Soziale Medien haben sich offensichtlich weitgehend durchgesetzt. Man kann sich mit Recht fragen, ob deren Erfolg einen wirklichen Fortschritt oder nur eine neuerliche Gelddruckmaschine darstellt. Über Sokrates gibt es eine Anekdote, die aus Argumenten seiner Verteidigungsrede zusammengestellt wurde und die unter dem Namen „Die drei Siebe des Sokrates“ verbreitet wird.
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Sie hat meist folgende Form: „Einst (vor 2.500 Jahren) wandelte Sokrates durch die Straßen von Athen. Plötzlich kam ein Mann aufgeregt auf ihn zu und rief: „Sokrates, ich muss Dir etwas über Deinen Freund erzählen, …“ „Halt ein“ unterbrach ihn Sokrates, „bevor Du weitererzählst. Hast Du die Geschichte, die Du mir erzählen möchtest, durch die drei Filter gesiebt?“ „Die drei Filter? Welche drei Siebe?“ fragte der Mann überrascht. „Lass es uns ausprobieren“ schlug Sokrates vor. „Der erste Filter ist das Sieb der Wahrheit. Bist Du Dir sicher, dass das, was Du mir erzählen willst, wahr ist?“ „Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat.“ „Aha, aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gelangt, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, was Du mir über meinen Freund erzählen möchtest?“ Zögernd antwortet der Mann: „Nein, das nicht. Im Gegenteil …“ „Hm“, meinte Sokrates, „jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb der Notwendigkeit. Ist es notwendig, dass Du es mir erzählst, was Dich so aufregt?“ „Nein, nicht wirklich notwendig“, antwortete der Mann. „Nun“, fasst Sokrates lächelnd zusammen, „wenn Du von der Geschichte, die Du mir erzählen willst, nicht weißt, ob sie wahr ist, sie für mich nicht gut ist und sie nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser und belaste mich nicht damit.“
In den Sozialen Medien werden mehrheitlich Meinungen und Belanglosigkeiten gehandelt. Das Geschäftsmodell der Sozialen Medien ist es nicht, Erkenntnisse zu produzieren, Wahrheiten nachzuspüren, Gemeinschaft zu vermitteln. Die Sozialen Medien bieten in erster Linie dem unbedeutenden Normalbürger eine Plattform, auf der er sich anonym produzieren kann. Herr Niemand mutiert zu einem Herrn Wichtig. (Bei den Damen ist das auch nicht besser.)
Es gibt dem Unbedeutenden das Gefühl, Beachtung geschenkt zu bekommen. Für dieses neue Gefühl hat er sozial aber noch keine Kompetenz entwickelt. Er glaubt sich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und kann mit dieser Perspektive nicht umgehen. Die Möglichkeiten, die sich ihm zu bieten scheinen, kommen ihm gigantisch vor. Aber es ist wie mit allen sozialen Aktivitäten, sie erfordern ein Mindestmaß an Bildung und Kompetenz, um die sich bietenden Möglichkeiten sinnvoll einschätzen und nutzen zu können.
Und hier ist es verblüffend, dass ausgerechnet ein Mann, der vor 2.500 Jahren gelebt hat (und sich von den sogenannten Sozialen Medien ganz bestimmt keine Vorstellung hat machen können), aus einer einfachen menschlichen Vernunft heraus, Grundsätze entwickelt, die auch die Problematik der heutigen sozialen Medien grandios entschärfen könnten. Wenn jeder, der sich in den Sozialen Medien tummelt, die „drei Siebe“ regelmäßig anwenden würde, gäbe es keine Sozialen Medien in der heutigen Form. Die Mehrzahl der Aussagen in diesen Netzen würde schlicht an der Frage nach der Wahrheit, an der Frage nach den Empfindungen meines Adressaten (die ich mit der Nachricht auslöse) und letztlich an der Frage nach der Notwendigkeit scheitern.
