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Suffizienz als Transformationsstrategie?

Bei meinen letzten Beiträgen habe ich immer wieder die Frage aufgeworfen, wie sollen denn die ‚tollen‘ technologischen Maßnahmen zur Wirkung kommen, wenn wir ein virulentes gesellschaftliches Umsetzungsproblem haben, das offensichtlich keiner wagt, konkret anzusprechen. Dabei habe ich Niko Paechs Buch aus 2020 „All you need is less[1]“ aufgestöbert und noch einmal vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umsetzungsproblems gelesen. Es war diesbezüglich wie „Sonntag“, weil ich mir schon komisch vorkam, immer wieder an der Umsetzungsfrage hängen zu bleiben, weil keiner eine Antwort geben wollte oder sich traute.

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Niko Paech hat sich als Schwerpunkt der Postwachstumsökonomie verschrieben. Das genannte Buch wendet sich gezielt der Suffizienz als Strategie zu, um konkret Wege aus der ökologischen Krise aufzuzeigen. Dabei wird nicht (wie üblich) auf die Politik oder auf die Technologie oder auf sonstige Institutionen verwiesen, sondern auf jene, die diese Transformation letztlich (er-)tragen müssen: auf die Menschen, Bürger und Betroffenen.

Das Buch teilt sich in zwei Bereiche und begründet Suffizienz zum einen aus der Sicht eines Buddhisten und zum anderen aus der Sicht eines Ökonomen. Der buddhistische Teil erscheint mir als ziemlichen Laien auf diesem Gebiet als absolut geglückt. Die Sprache ist so gewählt, dass sie von einem Europäer inhaltlich verstanden werden kann. Alle traditionellen Schnörkel wurden weggelassen und die Aussage ist nachvollziehbar und eindeutig. Dabei demonstriert Folkers eindrucksvoll und ethisch nachvollziehbar, wie Suffizienz im Sinne von „Genug“ aus buddhistischer Sicht begründet wird.

Der Teil, den Niko Paech zu vertreten hat, thematisiert die „Suffizienz als Antithese zur modernen Wachstumsorientierung“ und baut sie zu einer begründbaren, Vernunft basierten Strategie aus. Sein Ausgangscredo ist das Scheitern aller Versuche, den Wachstumsgedanken durch allerlei Umgehungen des gesunden Menschenverstandes vor dem Untergang (der „Wachstumsdämmerung“) zu retten. Sarkastisch beschreibt Paech die vergebliche Hoffnung: „Tüchtiger Fortschrittseifer, so lautet das Credo, werde einen Wirbelwind der technischen Erneuerung heraufziehen lassen, der alle Nachhaltigkeitsdefizite rückstandslos beseitigt, ohne dem Insassen zeitgenössischer Komfortzonen reduktive Handlungsänderungen zumuten zu müssen“[2].

Gleich zu Beginn werden die meist verwendeten Vokabeln einer Nachhaltigkeitstechnik gegen einander abgegrenzt. Dabei werden drei zentrale Begriffe aufgegriffen: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Den vierten Begriff der Resilienz habe ich aus aktuellem Anlass der Vollständigkeit halber hinzugefügt:

