständigkeiten?

Die meisten der Autoren, die ich gelesen habe, gehen davon aus, dass die Nachhaltigkeit global eingeführt werden muss. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, aber wann wird das jemals erfüllt sein? Ist es nicht sinnvoller und pragmatischer, einen nationalen Weg einzuschlagen, der stets zur globalen Seite hin offen ist, der aber nicht ständig wartet, bis auch das letzte „Kamel“ seinen Platz in der globalen Karawane gefunden hat. Wenn ein Land von der wirtschaftlichen Bedeutung wie Deutschland sich tatsächlich auf den Weg der Nachhaltigkeit machen würde und damit auch noch Erfolg hat, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die „langsameren Kamele“ nachziehen werden und von unseren nationalen Erfahrungen profitieren wollen. Sollten wir es nicht schaffen, diesen Weg erfolgreich zu gehen, werden wir auf einigen Feldern der Transformation wichtige Erfahrungen gesammelt haben und daraus dann künftig Vorteile ziehen können.

Ein großes Anliegen der WBGU ist eine Veränderung der politischen Governance von einem moderierenden Staat zu einem gestaltenden Staat (siehe auch meinen Beitrag „Moderator oder Gestalter“ vom 29.12.2021). Dabei sind erfahrungsgemäß Schwierigkeiten zu erwarten, weil Regierungen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die sich schlecht in die Idee der WBGU einfügen lassen:

Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation u. dergleichen.“[3]

Wenn diese Aussage unverändert stimmt, hat es wenig Sinn, darauf zu vertrauen, dass der gestaltende Staat sich anders verhält. Es ist das gleiche Personal und es sind ohne grundlegende Änderung der politischen Strukturen die gleichen eingefahrenen Verhaltensweisen. Das politische Verhalten folgt einer langjährig gewohnten Strategie. Wir dürfen davon ausgehen, dass die politischen Strukturen hier gegenwärtig kaum eine andere Verhaltensweise zulassen. Dann ist aber der Vorschlag, einen gestaltenden Staat einzuführen, zwar wünschenswert, aber äußerst fragwürdig, es sei denn, man stellt ganz klar auch die gegenwärtigen politischen Strukturen in Frage. Das ist aber im Gutachten nicht der Fall.

Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die drei Aktionsfelder einer grundlegenden Neustrukturierung unterliegen werden. Es geht nicht um Krisenbewältigung im Sinne von Reparatur, es geht um Neugestaltung. Es könnte sehr gut sein, dass diese Aufgabe die Politik schlicht überfordert, weil sie seit Jahrzehnten nur gewohnt ist, Reparaturdienste bereitzustellen. Um Neues langfristig zu gestalten, wird es sehr viel Unterstützung von allen gesellschaftlichen Seiten bedürfen. Diese Unterstützung müsste organisiert (strukturiert) und systematisch vorbereitet werden und wäre m.E. mit Sicherheit Teil des Inhalts des neuen Sozialvertrages. Dazu nimmt das Gutachten aber keine Stellung.

Der gestaltende Staat soll sich die erhöhte Gestaltungsfähigkeit durch eine verstärkte bzw. veränderte Bürgerbeteiligung ‚ausgleichen‘. Einige Vorschläge beziehen sich dabei auf den „deliberativen Partizipationsprozess“ (ein schrecklicher Begriff), der das Mehr an politischer Gestaltung  durch ein Mehr an Beteiligung ausgleichen soll. Es ist ein Verfahren, bei dem z.B. hundert BürgerInnen zufällig ausgewählt werden, die in etwa der Schichtung unserer Gesellschaft entsprechen. Sie übernehmen die Aufgabe freiwillig und ehrenamtlich und repräsentieren insofern „das Volk“. Die Teilnehmer werden von neutralen Fachleuten mit den anstehenden Problemen vertraut gemacht (Wissensvermittlung) und treffen sich dann in wechselnden Kleingruppen, um die Fragestellungen mit unterschiedlichen Moderatoren zu diskutieren. Das Ergebnis wäre ein „Bürgergutachten“, das weitgehend frei von Lobbyeinfluss entsteht und dem Parlament als Richtschnur zur Verfügung gestellt wird. Dieses Verfahren wird von der WBGU kurz angeschnitten, aber nicht weiterverfolgt, obwohl das Verfahren inzwischen nach Pressemitteilungen weltweit in über 400 Fällen erfolgreich angewendet wurde[4]. Dieser Ansatz ist nur einer von Vielen.[5]

