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Management öffentlicher Investitionen?

Nach der Wahl wurde die Wahrheit öffentlich – wir müssen aus verschiedenen Gründen etwa eine Billion Schulden aufnehmen, weil unsere Wahrnehmung der Realität in den letzten Jahrzehnten durch ein irrationales Wunschdenken so verfälscht wurde, dass jetzt mindestens zwei Erkenntnisse uns zwingen, nicht nur die Welt „neu zu denken“, sondern auch gleich noch riesige Löcher zu stopfen, die durch die Blindheit unserer Politik hervorgerufen wurden. Das Stopfen dieser Löcher wird primär unter der Überschrift der Finanzen geführt, dabei liegen die Defizite auf dem Felde der öffentlichen Investitionen.

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Das war ein großes Missverständnis mit der Schuldenbremse. Es ist absolut hirnrissig, bei der Staatsfinanzierung auf die Bremse zu treten, nur weil hier eine „Bremse“ eingerichtet wurde, die sich an einem Prozentsatz einer nationalen „Umsatzzahl“ (BiP) orientiert, ohne die jeweiligen Umstände der geplanten Schuldenverwendung zu würdigen. Der „Umsatz“, so die allgemeine Erwartung, soll ja zunehmen („wachsen“). Aber wie soll das geschehen, wenn durch die Restriktionen der Finanzbremse der „Umsatz“ tendenziell reduziert wird, weil die Voraussetzung für gesamtwirtschaftlichen Umsatz neben privatwirtschaftlichen auch öffentliche Investitionen sind. Letztere Investitionen (für Infrastruktur) waren seit ca. 40 Jahren auf dem Rückzug. Die privatwirtschaftlichen Investitionen wurden erheblich gesteigert (als Folge des Wachstums). Die öffentlichen Investitionen fielen als unbeachtlich fortlaufend zurück. Aber die Beanspruchung der Infrastruktur hat ständig zugenommen. Das merkt man in einem großen Zusammenhang nicht gleich, aber wenn man es dann merkt, liegt das Kind mit einem Rückstau von ca. 500 Mrd. Euro im Brunnen. Wie üblich, kommen solche Erkenntnisse stets zur falschen Zeit. Und alle sind ratlos – wie konnte das passieren?

Wie kann man sich dieses Fiasko erklären? Mein Erklärungsmuster sieht wie folgt aus: Der Neoliberalismus hat vor rd. 40 Jahren seine ersten Maßnahmen realisiert. Man wollte die unternehmerische Seite der Wirtschaft stärken und folgte der (liberalen) Überzeugung, dass sich die öffentliche Hand im Grunde auf den ‚Nachtwächterstaat‘ zurückziehen solle. Der Rest würde durch private Initiative und den ‚entfesselten‘ Markt erledigt.

Die neoliberale Idee hat übersehen, dass die Infrastruktur des Gemeinwesens erst den Markt ermöglicht, der alles regeln soll. Aber der Neoliberalismus kennt kein Gemeinwesen. Stellen Sie sich ganz einfach vor, Sie wollen im Internet Ware bestellen, die Ihnen dann geliefert werden soll und es gäbe aber keine Infrastruktur. Die Straßen wäre ausgefahrene schlammige Feldwege, Es fehlte an Energie. Das Internet wäre gar nicht erreichbar. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um die Bedeutung der Infrastruktur des Gemeinwesens für die wirtschaftlichen Aktivitäten für jeden Bürger und Unternehmer zu verdeutlichen. Es gäbe keine großen Unternehmen in diesem Lande, wenn wir nicht ein ausgebautes Netz einer weitestgehend gebührenfreien Infrastruktur bereitstellen könnten, das i.d.R. von allen Bürgern über Steuern finanziert wird und wurde.