  • Effizienz wird als ökologische Effizienz dargestellt und zielt darauf ab, „den materiellen Aufwand zu minimieren, um ein bestimmtes ökonomische Ergebnis zu erzielen“[3]. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es hierbei um materiellen Aufwand geht. Die ökonomische Effizienz orientiert sich allzu oft nur an der in Geld übersetzten Effizienz, d.h. durch die anzuwendenden Preise lässt sich ökonomische Effizienz auch dort darstellen, wo gar keine ökologische Effizienz vorliegt.
  • Die ökologische Konsistenz setzt bei der Umweltverträglichkeit der genutzten Ressourcen an. „Statt deren Menge zu verringern, soll die Beschaffenheit oder das Produktdesign dahingehend optimiert werden, dass keine Emissionen oder Abfälle entstehen, unabhängig vom Verbrauchsniveau.“ (Dies wird möglich, wenn) „alles Verwendete entweder biologisch abbaubar ist oder verlustfrei in geschlossenen technischen Stoffkreisläufen verbleibt.[4]“Die Idee klingt bestechend, ist aber nur lokal durchführbar, weil andernfalls die damit verbundene arbeitsteilige Logistik zusätzliche Ressourcen in Anspruch nimmt.[5]
  • Die jüngste „Zeitenwende“ des Jahres 2022 lässt auch die Resilienz wieder ins öffentliche Bewusstsein treten. Vor lauter Wachstumswahnsinn und angeblicher Effizienz haben wir übersehen, unsere Infrastrukturen hinreichend widerstandsfähig und krisenfest zu gestalten. Je detaillierter die profitgeleitete globale Arbeitsteilung wird, umso anfälliger werden die Strukturen. Denken wir an die Lieferkettenprobleme, die bei den ersten, aber absehbaren Unregelmäßigkeiten auftreten. Die Risikovorsorge leidet oft unter der falsch eingeschätzten Profitabilität. Gier frisst Hirn!
  • Suffizienz versteht sich als Genügsamkeit und steht für eine Reduktion der Ansprüche. Sie „adressiert und hinterfragt direkt den eigentlichen Zweck (und damit den Sinn) ökonomischer Aktivitäten“.[6] Diese Idee kümmert sich erst mal nicht um Nachhaltigkeit, kümmert sich nicht um irgendwelche symbolisch mehr oder weniger tragfähigen Abkommen (Kyoto, Paris, etc.), sondern richtet sich direkt auf das Problem: Wir verbrauchen ca. zwei Planeten und wir haben nur einen zur Verfügung. Wir müssen nachhaltig werden, unseren CO2-Ausstoß reduzieren, wir müssen uns zuvorderst einfach konsequent einschränken! Und diese Erkenntnis tut weh. Da hört das Träumen auf. Alles „Drum-herum-reden“ findet ein Ende.

Niko Paech umschreibt diesen Sachverhalt deutlich verbindlicher: Die Nachhaltigkeitsprin-zipien „…fügen sich … perfekt in zeitgenössische Modernisierungsprogramme ein. Sie versprechen, individuelle Freiheiten unangetastet zu lassen, indem Nachhaltigkeitsdefizite durch eine Addition technischer oder institutioneller Mittel kuriert werden…. (Es) werden damit zusätzliche Handlungsoptionen, Einkommensquellen, Märkte und sonstige (neue) Entfaltungsspielräume in Aussicht gestellt.    (Die) Konzepte minimieren jegliche individuelle Verantwortung, indem die Zuständigkeit für Nachhaltigkeitsmaßnahmen zuvorderst an die technologische, ökonomische oder politische Entwicklung delegiert wird.“[7]

Ganz pragmatisch: Wenn eine Familie merkt, dass sie längere Zeit über ihre Verhältnisse gelebt hat, wird sie nicht umhin können, zu sparen, also ihren Verbrauch zu reduzieren. Sie kann die Zuständigkeit weder an technologisch, noch ökonomische oder politische Entwicklungen delegieren. Das sagt der gesunde Menschenverstand! Im Sinne der Politik und Wissenschaft würde der Familie stattdessen vorgeschlagen, nachhaltiger zu wirtschaften und so tun, als ob sich das Loch in der Familienkasse gar nicht existiert. Deshalb ist es mir nicht zu vermitteln, dass wir uns in Nachhaltigkeit üben sollen, was immer das konkret bedeutet, statt dass wir erstmal den Verbrauchsüberhang abbauen (das heißt Suffizienz üben), bevor wir dann, wenn wir auf dem Verbrauchsniveau von einem Planeten angekommen sind, die Nachhaltigkeit forcieren. Erst dann wird doch sachlich ein Schuh daraus!

