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Lineares Denken – was ist die Alternative?

Das lineare Denken ist eine Folge unseres Weltbildes und wie wir uns die Welt erklären. Wir unterscheiden meist strikt in Subjekt und Objekt. Das Subjekt steht gewöhnlich außerhalb des Objekts, vergleichbar mit der Vorstellung von Göttern außerhalb der realen Welt. Diese Sichtweise wird auch noch verstärkt durch die Vorstellung von Ursache und Wirkung oder genauer von der präferierten Vorstellung von einer Ursache und einer Wirkung.

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Wenn diese Präferenz nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist (und das ist eigentlich die Regel), wird bevorzugt „abstrahiert“ (vereinfacht). Man hofft dabei, die wesentliche Ursache mit der wesentlichen Wirkung verknüpft zu haben und folgt der Vorstellung, dass die aus subjektiver Sicht ‚unwesentlichen‘ Eigenschaften ohne grundsätzlichen Schaden als nicht relevante Teile des Handelns ausgeblendet werden können.

Man schafft also bei dieser Vorgehensweise unweigerlich sogenannte „Kollateralschäden“, löst also dauernd kleinere ‚Schäden‘ aus, die man bewusst in Kauf nimmt, weil diese kleinen ‚Schäden‘ im Einzelfall als tolerierbar gelten.

Dieser verbreitete Ansatz, dem eine durchaus nachvollziehbare und auch erfolgreiche Logik innewohnt, trifft nun auf ein ökonomisches Verhalten, das seit rd. 200 Jahren das „Ich“ (den Egoismus) und einen entfesselten Freiheitsbegriff (ohne die damit verbundene Verantwortung) feiert. Dadurch werden die Kollateralschäden zusätzlich und nachhaltig marginalisiert und drohen dem Bewusstsein der Gesellschaft (dem ‚Wir‘) verloren zu gehen.

Die Kollateralschäden werden als solche nicht mehr wahrgenommen bis sie sich aufgrund ihrer großen Zahl und ihrer Häufigkeit von einem Kollateralschaden (im Einzelfall klein und mickrig) zu einem Masseschaden zusammenballen, und z.B. als ‚Klimakrise‘ das Bewusstsein der Menschen rückerobern.  

Die Beschreibung dieser Vorgehensweise wird seit einigen Jahrzenten als „linear“ bezeichnet. Um es ein wenig besser vorstellbar zu machen, sollten wir uns die Realität als ein filigranes Netz mit seinen vielen Verknüpfungen denken. Das lineare Denken greift nun aus diesem Netz einige Aspekte heraus, die das Prädikat „wesentlich“ erhalten und dann kommt die intellektuelle Schere, und zerschneidet das Netz der Verknüpfungen, um das augenscheinlich Wesentliche zu entnehmen und zu verarbeiten. Das Netz der Realität wird dadurch zerstört oder doch merklich beeinträchtig. Wir können davon ausgehen, dass das Netz sich i.d.R. um das Wesentliche herum wieder zusammenfindet, aber es ist nicht mehr das Ursprüngliche und muss ein neues Fließgleichgewicht finden. Gelingt das nicht, wird die Nebensache zum Problem.

Wenn man handelt, greift man unvermeidlich in das Netz der Realität ein, aber unsere gegenwärtige Sichtweise kann mit den ausgelösten „Kollateralschäden“ nicht umgehen, weil dafür ein anderes Denk-Werkzeug notwendig wäre. Dieses Werkzeug wurde vor ca. 70 Jahren geschaffen und hat sich relativ gut im Rahmen der Sozialwissenschaft durchgesetzt. Es ist aber (noch) nicht in der breiten Bevölkerung angekommen.

Frederic Vester hat vor mehr als 40 Jahren erste Ansätze für die Öffentlichkeit formuliert und acht Gesichtspunkte herausgestellt, um das lineare Denken in das zu transformieren, was man damals laterales oder vernetztes Denken nannte (vgl. meinen Beitrag hier: Vernetztes Denken v. 27.02.2022). Inzwischen sind wir weiter: Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt wurde aufgegeben, weil sie in komplexen Zusammenhängen nur schwer aufrechterhalten werden kann. Weiter wird deutlich, dass die Ursache-Wirkung-Relation, insbesondere in komplexen Zusammenhängen, das Denken sehr schnell an seine Grenzen führt.