In dem gegenwärtigen Ökonomieverständnis spielt die Infrastruktur so gut wie keine Rolle. J.M. Keynes als Ideengeber für die Wirtschaftspolitik vor dem Neoliberalismus hat der Infrastruktur eine bedeutende Rolle für die Wirtschaftsentwicklung eingeräumt. Hier beißen sich zwei Sichtweisen, wobei Keynes pragmatisch eine nachweislich sinnvolle Strategie der Fiskalpolitik vorschlug, während der Neoliberalismus aus ideologischen Gründen diese Vorgehensweise ablehnt, ohne eine schlüssige Theorie bereitzustellen.

Keynes geht davon aus, dass in Zeiten einer wirtschaftlichen Flaute der Staat über eine Schuldenfinanzierung in die Infrastruktur investieren solle, um dann, wenn der Effekt dieser Politik zu einer verbesserten Wirtschaftsleistung geführt hat, die Finanzierung zu reduzieren und mit den dann erwirtschafteten Haushaltsüberschüssen seine Schulden tilgen solle oder könne. Ob die Politik dazu in der Lage ist, steht auf einem anderen Blatt. Ausgaben- bzw. Tilgungsdisziplin zählt nicht zu den unbedingten Stärken der Politik.

Das Merkwürdige der gegenwärtigen Situation ist, dass diese Vorgehensweise vielfach in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der 1960er und 1970er Jahre rauf und runter dekliniert wurde und wir tun so, als ob es jetzt eine völlig neue Situation darstelle. Keynes hat zu Ende des zweiten Weltkrieges einen ziemlich umfassenden Vorschlag unterbreitet, wie man den Wiederaufbau wirtschaftlich gestalten solle. Das scheint vor lauter neoliberalen Nebelkerzen in Vergessenheit geraten zu sein. Und Keynes Ansatz hat damals nachweislich erfolgreich gewirkt. Der Wiederaufbau der am Kriege beteiligten Länder wäre ohne diese Beiträge kaum vorstellbar gewesen.

Der Knackpunkt von Keynes Vorschlägen lag, wenn ich mich recht entsinne, bei der Frage, ob die Wirtschaftspolitik so fein gesteuert werden kann, dass die Realisierung einer angestrebten Wirtschaftsentwicklung klar erkannt wird und dann die Politik die Disziplin aufbringt, die notwendige Zurückhaltung zu entwickeln, um die Mehreinnahmen zur Schuldentilgung zu verwenden. Wenn das so läuft wie vorgesehen, dann muss die Politik genau dann finanzielle Zurückhaltung üben, wenn es „wie geschmiert“ läuft. Diese Erwartung an die politischen Gremien überfordert vermutlich deren Prinzipienfestigkeit.

In der Nachkriegszeit gab es keine Digitalisierung. Die vorhandenen grob gestrickten Informationen über die jeweilige Wirtschaftsentwicklung ließen keine Steuerung zu wie wir sie heute durch die Digitalisierung (wenn sie denn mal umgesetzt ist) erwarten dürfen. In einer Welt, die fiskalpolitisch sich eher an Keynes ausrichten würde (das haben wir mit dem Sondervermögen unfreiwillig schon getan), wäre es durchaus denkbar, einen sinnvollen, aber hinreichend komplexen Mechanismus einer neuen ‚Schuldenbremse‘ einzurichten, der dann ‚automatisch‘ zum Zuge käme, wenn es der Politik schwerfallen würde, Ausgabenzurückhaltung zu üben.

Wenn wir nicht so vernarrt in den Neoliberalismus gewesen wären, wäre in den letzten 40 Jahren die Infrastruktur stets im Fokus des politischen Handelns gestanden. Die Infrastruktur wäre der Hebel gewesen, über den die Fiskalpolitik betrieben worden wäre. Wir hätten, statt unzureichende „Anreize“ zu liefern, regelmäßig investiert und hoffentlich auch regelmäßig die damit verbundenen Schulden getilgt. Ein „Infrastrukturloch“ von 500 Mrd. Euro (!) wäre nie möglich gewesen. Und die berechtigte Frage nach der Tilgung der Schulden durch künftige Generationen wäre obsolet. Wäre das nicht ein Weg, um aus der vertrackten Situation zu lernen, um es künftig besser zu machen?