Die Herausforderung des Ansatzes der Suffizienz liegt in der Frage, wieviel Einschränkung ist der moderne Bürger bereit zu tragen? Die notwendigen Konsumeinschränkungen werden, so banal die Sache ist, sehr schnell als eine Einschränkung der persönlichen Freiheit interpretiert. Und unser moderner Freiheitsbegriff hat sich leider vielfach von der Frage nach der Verantwortung gelöst. Eine Freiheit ohne Verantwortung gibt es unter zivilisierten Menschen nicht. Wir alle nutzen den Planeten stärker als es uns mit Blick auf die kommenden Generationen zusteht. Mit anderen Worten, wir haben durch unsere ‚Freiheiten‘ eine Übernutzung initiiert und stehen jetzt in der Verantwortung, diese Fehlentwicklung auszugleichen. Als Lösung denkt der gesunde Menschenverstand zuvorderst an Rückgängigmachung der Fehlentwicklungen. Suffizienz müsste eigentlich der erste Schritt in eine neue Richtung sein. Alles, was die Suffizienz dann optimiert, kann sich daran anschließen.

Stattdessen haben Politik und Wissenschaft immer schon nach Wegen gesucht, um das „Unwort“ Suffizienz zu vermeiden. Vermutlich deshalb, weil Genügsamkeit zu einfach und zu direkt wäre und weil weite Kreise in der Politik Sorge haben, dass mit diesen alten Erkenntnissen ihr übergriffige Auffassung von Freiheit bloßgestellt werden könnte.

Zudem gibt die Nachhaltigkeitsargumentation immer wieder Raum für neue bzw. modifizierte Geschäftsmodelle. Aber eine Ausdehnung des Marktes durch Innovation ist doch das Gegenteil von dem, was „Not-wendig“ wäre. Eine Reduktion im Rahmen der Suffizienz lässt hier keinen Spielraum. Es gibt kaum Geschäftsmodelle, die im Rahmen einer Reduktion erfolgversprechend sind und vertretbaren moralischen Grundsätzen entsprechen.

Ein anderer Gesichtspunkt kann darin gesehen werden, dass es global gesehen, große Teile der Erde gibt, die immer schon suffizient leben mussten. Hier mit einer Aufforderung zur Suffizienz aufzutreten, ist ebenso kontraproduktiv wie die Erwartung von Nachhaltigkeit. Eine erfolgreiche Anwendung des Gedankens der Suffizienz dürfte also auf jene Bereiche des Globus beschränkt bleiben, die sich in der Vergangenheit auch die größten Beiträge zur bestehenden Fehlentwicklung geleistet haben.

Wenn wir aus der Perspektive einer Überflussgesellschaft (J. K. Galbraith) auf die Suffizienz blicken, könnte man darin ein Moment des Verzichts erkennen. Diesem Vorwurf, regelmäßig als ein politisches Killerargument verwendet, will sich niemand aussetzen. Konsum ist das Herzstück unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Wenn nicht genug konsumiert wird, so das Argument, bricht das System zusammen. Als Folge bringen wir seit Jahren immer mehr Geld als Grundlage für unser Verständnis von Konsum in Umlauf und bauen damit private und öffentliche Schulden auf. Das dabei ‚geschöpfte‘ (geschaffene) Geld wandert über den Wirtschaftskreislauf in die Schuldentilgung oder in die Taschen der Produzenten und unterstützt damit die steigende Ungleichverteilung von Vermögen.

Konsum hat vor diesem Hintergrund nur noch sehr begrenzt etwas mit Versorgung zu tun. Konsum ist zum Schmiermittel mutiert, mit dem primären Ziel, das System am Laufen zu halten. Also besteht der Anspruch, dass der Konsum immer weiter wächst, weil lt. Ökonomie die Bedürfnisse (des Menschen Gier) angeblich unbegrenzt seien, zumindest nach dem Modell des homo oeconomicus. Auf dieser fragwürdigen ‚Basis‘ passen die Teile ganz gut in das Wirtschaftspuzzle.