Wahrheit ist zweifelsohne ein hoher Anspruch. Es geht dabei nicht um die „Wahrheit“ im absoluten Sinne – es geht einfach um die Frage nach der Seriosität der Aussage. Es geht um die Frage, kann eine getroffene Aussage überhaupt richtig sein. Hörensagen ist keine seriöse Quelle. ‚Meinen‘ ist es auch nicht. Wir leben heute in einer Welt, in der die wenigsten Dinge noch direkt erfahren werden. Die Mehrzahl unserer Informationen ist aus zweiter oder dritter Hand und damit ist unsere Wertung oder Einschätzung hinsichtlich ihrer Seriosität besonders wichtig und auch schwierig. Und wenn man zu der Einsicht gelangt, dass es der Nachricht an Seriosität mangelt, dann sollte man die Konsequenz ziehen und ihre Verbreitung unterlassen, auch und gerade dann, wenn mediale Aufmerksamkeit winkt. Das ist natürlich genau der Knackpunkt, an dem die sozialen Medien überhaupt kein Interesse haben. Denn wer Hirn entwickelt, schädigt das banale Geschäftsmodell, das auf der schlichten Eitelkeit der Menschen aufbaut.
Die Idee des Guten ist eine ganz einfache menschliche Eigenschaft: Im persönlichen Umgang miteinander müssen wir gewisse Höflichkeitsformen wahren, sonst werden wir sozial ausgeschlossen. Wenn aber plötzlich der Umgang anonym wird, sehen manche darin einen Grund, diese Grundregel des menschlichen Umgangs aufzugeben. Man merkt bedauerlicherweise, wie schwach unser Selbstverständnis begründet ist, wenn eine soziale Kontrolle im persönlichen Umfeld wegfällt. Andererseits befeuert die gewollte Anonymität der Sozialen Medien deren Attraktivität. Aller Frust und jede Beeinträchtigung, die man je erfahren hat, kann im Netz frei herumlaufen. Die Rücksichtnahme, die zwar einschränkt und im persönlichen Umfeld noch hin und wieder Platz greift, wird zugunsten einer üblen Nachrede von der Kette gelassen. So funktioniert aber Gemeinschaft nicht. Wer friedlich interagieren will, muss sich solcher Exzesse enthalten.
Das Sieb der Notwendigkeit ist der rationale Teil in dem System. Eine echte Nachricht muss so gestaltet sein, dass sie für den Empfänger „Not wendet“. Dem Empfänger muss ohne die Nachricht etwas Wesentliches fehlen. Wenn die Nachricht im wahrsten Sinne des Wortes „Bullshit“ darstellt, kann auf diese Nachricht locker verzichtet werden, ohne das der Überbringer als auch der Empfänger das Gefühl entwickeln müssen, etwas versäumt zu haben. Dem Ansatz steht aber eine ausgeprägte Neigung des Menschen entgegen: die Neugier – eine besonders lästige und unauffällige Form der Gier, getarnt durch das Bestreben, angeblich Bescheid wissen zu müssen. Notwendige Nachrichten sollen die „Not“ des Anderen „wenden“, die Nachricht befriedigt aber nicht ‚notwendig‘ meine egoistischen Bedürfnisse der Neugier.
Sokrates werden in der Anekdote die Worte in den Mund gelegt: „… und belaste mich nicht damit.“ Hier schlüpft einem offensichtlich neuzeitlichen Designer von Anekdoten ein simpler Spruch über die Lippen, die sich die Anwender von Sozialen Medien oft nicht klar machen. Die Anwendung des Medium hat gewisse marginale Vorteile, aber sie werden durch eine Steigerung von Belastung erkauft. Man gewinnt nichts, erst recht keine Aufmerksamkeit und Beachtung durch eine Community, ohne seinen Preis in der Währung von verlorener Freiheit dafür zu bezahlen. Sozial ist bei diesen Medien überhaupt nichts. Der soziale Gesichtspunkt ist rein virtuell. Sie haben und sie finden keine „Freunde“ im Netz, das ist ein Marketingtrick, der bewusst die Vereinzelung fördert. Und Vereinzelung ist doch wohl das Gegenteil von sozialem Umgang. Freunde zu haben, ist ein Privileg, das sich nicht über eine Anzahl von virtuellen Kontakten bestimmt lässt. Wenn Freunde existieren, dann sind es jene aus Fleisch und Blut, mit denen man sich auch dann treffen würde, wenn es keine sogenannten Sozialen Medien gäbe. Allein die Form der Verabredung ist möglicherweise digital beeinflusst. Nutzen Sie die drei Siebe in diesem Sinne – sie werden sich großartig fühlen, denn sie haben es geschafft, sich von dem Herdenverhalten loszusagen und mit Hilfe der „drei Siebe“ einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Das ist nicht immer einfach, aber überaus interessant!
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