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Rezession?

Haben wir den richtigen Fokus? Die Gazetten landauf und landab sprechen von Angst. Aufgrund der Statistiken wird die Wirtschaftslage als beginnende Rezession interpretiert. Die Stimmung in der Bevölkerung ist recht mies. Die politische Entwicklung trägt auch nicht zur guten Laune bei. Eine überaus kurzfristige Sicht dominiert unsere EU-weite langfristig eingeleitete Entwicklung eines Umbaus der Wirtschaft hin zu energiesparenden Technologien, weil erkennbar ist, dass die fossile Grundlage keine Zukunft hat.

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Der Umbau lässt sich nicht nur als Erfolg gestalten, Wir können nicht erwarten, dass ein Umgestaltung ohne Verlierer erreicht werden kann. Aber wir müssen uns klar machen, dass einige alte Technologien verlieren werden, aber die neu entwickelten Technologien diese Einbußen mittelfristig ausgleichen können. Die Unternehmen, die von den alten Technologien gut gelebt haben, sind natürlich nicht bereit, das Feld kampflos zu überlassen. Sie drohen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, entwickeln gewaltige Zahlen und Schreckensszenarien und schüren damit die Angst. Und die Gazetten hinterfragen dieses Verhalten nicht, sondern greifen diese scheinbar griffigen und giftigen Argumente gerne auf.

Und die Politik ist im Wahlmodus. Es ist schwer, eine politisch ausgewogene Meinung zu gewinnen, wenn in vier Wochen eine Wahl ins Haus steht, bei der Versprechen gemacht werden, deren Finanzierung eigentlich nicht darstellbar sind.

Wenn die Ökonomen von Rezession sprechen, so gibt es dafür ziemlich einfache Regeln, aber ob diese Regeln auch dann gelten können, wenn wir in einem Umbau unserer Wirtschaft stehen, erscheint mir fraglich. Die Kennzahl für eine Rezession ist die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes, wobei der Zustand als Beginn einer Rezession eingestuft wird, wenn das BiP drei Mal in Folge nicht wächst. Wir bewegen uns um ein Nullwachstum herum und allein die Tatsache, dass es kein Wachstum gibt, lässt manchen Ökonomen schon ausflippen. Aber das sind statistische Mittelwerte über alle Branchen. Mit anderen Worten, es muss doch offensichtlich auch Bereiche geben, die sich gut entwickeln. Aber darüber spricht keiner. Gute Nachrichten sind offensichtlich wenig wert.

Europas Versuch eines Umbaus der Wirtschaft hat starke Gegner, insbesondere jenen Herrn, der mit „drill, baby drill“ glaubt, die Position der Vereinigten Staaten insbesondere dadurch auszubauen, dass er die fossilen Industrien puscht und dem Klimawandel keine Beachtung schenkt. China baut um, Indien baut um, Europa baut um – die USA meinen, sie können ihre Vorreiterstellung durch die Forcierung einer Industrie, die auf fossiler Energiegewinnung fusst, halten oder gar ausbauen. Ich habe da meine Zweifel. In vier Jahren ist Trump in seinem 83. Lebensjahr. Wenn seine Nachfolger dann feststellen müssen, dass das der komplett falsche Weg war, dann ist der Zug für „MAGA“ („Make America great again“) wohl endgültig abgefahren.

Was braucht unser Umbau, um schnell und erfolgreich ans Ziel zu kommen? Unternehmer, die begriffen haben, dass der Umbau riesige Chancen bereithält. Aber das ist nur die eine Seite. Unsere Gesellschaft muss über unsere staatlichen Strukturen auch eine Infrastruktur liefern, die eine solide Grundlage für eine positive Wirtschaftsentwicklung bereit stellt. Und hier bin ich im Zweifel, ob wir die Kurve kriegen.