Wenn sich aber der reale Konsument einigermaßen rational verhält, ist dieses Phantasiegebilde weitgehendes Wunschdenken. Clevere Ökonomen haben festgestellt, dass zwar der Bedarf endlich ist, jedoch die Bedürfnisse kaum erkennbare Grenzen kennen. Dabei machen sie die Rechnung ohne den Wirt. Richtig ist, dass die Bedürfnisse gestaltbar sind, aber der Bedarf mit seiner Befriedigung endet. Es gibt also eine Grenze des Konsums, weil einerseits Befriedigung einsetzt und andererseits auch die ‚unbegrenzten‘ Bedürfnisse des Menschen an einer einfachen Zeitrestriktion scheitern: Der Tag hat nur 24 Stunden, also können wir uns unmöglich 25 Stunden dem Konsum ‚hingeben‘.

Gehen wir weiter darauf ein (siehe auch Paech, ebda, S. 158ff.), dass jeder Konsum, wenn er für den Menschen irgendeinen Sinn vermitteln soll, pro konsumtivem Akt eine gewisse Zeitspanne benötigt, um den Nutzen der Konsumption genießen zu können. Als Folge ist auch unsere Fähigkeit zu konsumieren begrenzt und steht im Widerspruch zur ökonomischen Vorstellung der Grenzenlosigkeit. Wir können natürlich die Taktung unseres Konsums ständig erhöhen (und viele versuchen es), aber auch diese Betrachtung führt an Grenzen der physischen und mentalen Gesundheit i.w.S.. Wenn beim Einzelnen hier eine Grenze gezogen werden muss, kann auch eine Grenze für die Höhe des Konsums insgesamt gezogen werden und damit auch für die Höhe des allgemeinen Wirtschaftswachstums allein aus der menschlich möglichen Verarbeitungskapazität heraus. Paech weist lapidar auf die Vervielfachung der Verschreibung von Psychopharmaka innerhalb der letzten 10 Jahre hin. Mit anderen Worten: Wir überstrapazieren nicht nur die Ressourcenlage unseres Planeten, wir sind auf dem besten Wege auch uns in der Funktion als Konsumenten komplett zu überfordern.

Kommen wir zurück zur Suffizienz und der damit verbundene Genügsamkeit. Wenn wir erkennen, dass die Ressourcenlage als auch unsere mentale Gesundheit dem Konsum seine Grenzen aufzeigt, dann ist es kein weiter Weg, Genügsamkeit als erste Priorität des Handelns zu erkennen. Erst dann, wenn wir es geschafft haben, unsere Ansprüche generationentauglich auf die vorhandene ökologische Basis eines Planeten zurückzuführen, ist es m.E. sinnvoll, sich über Nachhaltigkeit zu unterhalten und die große Frage zu lösen versuchen wie wir künftig mit dem ‚menschlichen Maß‘ umgehen wollen. Die gegenwärtige Politik und die von ihr beauftragte Wissenschaft kümmern sich akribisch um Nachhaltigkeit, obwohl das große Loch zwischen Soll-Verbrauch (ein Planet) und Ist-Verbrauch (ca. 2 Planeten) scheinbar unbemerkt links liegen bleibt. Ich bin immer wieder überrascht, wieviel offensichtlichen Realitätsverlust der Mensch verdrängen kann ohne dadurch in eine gewaltige kognitive Dissonanz zu geraten. Oder sind wir da schon als Gesellschaft mitten drin und haben es nur noch nicht bemerkt?


[1] Manfred Folkers, Niko Paech, All you need is less, München 2020

[2]  Paech, N., Vom Scheitern bisheriger Krisentherapien zur Postwachstumsökonomie, 2021, in: Krise und Transformation, Scheidewege, Schriften für Skepsis und Kritik, Band 51, HG: Jean-Pierre Wils, 2021, S. 15 – 35

[3] Folkers, Paech, All you need is less, 2020, S. 124

[4] Folkers, Paech, 2020, S. 125

[5] Vgl. die ARD Dokumentation „Die Recyclinglüge“, um einen Eindruck von der Machbarkeit zu gewinnen.