Nun kommt eine ganz grundsätzliche Frage auf: Ist das sehr detailliert aufgebaute Gutachten der WBGU geeignet, der Politik als „Handreichung“ für ihr Transformations-Geschäft zu dienen? Dabei sollte man gedanklich versuchen, sich in den Stuhl eines Vertreters der Politik zu versetzen. Der Tag eines Politikers hat auch nur 24 Stunden und sie tun mir leid, wenn man die Erwartung aufrechterhält, dass dieses Gutachten mit der Fülle an komplexen Zusammenhängen von ihnen gelesen und auch verstanden werden soll.

Dabei ergibt sich für mich noch eine völlig andere Frage: Ist der Ansatz überhaupt zielführend? Wir sprechen ja von einem Sozialvertrag (Social Contract for Sustainability) und diskutieren dann im Gutachten Energieproduktion, -abhängigkeit und -nutzung, Verstädterung (Urbanisierung, Migration) und Landnutzung (Verwaltung eines nicht vermehrbaren Gutes). Wo bitte sind da Aspekte, die wir im Rahmen einer ‚Sozialvertrags-Konstruktion‘ neu strukturieren müssten?

Wenn die Autoren des Gutachtens die Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung diskutieren, bewegen wir uns im Materiellen und Quantitativen, also in Fragen des konkreten Handelns. Im Rahmen eines Sozialvertrages sollte es m.E. aber um abstrakt politische (qualitative) Gesichtspunkte gehen: Wie trägt man die in den Aktionsfeldern entwickelten Strategien und Prinzipien an die Gesellschaft heran, so dass man Aussichten hat, für das geplante Vorgehen die notwendige Unterstützung und Legitimation zu erhalten. Der Politiker kann die sachliche Seite der Vorschläge nur schwer beurteilen. Er ist vermutlich froh, wenn er sie im Grundsatz verstanden hat. Sein Interesse liegt darin, dass er Hilfestellung erfährt, wie er die als „richtig“ erkannten Schritte in die Öffentlichkeit tragen kann und sich dabei die Unterstützung wesentlicher politischer Kreise sichert. Auf der Vorstellung, dass sich sachlich Sinnvolles von selbst durchsetzt, sollte man schon allein aus Gründen der Lebenserfahrung nicht beharren.

Wir bewegen uns hiernach mit der Idee eines Sozialvertrages nicht mehr auf irgendwelchen materiellen Aktionsfeldern, sondern auf dem Feld der politischen Organisation und den Umsetzungserfordernissen. Es geht also um die Frage, wie kann die Politik strategisch sinnvoll vorgehen, um am Ende das als „richtig“ Befundene realisieren zu können. Da wir offensichtlich der Meinung sind, dass der bisherige „Sozialvertrag“ (oder was wir dafür halten) es nicht hergibt, Nachhaltigkeit zu unterstützen, müssen wir eine Änderung dieses Kontraktes herbeiführen. Dazu müssen wir sowohl die Struktur als auch die Prozesse des gegenwärtigen gesellschaftlichen als auch des politischen Systems verändern. Das ist aber mit Aussagen zur Transformation der Aktionsfelder Energie, Urbanisierung und Landnutzung zu mehr Nachhaltigkeit nicht zu leisten. Das wichtigste Element fehlt – das wäre der veränderte Sozialvertrag, der bestimmt, wann und wie die Transformation ihre politische Legitimation finden kann und wird.