Die Politik versteht sich als Dienstleister, wo Führung oder wenigstens eine Definition von „Leitplanken“ gefordert wäre. Das Konzept der Leitplanken ist schon über zwanzig Jahre alt und harrt auf seine Realisierung. Leitplanken ersetzen keine Führung, aber sie sind die Quintessenz aus Vergangenheit und Gegenwart, sind hoffentlich wissenschaftlich begründet und begrenzen negativ, was aus der Erkenntnis der Geschichte heraus für die Zukunft als Tabu gelten soll. Leitplanken versuchen Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und definieren einen wünschenswerten Raum für künftige Entwicklungen. Da Leitplanken aus Erkenntnissen der Vergangenheit zehren, müssen sie in bestehende Lebens- und Geschäftsmodelle eingreifen; also braucht jede Leitplanke, die eingeführt wird, eine Zeitspanne in der den bestehenden, jedoch schädlichen Modellen eine Chance zur Besserung einräumt wird. Die Leitplanken sind dann aber danach für die Träger der Modelle nicht mehr verhandelbar. Grenzen führen nur dann zur gewünschten Verhaltensänderungen, wenn sie fix oder absolut verstanden werden.

Die Wirtschaftspolitik redet gerne von „Anreizen“, die in aller Regel die Steuerzahler viel Geld kosten und oft nicht viel nutzen. Klare Grenzen sind auch eine Form des (negativen) Anreizes, sind aber in aller Regel finanziell deutlich günstiger und wirksamer. Sie erfordern aber Mut; daran fehlt es oft, weil ‚Grenzen setzen‘ gerne als Einschränkung der persönlichen Freiheit missbraucht wird. ‚Grenzen setzen‘ erfolgt doch nicht willkürlich, sondern in der Erwartung eines kollektiven Vorteils. Die Grenze sollte die persönliche Freiheit von Wenigen einschränkten und den Vielen sowie der Biosphäre und den künftigen Generationen Freiraum sichern.

Wir haben unsere Infrastruktur in der Nachkriegszeit massiv und erfolgreich aufgebaut und dabei, so scheint es, vergessen, dass Infrastruktur in die Jahre kommt und einen genauso massiven Erhaltungsservice verlangt. Brücken werden gesperrt oder stürzen sogar ein. Es scheint so, als ob diesem Fakt einfach zu wenig Beachtung geschenkt wird. Unsere Infrastruktur ist notleidend, teilweise, weil das Neue politisch als attraktiver wahrgenommen wurde als die Erhaltung und Pflege von bestehendem Vermögen. Erst die Forcierung der Nachhaltigkeit hat uns als Gesellschaft klargemacht, dass etwas schaffen, schnell nutzen und wieder wegwerfen keine sinnvolle Option sein kann. Der ‚schnelle‘ oft unnötige Umsatz (im Wegwerf-Modus) hat nicht nur viel Geld in die Kassen der Hersteller geschwemmt, sondern hat auch eine ganze ‚Reparatur‘- und Ersatzteil-Industrie zerlegt. Sie muss erst wieder mühsam aufgebaut werden und passt trotzdem nicht so recht in unsere Billig- und Schnäppchenwelt, mit der der Konsument täglich auf lästige Weise penetriert wird.

Schon seit vielen Jahren wird versucht, die bürokratischen Strukturen unserer öffentlichen Verwaltung zu straffen. Durchaus bekannte Politiker haben sich daran versucht und sind im Grunde gescheitert. Das Misstrauen gegenüber dem Bürger und der hoheitliche Modus sind diesen Strukturen nicht auszutreiben. Weniger Kontrollanstrengungen und mehr Kooperation wären wünschenswert. Wer dann glaubt, dass er die Verwaltung bei dieser geänderten Haltung hintergehen könne, muss dann auch hart angefasst werden können.