[6] Folkers, Paech, 2020, S. 126

[7] Ebda., S 130

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Gesellschaftliche Transformationsszenarien

Der Ton wird rauer. Das Unvermögen der Politik in den Fragen der Transformation wird von Tag zu Tag deutlicher. Es liegt aber nicht nur an der Politik. Auch die Wissenschaft (soweit ich sie überblicke) rennt einem Traum hinterher und glaubt, im letzten Moment noch die große technologische „Erlösung“ zu entdecken, die es dem durch die Wachstumsideologie verwöhnten Bürger ermöglicht, unbehelligt das „Weiter so“ zu zelebrieren.

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 Eine einfache Reduzierung unseres Verbrauchs scheint offensichtlich keine Option zu sein, obwohl die Reduktion der mit Abstand direkteste Lösungsbeitrag sein könnte. Dem steht die (nachvollziehbare) Sorge der Politik gegenüber, durch die Propagierung einer Reduktion der Lebensverhältnisse die Gunst der Wähler zu verlieren.

Die Wissenschaft hat sich auch deshalb der Transformation in erster Linie technologisch genähert, indem sie intensiv technologische Wege der Vermeidung und Umgehung gesucht hat. Und das tut sie nach meinen Erkenntnissen auch heute noch. Wir sind durch unsere technologischen Erfolge der Vergangenheit so „rammdösig“ auf Technologie fixiert, dass wir die nicht mit der Technologie verbundenen Ansätze einer Umsetzung völlig vernachlässigen. Der Weg der „Befreiung vom Überfluss“ (Niko Paech) wird gar nicht ins Kalkül gezogen, weil wir uns damit auf die Ebene einer gesellschaftlichen Problemlösung begeben würden. Und davor schrecken sowohl die Politik als auch die Wissenschaft zurück, als ob dieser Lösungsansatz „des Teufels“ wäre.

Dabei stelle ich nicht die Umsetzung der Technologie in Frage, sondern stelle mir die Frage, wie können wir die Gehirne und Herzen der Bürger für die Umsetzung der Transformation gewinnen? Was nützt uns die tollste Technologie, die uns den Eindruck vermittelt, wir müssen nur zwei Knöpfe drücken und dann ist der „Klimaspuk“ vorbei, wenn das Problem darin liegt, die Menschen erstmal von der Illusion zu befreien, man könne das Problem mit den berühmten „zwei Knöpfen“ tatsächlich lösen.

Das Problem gilt als hochkomplex und man beschäftigt sich bei der Technologiesuche auch auf einem hoffentlich angemessenen hohen Komplexitätsniveau, aber der große ‚Knackpunkt‘ ist doch die komplexe gesellschaftliche Umsetzung, die nur erfolgreich sein kann, wenn die Bürger die Transformation positiv aufnehmen bzw. die Veränderung mit Leben erfüllen.

Die Wissenschaft hat in der Zwischenzeit schrittweise jene Felder identifiziert, auf denen der technologische Wandel stattfinden muss oder sollte. Stichworte sind[1]:

  • Energiewende
  • Wärme und Wohnwende
  • Ernährungswende
  • Mobilitätswende
  • Industrie – und Konsumwende

Dieser Reihe von Gesichtspunkten ist aus der technischen Perspektive wenig hinzuzufügen. Aber die Frage, wie der Wandel in die Wege geleitet werden könnte, ist dadurch noch mit keinem Wort angesprochen. Wir wissen viel über die Ziele (das ist am Unverfänglichsten) und verfügen über beachtliche Informationen über die technischen Mittel der Transformationsmöglichkeiten. Wir haben aber offensichtlich keine tiefergehende Vorstellung von den gesellschaftlichen Problemen und deren potenziellen Überwindung.

Wir sollten uns deshalb einen Augenblick Zeit nehmen und uns den „Gegner“ – das herrschende Wirtschafts- und Lebensmodell des Kapitalismus – ein wenig genauer ansehen. Das Modell hat uns in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von großen Vorteilen vermittelt. Aber seit über 50 Jahren(!) wissen wir, dass dieses Modell auf längere Sicht nicht mehr lebensfähig sein wird.