Der neuere Ansatz, der zu Vesters Zeiten in seinen Kinderschuhen steckte, kümmert sich nicht um Ursache und Wirkung, sondern konzentriert sich auf die Funktion (den Zweck, den Sinn) von komplexen, organisatorischen Einheiten, die nun als ‚Systeme‘ begriffen werden. Bei sozialen Systeme spricht man nicht mehr von Elementen des Systems, sondern von Teilnehmenden. Durch die Wortwahl wird deutlich, dass hier die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird, weil das sogenannte Subjekt i.d.R. selbst als Teil des sozialen Systems betrachtet werden muss. Zwischen den Teilnehmenden des Systems bestehen relativ enge Verknüpfungen. Die Grenze des Systems wird anhand der Verknüpfungen definiert: Im System existieren mehr Relationen untereinander als zur Außenwelt des Systems.

Die Betonung der Verknüpfungen (Relationen) macht deutlich, dass im Rahmen eines Systems jede Handlung automatisch Auswirkungen auf andere Teilnehmende des Systems hat. Das „Netz“, das dadurch geschaffen wird, und in dem die Teilnehmer eingebunden sind, relativiert den üblichen Egoismus und auch den Freiheitsbegriff, weil der Teilnehmer im Rahmen des Systemzwecks nur soweit frei ist, als er die Freiheit des nächsten Teilnehmenden und das Überleben des Systems zu respektieren hat.

Soziale Systeme haben definitionsgemäß eine Funktion. Die Funktion ist konstituierend. Ohne Funktion (oder ohne Zweck) ist ein System nicht denkbar. Das ‚richtige‘ Handeln im Rahmen des Systems wird anhand der Funktion des Systems bestimmt.

Daraus wird verständlich, dass eine Systemveränderung in erster Linie voraussetzt, dass das System in seinen vielen Bezügen verstanden wird. Dabei gibt es vorerst keine Prioritäten, kein Wesentlich und keine Vernachlässigbarkeit. Da der Mensch im Umgang mit Komplexität sehr rasch an seine Grenzen stößt, bietet die Systemtheorie die Möglichkeit, Subsyteme zu definieren – mit anderen Worten, die hohe Komplexität des Gesamtsystems kann in kleinere Systemeinheiten mit jeweils begrenzter Komplexität heruntergebrochen werden, ohne dabei die Komplexität des Gesamtsystems unzulässig zu reduzieren bzw. zu „abstrahieren“.

Ergänzt wird das Konzept durch die Erkenntnis, dass soziale Systeme über die Möglichkeit der Selbststeuerung (Autopoiese) verfügen. Grundlage ist die Tatsache, dass die teilnehmenden Systemelemente als System ggfs. etwas schaffen, das nicht aus den Eigenschaften der Elemente unmittelbar ableitbar ist. Diese Eigenschaft wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man von einem System sagt, das Ganze sei mehr als seine Teile. Das, was das System kreiert, bezeichnet man als Emergenz. Hiermit möchte ich die Beschreibung der Theorie hier beenden, weil der Anlass es nicht rechtfertigt, noch mehr in die Details zu gehen.

Der Leser wird aus den dürren Beschreibungen spüren, dass die Systemtheorie verglichen mit den Ansätzen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen relativ komplex ist. Dabei gilt unter Systemtheoretikern die Maxime: Um komplexe Strukturen zu analysieren, braucht es komplexe Werkzeuge. Ist die Komplexität des verwendeten Werkzeugs der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes nicht angemessen, kann die Analyse nicht erfolgreich sein, weil dann unzulässig stark abstrahiert werden muss. Das Ergebnis, das auf abstrahierter Ebene gefunden wird, ist oft nicht mehr sinnvoll auf die Zusammenhänge der Realität zu übertragen. Und dann fallen wir wieder in das häufig anzutreffene Problem des linearen Denkens!

Betrachten wir die Ökonomie: Sie hat seit etwa 200 Jahren ständig dadurch abstrahiert, indem man Verknüpfungen, die den Gedankengang der Ökonomie störten, als Externalität in die Bedeutungslosigkeit verschoben hat. Durch diese Prozesse hat man eine Ökonomie geschaffen, die normative Lösungen anbietet, die aber in vielen Bereichen mit der Realität nichts mehr zu tun haben.