Auch die Digitalisierung ist ein Trauerspiel. Man spürt es insbesondere dann, wenn im Falle der Corona-Pandemie im Fernsehen zu erkennen war, dass dort dicke Listen im Stift und Papier geführt wurden, (wie vor hundert Jahren) und der Überblick ganz schnell verloren ging. Es muss eine digitale Grundstruktur in Deutschland geben, die einfach und effizient ist und die in Sonderfällen mit wenigen Handgriffen relevante Daten verknüpfen kann. Die Gebietskörperschaften haben sich an dieser Grundstruktur zu orientieren und können sie sinnvoll für ihre Zwecke ergänzen. Es kann aber nicht sein, dass jedes Land seine eigenen Strukturen aufbaut, die dann nur mit erheblichem Aufwand verknüpft werden können. Wir sollten nicht den Normalfall zu Grund legen, sondern den Notfall – wenn es gilt, deutschlandweit schnell und effizient, Anpassungen zu realisieren.

Die meisten dieser Punkte werden Sie mit ziemlicher Sicherheit in den bunten Parteiprogrammen nicht finden. Hier handelt es sich ja eine Aufzählung von Herausforderungen und in den Wahlprogrammen werden nur sogenannte Erfolgsmeldungen publiziert und von einer rosigen Zukunft geschwärmt. Die Realität wollen viele lieber nicht sehen, sie holt uns so oder so ein.

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Das Rechtssystem und das politische Handeln

Der Politik ist es gelungen, dem Klima-Protest einen ‚Dreh‘ zu geben, der von den Kernproblemen ablenkt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser ‚Dreh‘ auch durch Kommunikationsfehler der Protestbewegung selber unterstützt wurde: Die radikalen Aktionen der Teilnehmer der „Letzten Generation“ (aber nicht ihr Grundanliegen) haben soviel Unmut in die Bevölkerung getragen, dass der Zusammenhang von den Aktionen und dem Klimawandel für viele Bürger nicht mehr hergestellt werden kann. Und das ist Wasser auf die Mühlen einer verhängnisvollen Politik.

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Wo liegt das Kernproblem? In 2011 wurde die damalige Bundesregierung von Seiten ihres Wissenschaftlichen Beirates in Sachen Globale Umwelt (WBGU) dringend darauf hingewiesen, im Rahmen eines neuen gesellschaftlichen Sozialvertrages die praktizierte politische Moderation durch eine politische Gestaltung zu ersetzen1. Danach ist wenig geschehen, aber die einen oder anderen Grenzwerte wurden aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse gesenkt. Es wurde aber (offensichtlich) vergessen, dafür zu sorgen, dass es eine unabhängige Instanz gibt, die auf die Einhaltung der Grenzwerte achtet und es wurde auch vergessen, entsprechend klare Sanktionsmechanismen bei Nichterfüllung zu bestimmen. Ob hierbei wirklich von einem Vergessen gesprochen werden kann, erscheint mir zweifelhaft, weil es sich um so simple handwerkliche Mängel handelt, die wohl mit System vorgenommen wurden.

Die NGO ‚Deutsche Umwelthilfe e.V.‘ (DUH) hat an diesen Gesichtspunkt angesetzt und hat eigene Messungen durchgeführt bzw. gerichtlich veranlasst. Die Ergebnisse sind vielfach erschreckend schlecht. Die DUH hat als Folge verschiedene Organe der Exekutive und der Wirtschaft (Städte, Landkreise, Wirtschaftsunternehmen) hinsichtlich dieser „Nachlässigkeit“ vor Gericht verklagt, um öffentlich deutlich zu machen: Hier gibt es eindeutige Regeln für unser Gemeinwesen und ihr kümmert euch einen „feuchten Kehricht“ um deren Einhaltung. In vielen Fällen war dieses Vorgehen vor Gericht erfolgreich, aber geändert hat sich in der politischen Praxis wenig. Die Regeln sind scheinbar nicht das Papier wert, auf dem sie fixiert werden.