Neben der Frage des neuen Sozialvertrages bleibt die zweite Frage offen: Was ist eigentlich Nachhaltigkeit? Es fällt auf, dass dieser Aller-Welts-Begriff von niemanden klar umrissen werden kann, ganz besonders nicht dann, wenn es konkret wird. Das Problem durchzieht alle mir bekannten Gutachten der WBGU und auch andere Veröffentlichungen zu diesem Thema. Wir sind mit der Nachhaltigkeit immer in der Nachbarschaft zum Gemeinwohl – jeder meint zu wissen, was gemeint ist, aber wenn es dann spitz zuläuft, bleibt nichts mehr übrig, was man irgendwie greifen bzw. justiziabel verwenden könnte. Möglicherweise ist das der Grund, warum der deutsche Text des Gutachtens von einem „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ spricht und nur der englische Text einen „Social contract for Sustainability“ beschreibt. Die ‚Große Transformation‘ klingt gut, aber fragt bitte nicht nach dem Inhalt. Das ist eine riesige Leerformel, gut gewählt im Hinblick auf die Politik, aber absolut nutzlos, wenn man nach dem konkreten Inhalt fragt oder den Begriff verwenden möchte, um etwas Konkretes damit aufzubauen.

Nun haben wir das Problem, dass wir einen Sozialvertrag erwarten, wohl wissend, dass es diesen Vertrag im besten Fall nur symbolisch geben kann. Wer sollte ihn formulieren, wer schreibt ihn nieder und wer unterzeichnet ihn legitimer Weise? Und dann ist der Gegenstand des symbolischen Vertrages – die Nachhaltigkeit – ein Begriff, den bisher niemand richtig festmachen und dessen Bedeutung sinnvoll eingrenzen kann und will. Aber wir sind uns vermutlich einig, dass es so etwas geben sollte: eine ‚Charta‘ zur Nachhaltigkeit und ihre breite politische Unterstützung. Das klingt beinahe wie die Quadratur des Kreises. Wenn das gelänge, sollte man bitteschön auch den Gedanken des Gemeinwohls gleich mit verarbeiten. Das Gemeinwohl hätte positiv das Wohl der Gesellschaft im Blick und das Postulat der Nachhaltigkeit bezöge sich auf die Vermeidung (schädlicher) Einwirkungen der Gesellschaft auf ihre natürlichen Lebensgrundlagen.

Unsere Verfassung wäre offensichtlich der passende Ort für die Begriffe Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Der Verfassung müsste aber unbedingt ein Ausführungsgesetz nachgeschaltet sein, das dann den Inhalt der unbestimmten Rechtsbegriffe (Nachhaltigkeit u. Gemeinwohl) hinreichend fixiert und dringend auch eine Konkretisierung des Begriffs der Sozialbindung des Eigentums (Art 14, II GG) mit einschließt. Es muss letztlich möglich sein, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und Sozialbindung einzuklagen. Dazu müssen die Regeln justiziabel gestaltet werden. Wenn das gelingt, kann man auch zu Recht von gesellschaftlichen Zielen sprechen, die für jedermann verbindlich sind. Vorher bleibt es nur Wunschvorstellung und viel heiße Luft!


[1] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

[2] Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (2011) oder „World in Transition –A Social Contract for Sustainability (engl. Fassung)

[3] Alexander King und Bertrand Schneider (1991), S. 104, Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome, in: SpiegelSpezial (Nr. 2/1991), zitiert nach H. Willke, Systemtheorie III (2014), S. 22

[4] Siehe den ARTE 42-Beitrag vom 18.09.2021 mit dem Titel: „Sollen wir losen oder wählen?“

[5] Vgl. z. B. H. Willke (3.2.2017),  https://www.youtube.com/watch?v=M9fg2xFzJAw

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