Wenn wir erkennen müssen, dass dieser Planet endlich ist, entziehen wir der gegenwärtigen ökonomischen Theorie die grundlegende Ideologie vom ewigen Wachstum. Das erkannten auch die Ökonomen und haben deshalb große Anstrengungen unternommen, die herrschende ökonomische Theorie so zu interpretieren, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch darstellbar wird. Das geht jetzt schon seit mindestens 40 Jahren so. Man sollte hier nicht weiter auf Zeit spielen und einen Strich ziehen und anerkennen, dass es hier keine adäquate Lösung gibt. Es wäre auch gut denkbar, sich mit den Erkenntnissen der Physik kurzzuschließen.

Das brächte das reale Wirtschaftssystem nicht unbedingt in ernste Schwierigkeiten, weil ein gesellschaftliches Leben ohne Wirtschaft schlecht denkbar ist. Ob es aber unverändert das heute verbreitete System bleibt, erscheint sehr fraglich. Es fällt mir auf, dass eine Transformation im Gange ist, zu der die wissenschaftsbasierte Ökonomie auf der Grundlage der ihr verfügbaren Denkstrukturen außer ‚Bremsen‘ kaum kreative Beiträge zu leisten vermag. Das Problem der ‚Externalitäten‘ rollt die Ökonomie von rückwärts auf.

Was in der Ökonomie immer als überflüssig oder störend aus ihrem Gedankengebäude als ‚außerhalb der Ökonomie‘ liegend weggedrückt wurde, poppt jetzt als originäre Problemstellung hoch und es ist m.E. deshalb nachvollziehbar, dass die Ökonomie keinen vernünftigen Rat zu geben weiß. Anders kann ich das Abtauchen der großen Wirtschaftsinstitute bei diesen existenziellen Fragestellungen nicht interpretieren.

Kann die Systemtheorie hier Unterstützung leisten? Wenn wir uns klar machen, dass die Fokussierung auf eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt nur eine sehr begrenzte Reichweite hat, könnte die Sichtweise auf das Problem im Rahmen von Systemen von Vorteil sein. Das betrachtende Subjekt ist als Mensch Teil eines Systems, wodurch der Mensch seine Perspektive m.E. verändert: Das Subjekt ist nicht ein „Solist“, sondern ein ‚Teilnehmer‘, der in Systeme eingebunden ist. Das System stellt nicht die Frage nach der Ursache einer Wirkung, sondern fragt, ob die beobachtete Wirkung der Funktion des Systems angemessen ist. Auf diese Weise richtet sich die Perspektive vom Subjekt auf das System, auf ein durch vielschichtige Relationen verbundenes komplexeres Ganzes. Um es etwas konkreter werden zu lassen: wir bewegen uns vom individuellen „Ich“ zum „Wir“. Wenn das Subjekt-Objekt-Denken sehr eng und fokussiert ist, gelingt es über das System den Blick zu weiten und ganzheitlichere Gesichtspunkte in die Untersuchungen einzubeziehen. Systeme wollen ‚leben‘ bzw. ‚überleben‘ und damit rückt die Subjekt-Perspektive in die hinteren Reihen.

Das Ursache-Wirkung-Denken können wir aber nicht aufgeben. Ursache und Wirkung bleiben wesentliche Erkenntniswerkzeuge, sie werden nur durch den systemischen Ansatz alternativ erweitert und schaffen Perspektiven, die das lineare Denken aus Gründen der Komplexität, nicht ermöglichen. F. Vester hat diese Unterscheidung in die Praxis übertragen, indem er vorschlug, beim vernetzten Denken nicht in Produkten (oder Objekten), sondern in Funktionen zu denken.

Um diese Unterscheidung im Alltag besser erkennbar zu machen: Das Automobil ist ein Produkt. Die Mobilität repräsentiert die Funktion, zu der am Ende das Produkt beitragen soll. Das Automobil hat in seiner langen Geschichte zweifelsohne zur Mobilität beigetragen. Aber die Welt hat sich in der Zeit verändert: Die Mehrzahl der Automobile steht täglich ca. 22 Stunden herum, braucht in Städten viel Platz (Parkplatz vor dem Haus und Parkplatz in der Firma), stößt erhebliche Abgase und Feinstoffe aus und verursacht in seiner Massierung innerstädtisch einen hohen Lärmpegel. Wenn man beim Produkt bliebe, kommen solche Argumente selten. Sowie man sich über die Funktion klar wird, wird die Perspektive verändert und der Lösungsraum gewinnt an Weite und Vielfalt.

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