Diese Beschreibung erfasst die täglichen kommunalen oder regionalen Unzulänglichkeiten. Bei der Automobilindustrie waren es dann die gefälschten oder sagen wir „geschönten“ Abgaswerte, die zusammen mit wesentlicher Unterstützung durch Ergebnisse der amerikanischen Umweltbehörde letztlich dazu geführt haben, dass Teile dieses „ehrenwerten“ Gewerbes öffentlich juristisch als „kriminelle Vereinigung“ klassifiziert wurde. Dieser Sachverhalt wurde zwar auf kleiner Flamme gehalten, aber es ist schon ein Hammer, dass ausgerechnet jene Branche, von der viele glaubten, sie sei technisch weltweit führend, zu Mitteln und Maßnahmen gegriffen hat, die jenen der Mafia nicht unähnlich sind.

Steigen wir noch eine Stufe die Hierarchie hinauf: „Das Klimaabkommen von Paris (…) ist nach einer Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Art. 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht. Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts haben der Bundesregierung, die dies nicht genug ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt. (…) Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht (damit geltendes -VF) Recht.2

Und das sind m. E. jene Punkte, die bei den Aktionen der „Letzten Generation“ nicht ausreichend kommuniziert und hervorgehoben werden. Es richten sich alle Blicken auf das Spektakuläre der Aktion ohne lautstark den Bezug zu der Tatsache herzustellen, dass die Bundesregierung laufend ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommt.

Was ist zu tun, wenn die Spitze der Exekutive geltendes Recht bricht und dabei versucht, so zu tun, als ob das ‚common sense‘ wäre? Die „Letzte Generation“ hat daraus ein „Recht“ zu außergewöhnlichen Maßnahmen abgeleitet, gewissermaßen aus Notwehr „der Regierung mit einem „empfindlichen Übel“ zu drohen, wie es im Nötigungsparagraphen 240 des Strafgesetzbuches formuliert ist (…). Das Ungewöhnliche daran ist: Die Täter verlangen nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. (…) Dass man jemanden nötigt, die Regeln einzuhalten – das ist ‚ziviler Ungehorsam‘ von der wirklich bravsten Sorte3.“

Dadurch entsteht aber eine komplizierte Situation, „die jeden Strafrichter erst einmal perplex machen muss4.“ Laut Steinke ist die Aktion der „Letzten Generation“ trotzdem illegal. Steinke begründet diese Auffassung, dass – vereinfacht gesagt – das Rechtssystem in Gefahr sei.

„Wenn etwas so Wichtiges auf dem Spiel steht wie die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Spezies Mensch, dann übersteigt das locker alles andere. Den Straßenverkehr, das Hausrecht, das Eigentum, alles. (…) Die juristische Billigung des ‚zivilen Ungehorsams‘ wäre, wie es der Augsburger Strafrechtler Michael Kubiciel kürzlich auf den Punkt gebracht hat, ‚systemsprengend‘5.“

Je länger die Bundesregierung als oberstes Exekutivorgan nicht bereit ist, sich den selbstgegebenen Regeln zu unterwerfen, desto fragwürdiger wird die Diskussion über zivilen Ungehorsam. „Die Dinge sind in Bewegung“, meint Steinke.

Die Deutsche Umwelthilfe e.V. ist schon länger recht erfolgreich auf dem Weg durch die Instanzen. Es ist den „Brüdern und Schwestern im Geiste“ neben ihren öffentlichen Aktivitäten anzuraten, sich mit einem Bein auch diesem Marsch durch die Instanzen anzuschließen. Er erscheint mir langfristig als der nachhaltig Erfolgversprechendere, weil die Justiz begriffen hat, dass sich hier ein Wandel vollzieht, der nicht mehr aufzuhalten ist. Denken Sie daran, dass noch vor wenigen Jahren es fast nicht möglich war, großen Wirtschaftsunternehmen erfolgreich Grenzen oder rote Linien aufzuzeigen. Inzwischen sind zahllose Verfahren anhängig, die die Betroffenen Zeit, Geld, Reputation und Aufmerksamkeit kosten und zunehmend lästig werden.