Lassen wir alle technologischen Überlegungen beiseite und fragen uns, wie hat es dieses Modell geschafft, so erfolgreich zu werden? Wie war es möglich, dass ein Wirtschaftssystem unser Handeln und Denken so stark beeinflusst, dass wir trotzdem dieses System „cum grano salis“ mehrheitlich unterstützen?

Eine Antwort könnte uns die Systemtheorie geben: Unser obsoletes Wirtschaftssystem bringt eine Vielzahl von Menschen (als Elemente eines Systems) unter einer Zielvorstellung (einer oder mehrerer Funktionen) zusammen. Die meisten Menschen bringen sich in das System als Individuen ein und entwickeln unter dem Systemziel etwas Gemeinsames, was die Systemtheorie als „Emergenz“ bezeichnet: Es entwickeln sich in sozialen Systemen unter dem Gesichtspunkt der Selbststeuerung (Autopoiesis) Regeln, Rituale, Verhaltensweisen und Teilsysteme, die dann, wenn wir das System nur als eine Anhäufung von Individuen betrachten würden, so gar nicht möglich wäre. Die Idee des Systems ist also mehr als die Summe seiner Teile! (Wer sich hiermit beschäftigen will, den möchte ich auf die Systemtheorie[2] verweisen.)

Mit anderen Worten: Eine gelingende Transformation muss es sich zum Ziel setzen, eine ‚neue‘ Emergenz zu schaffen oder die alte, bestehende so zu verändern, dass die veränderte Emergenz (die neuen Regeln und Verhaltensweisen) den gewünschten neuen Zustand fixieren. Das muss das Ziel der (nicht technischen) Maßnahmen zur Transformation sein.

Wie hat es das alte, bestehende System geschafft, dass eine breite Mehrheit das System noch unterstützt, obwohl den meisten klar sein müsste, dass dieses System am Ende nicht für die Zukunft geschaffen ist? Oder systemisch ausgedrückt: Durch welche Maßnahmen kann die bestehende „Emergenz“ des Kapitalismus aufrechterhalten werden?

Hierzu müssen wir uns über ein paar Zusammenhänge klar werden: das bestehende System mit seiner Wachstumsideologie unternimmt ständig große finanzielle Anstrengungen, um seine Emergenz aufrecht zu erhalten. Es gibt in dem bestehenden System ein Subsystem, das jeden Tag und jede Stunde sehr subtil und dezentral die herrschende Wachstumsideologie propagiert. Das Subsystem kann man recht gut mit dem Begriff ‚Marketing‘ umschreiben. Das Subsystem sendet uns täglich oder stündlich unaufgefordert Botschaften, wie wir, was wir und in welchem Umfang konsumieren sollen, um das Wirtschaftssystem am Laufen zu halten.

Im politischen Raum würde man diese Einflussnahme als Propaganda bezeichnen, als den ständigen Versuch, unsere Gehirne und Emotionen für die Ideologie des Wachstums mit ihrem ‚Mehr, Weiter und Höher‘ zu gewinnen. Für uns ist das (erstaunlicher Weise) aber keine Propaganda mehr – wir sind offensichtlich so daran gewöhnt (brain washed), dass wir den Vorgang zwar als lästig empfinden, aber als völlig normal und ‚unvermeidbar‘ einstufen.

Man könnte die Frage stellen, ob diese als ‚Propaganda‘ bezeichnete Vorgehensweise tatsächlich Wirkung zeigt, weil wir die Beeinflussung im täglichen Leben i.d.R. nicht mehr wahrnehmen. Eine einfache Überlegung gibt einen klaren Hinweis: In Deutschland werden jedes Jahr von den Unternehmen viele Milliarden Euro für Maßnahmen des Marketings ausgegeben. Wenn dieser Aufwand keine angemessene Wirkung zeitigen würde, müssten wir an der ökonomische Rationalität der unternehmerischen Entscheidungen zweifeln. Die Unternehmen betreiben Marketing, weil sie erkannt haben, dass Marketing einer der größten ‚Treiber‘ für die von ihnen bewusst oder unbewusst vertretende Wachstumsideologie ist.