Wenn der Eindruck entsteht, dass sich die öffentlichen Körperschaften (insbesondere Staat, Land und Kommunen) um die Einhaltung ihrer eigenen Regeln drücken (können), welche Auswirkungen müssen wir dann für die Zivilgesellschaft befürchten? Ein Rechtssystem ist nur so gut, als sich eine überwältigende Mehrheit an die dort fixierten Regeln hält. Hier haben die öffentlichen Körperschaften eine klare Vorbildfunktion, die nicht zu unterschätzen ist.

Gegenwärtig wird bezüglich des Strafmaßes für einige hochrangige Automanager „verhandelt“ und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier wieder mit zweierlei Maß gearbeitet wird. Wenn ich mir die Schadenhöhe ansehe und dann das diskutierte Strafmaß, kommen mir Zweifel, ob diese Zusammenhänge wirklich angemessen bewertet werden. Diese Entscheidungen werden ja auch öffentliche Folgen nach dem Motto haben: „die kleinen hängt man und die großen lässt man laufen“. Die angewandten juristischen Taschenspielertricks sind dem Normalbürger kaum zu vermitteln.

Weiterhin ist zu beobachten6, das die Strukturen der Justiz aus der Zeit fallen. Man glaubt beobachten zu können, dass die Aspekte Zeit, Kosten und notwendige Aufmerksamkeit von juristischen Verfahren viele Unternehmen dazu bewegt, Meinungsverschiedenheiten statt über langwieriges „Recht sprechen“ (und ev. „Recht bekommen“) durch Geld geregelt wird. Offenbar rechnet sich diese Vorgehensweise, wenn man Kosten und Nutzen gegeneinander verrechnet. Was dabei zu kurz kommt, ist das, was man „Recht“ nennt und was bisher einen relativ hohen gesellschaftlichen Stellenwert inne hat. Es sollte „Dinge geben, die man für Geld nicht kaufen kann“ (Michael J. Sandel).

Haben Sie sich schon einmal in einer modernen digital ausgestatteten Rechtsanwaltskanzlei umgesehen und haben Sie dann die Gelegenheit gehabt, bei Gericht die Abläufe zu beobachten? Dann können Sie vielleicht verstehen, warum es junge Spitzenanwälte unabhängig vom Geld nicht ins Richteramt drängt.

Unabhängige Rechtsprechung ist aber eine infrastrukturelle Dienstleistung, die nur solange in Anspruch genommen wird, als sich Nutzen und Kosten in etwa ausgleichen. Kann man dieses Gleichgewicht nicht mehr bereitstellen, ist auf Dauer die Rechtsstaatlichkeit unseres Handelns gefährdet.

In diesem Blog habe ich an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass wir in einem Transformationsprozess befinden, dessen Verlauf noch in keiner Weise absehbar ist. Viele uns als selbstverständlich vertrauten Zusammenhänge sind in Auflösung begriffen. Viele scheinbare Sicherheiten müssen einer Risikobetrachtung weichen. Man könnte aus den bisherigen Ausführungen auch den Schluss ziehen, dass auch unser (ziemlich ausgeklügeltes) Rechtssystem Teil des Transformationsprozesses ist oder sogar sein muss.
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1German Advisory Coucil on Gloabl Change (dt.: WBGU), A Social Contract for Sustainability (Flagship Report), Berlin 2011 (die deutsche Fassung ist leider vergriffen), Kap. 5

2Steinke, Ronen: Alles, was Recht ist, in: SZ Nr. 92 vom 21. April 2023 (Feuilleton)

3Steinke, R., a.a.O.

4Steinke, R. a.a.O.

5Steinke, R. a.a.O.

6Vgl. SZ vom 26.04.2023, S. 5 (Rätselhafter Klageschwund, Wolfgang Janisch)

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