Die Erkenntnisse der Wissenschaft geben uns nun seit vielen Jahren deutliche Hinweise, dass die Wachstumsideologie ein Ende finden muss – Wachstum muss durch Nachhaltigkeit ersetzt werden. Es hat aber wenig Sinn, gegen den ständigen Einfluss der Wachstumsideologie zu kämpfen, solange wir die Wachstumspropaganda nicht deutlich schwächen oder gar weitgehend unterbinden können.

Im Wettstreit der wohlfinanzierten Wachstumsideologie mit dem Nachhaltigkeitsprinzip bleibt die Nachhaltigkeit allein aus finanziellen Gründen auf der Strecke. Immer wenn wir uns (mal) mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit befassen, hat die Wachstumspropaganda schon viel tausendfach zugeschlagen. Hirn und Emotion der Menschen gehören offensichtlich (noch lange) nicht der Nachhaltigkeit, sondern eher dem schnellen Massenkonsum und der fixen Idee des Wachstums.

Wenn die Nachhaltigkeit sich durchsetzen soll, müssen wir einen Weg finden, die Wachstumspropaganda deutlich zu schwächen und eine eigenständige Nachhaltigkeitspropaganda neu aufsetzen. Das ist unter den gegebenen Bedingungen ein Kampf ‚David gegen Goliath‘. Die Chancen für David (für die Nachhaltigkeit) stehen nach aller Erwartung extrem schlecht, es sei denn, wir finden einen ‚Triggerpoint‘, an dem wir die Wachstumspropaganda empfindlich treffen können.

Der Vorschlag hierzu liegt darin, dass künftig (mit einer kurzen Übergangsfrist) die Aufwendungen der Unternehmen für Marketing (also für die täglich auf uns niederprasselnde Wachstumspropaganda) steuerlich ohne Wenn und Aber als nicht mehr abzugsfähig gestaltet werden. Das heißt konkret, dass die vielen Milliarden Marketingaufwand in voller Höhe zu versteuern sind. Die steuerlichen Gewinne erhöhen sich im ersten Schritt (und damit auch das Steueraufkommen, aus dem vermutlich auch die Nachhaltigkeitspropaganda finanziert werden muss). Wenn dann, wie von den Unternehmen erwartet, die Umsätze aufgrund geringerer Marketingaufwendungen sinken würden, werden auch die steuerlichen Gewinne wieder rückläufig sein.

(Kleine Anmerkung: Sollte sich zeigen, dass die Umsätze ähnlich wie bei der Einführung der Nichtabzugsfähigkeit von Schmiergeldern in der 1990er Jahren gar nicht sinken, bleiben die erhöhten steuerlichen Gewinne im Wesentlichen unverändert und die Ausgaben für Marketing der vergangenen Jahrzehnte würden sich im Nachhinein als schlichte Fehlallokation erweisen. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.)

Mit der Nichtabzugsfähigkeit der verkaufsbezogenen Marketingaufwendungen[3] würden sich alle Marketingprojekte nach heutigen Steuersätzen um etwa 40% verteuern. Marketing wird dadurch zu einem ‚Luxus‘ und nur dort eingesetzt, wo mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ein Erfolg der Wachstumspropaganda zu erwarten ist. Vieles andere wird aus Kostenerwägungen unterlassen. Die Stärke der finanziellen Basis der Wachstumspropaganda wäre damit gebrochen. Und das entspräche dem Ziel der Maßnahme. (Es gibt dabei noch viele offene Fragen, die in diesem Rahmen nicht abschließend diskutiert werden können.)

Erst jetzt aber hat es einen Sinn, systematisch eine Nachhaltigkeitspropaganda aufzubauen, weil zumindest ein stückweit ‚Waffengleichheit‘ zwischen der alten Wachstumspropaganda und der neu zufassenden Nachhaltigkeitspropaganda herrscht. Letztere gilt es aufzubauen und zu etablieren und die bestehende muss in ihrer Wirkung beständig zurückgedrängt werden.

Die Erwartung, dass unser Wirtschaftssystem Träger der neuen Nachhaltigkeitspropaganda werden könnte, wäre m.E. absolut naiv. Da sich angesichts des Problems der Klimakrise auch ein verstärktes Verständnis von einer wissensbasierten Gesellschaft durchsetzt, wäre zu überlegen, den Träger der neuen Nachhaltigkeitspropaganda bei der Wissenschaft anzusiedeln, um zu vermeiden, dass die Propaganda all zu leicht für parteipolitische Zwecke Verwendung findet. Im Wissenschaftssystem sollte das Wissen um die Nachhaltigkeit am ehesten versammelt sein, so dass auch die Trägerschaft für die Kommunikation über Nachhaltigkeitspropaganda sinnvollerweise dort angesiedelt werden sollte. Propaganda ist bestimmt kein genuines Geschäft der Wissenschaften, also wäre es nötig, dort eine Agentur (eine Institution) zu schaffen, die die Nachhaltigkeitspropaganda z.B. unter der Aufsicht eines Wissenschaftsrates formuliert und vorantreibt. Dabei sollten die propagandistischen Botschaften vielleicht etwas mehr werblichen Pep erhalten als in Kreisen der Wissenschaft üblich ist.

Die Nachhaltigkeitspropaganda muss letztlich argumentativ alle Register ziehen, um Hirn und Herz möglichst vieler, aber nicht notwendig der meisten Menschen gewinnen können. Mehrheiten sind nicht notwendig die Voraussetzung, um Nachhaltigkeit zu forcieren. Der Nachahmungseffekt als Massenphänomen darf hier nicht unterschätzt werden.

Der vorliegende Vorschlag wäre m.E. die Skizze für einen völlig neuen Ansatz. Die Nachhaltigkeit würde nach zwischenzeitlich anerkannten und kommunizierten Notwendigkeiten propagiert werden. Damit wäre die Definitionsgewalt, was wir in der jeweiligen Situation unter „nachhaltig“ verstehen sollten, dem unmittelbaren Einfluss der Politik entzogen. Politik könnte einwenden, argumentieren. kommentieren, auch entscheiden, aber die Definitionshoheit der Nachhaltigkeit läge für die Allgemeinheit (und damit auch für die Wirtschaft) bei der Wissenschaft und wäre der Politik ein Stück weit entzogen. Ob die Vorstellung einer wissensbasierten Gesellschaft von der Politik unter diesen Voraussetzungen geteilt wird, bleibt abzuwarten. Wenn wir dem Wissen eine verstärkte Rolle in unserer Gesellschaft bereitstellen wollen (und das käme mit dem Begriff einer wissensbasierten Gesellschaft letztlich zum Ausdruck), dann hat das auch Folgen für die Bedeutung der Politik und deren Entscheidungsfindungen.

Dazu müssen wir aber eine Nachhaltigkeitspropaganda schaffen, aufgrund deren hoffentlich breiter Akzeptanz sich die Emergenz des Systems verändert. Damit wird  auch die Politik in ihrem Handeln ein Stück weit festgelegt. Vereinfacht ausgedrückt sollte die Politik „dem Volk auf Maul schauen“ und das „emergente Maul“ wird zu einem gehörigen Teil durch die angestrebte Nachhaltigkeitspropaganda argumentativ geformt. Und damit schließt sich der Kreis.


[1] Miosga, Manfred, Kommunen auf dem Weg in die Nachhaltigkeit; Vortragsmanuskript FFB, Mai 2022

[2]  Willke, Helmut, Systemtheorie I – III, u.a. 2014

[3] Auch die neue Nachhaltigkeitspropaganda kann unter den Begriff des Marketings i.w.S. erfasst werden. Es ist deshalb wichtig, nur umsatz- und imagebezogenes Marketing als nicht abzugsfähig zu deklarieren. ‚Nicht-gewerbliches Marketing‘ wäre folglich unverändert steuerlich abzugsfähig.


[*] Eine Reaktion auf eine Studie der Heinrich Böll Stiftung und Konzeptwerk Neue Ökonomie (HG): „A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1,5° C“, 2020

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