Sind erweiterte politische Strukturen notwendig?

Wir müssen beobachten, dass die Idee der Demokratie immer häufiger von Autokraten in Frage gestellt bzw. unterlaufen wird. Dabei keimt der Verdacht auf, dass vielleicht gar nicht die Idee der Demokratie in Frage steht, sondern die Frage, wie Demokratie heute gelebt wird.

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Spiegelt das, was wir als politische Führung konkret erleben, den Gedanken einer „Herrschaft des Volkes“ angemessen wieder? Oder anders gefasst: die Welt verändert sich, müssen sich nicht auch die politischen Strukturen einer Demokratie daran anpassen? Dabei wäre eine Anpassung in Richtung auf die Autokraten grundverkehrt!

Der „Souverän“ soll durch das Parlament repräsentiert werden. Kann das Parlament diese Aufgabe leisten? Wir wählen zwar das Parlament, aber hat das Gremium den Wähler bzw. den „Bürger“ noch im Fokus, oder geht es bei der Diskussion dieses Gremiums nur noch um die Metaebene der sogenannten Marktgesellschaft, bei der die Mitglieder des Parlaments gebannt auf den Markt starren, ihre sozialen Erkenntnisse aus statistischen Durchschnittswerten beziehen, und ihre Maßnahmen aus einem ideologisch fehlerhaften Wirtschaftsverständnis herleiten. Mit den Belangen eines „Bürgers“ wissen die ‚Herrschaften‘ wenig anzufangen: Man diskutiert über Konsumenten, über Verbraucher, über prekäre Verhältnisse, über die Mobilität der Arbeitnehmer und glaubt damit die Lebensrealität der Bürgers erfassen zu können. Weiter glaubt man, dass die Interessen der Bürger durch das perfide Zusammenspiel der Lobbyisten mit ihren selektiven Informationsbereitstellungen und fragwürdigen „Handreichungen“ irgendwo ausreichend Berücksichtigung finden werden. Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen.

Die Grundlage der Demokratie ist nicht der Verbraucher, ist nicht der Konsument, der Arbeitnehmer, der Unternehmer, der Kapitalanleger, sondern schlicht und einfach der Bürger. Hat unser Parlament noch einen Zugang zum Bürger? Er ist derjenige, der sie wählen soll. Wenn der Gedanke des Bürgers aber nur noch in der Verfassung Erwähnung findet und bei Wahlen strapaziert wird, reicht es nicht aus, dass sich das Wahlvolk mit dieser Demokratie identifizieren kann. Rund 25% der potenziellen Wähler nimmt das Angebot gar nicht mehr an. Da sind die Personen (über 13% der Bevölkerung) schon abgezogen, die aufgrund ihres Alters noch nicht wählen dürfen.

Wir laborieren seit mehreren Legislaturperioden an einer Parlamentsreform herum und die Egoismen der Parteien lassen eine praktikable Einigung nicht zu. Der interne und externe Lobbyismus ist zwischenzeitlich m. E. zu einer Geißel des Parlamentarismus geworden. Eine Vielzahl von Abgeordneten dienen zwei oder mehr Herren, einmal dem Souverän, der sie in die parlamentarische Funktion hebt, sie bezahlt und ihnen den notwendigen Einfluss ermöglicht und dann dient man noch als Lobbyist diversen Verbänden und Einrichtungen. Oder man ist „Unternehmer“, wie es der Abgeordnete Sauter anlässlich seiner Maskenprovisionen verlauten ließ. Als ob Moral teilbar wäre – als Abgeordneter spielt er den Moralapostel oder sollte zumindest Vorbild sein, um dann im Hinterzimmern genau das zu praktizieren, was ein verheerendes Licht auf die Funktion der „Unternehmer“ wirft. Der „Augiasstall“ muss mit einem eisernen Besen ausgemistet werden. Viele Bürger (und auch ich) trauen dieses Aufräumen aus eigener Kraft den Parteien nach all den Jahren nicht mehr zu.

Lobbyismus in eigener Sache

Gibt es eine Alternative? Ich denke ja! Dabei muss man das System des Lobbyismus mit seinen eigenen Methoden „schlagen“. Nicht, indem man sich der Seuche als Don Quichote entgegenstellt, sondern indem den Bürgern (und nicht dem Verbraucher, Konsument, Arbeitsnehmer u.s.w.) die rechtliche Möglichkeit gegeben wird, „Lobbyismus in eigener Sache“ zu betreiben. Wie geht das? Ich beziehe mich hier auf einen Beitrag von ARTE 42 mit dem Titel: „Sollten wir losen statt wählen?“[1], der eine Idee aus den 1970iger Jahren von Peter Dienel unter dem Namen „Die Planungszelle“ aufgreift und deren erfolgreiche Entwicklung bis in unsere Gegenwart verfolgt.

Der Kerngedanke dieses Ansatzes richtet sich gegen den Anspruch des Parlaments den Bürger oder das „Volk“ wirklich zu repräsentieren. Die Mehrzahl der Abgeordneten repräsentieren alles Mögliche, aber den Wähler und Bürger nur marginal. Eben gerade so viel, wie nötig ist, um noch von einer Repräsentation sprechen zu können. Das liegt auch daran, dass die Abgeordneten einer tausendfachen ständigen Einflussnahme durch die Lobbyisten ausgesetzt sind. Diese „Büchse der Pandora“ können wir m.E. nicht mehr schließen. Wer sollte es denn tun? Diejenigen, die dies qua Gesetz tun könnten, würden sich von ihren Pfründen abschneiden. Das wäre wohl ein zu hoher Anspruch. Wir müssen also den Weg des geringeren Widerstandes gehen.

Gesetzt den Fall, das Parlament oder die Regierung benötigt zu einem wichtigen politischen Gesichtspunkt ein reales Bild der Bürgerschaft, das nicht durch Medien oder seichte Umfragen konstruiert wird. Durch ein Zufallsverfahren (also per Los) werden z.B. 100 Bürger ausgewählt, die die Schichtung der Bürger in diesem Lande ziemlich präzise abbildet. Diese 100 „Auserwählten“ treffen sich real (Auge in Auge) an einem zentralen Ort, werden zuerst über alle Aspekte der Fragestellung umfassend informiert und setzen sich danach zusammen, diskutieren in wechselnden Kleingruppen ihre Erkenntnisse, um daraus mit fachlicher Unterstützung ein sogenanntes „Bürgergutachten“ zu erstellen, das öffentlich zugänglich sein muss.

Die Öffentlichkeit des Prozesses macht den gravierenden Unterschied zum professionellen Lobbyismus der Hinterzimmer und der besonderen Netzwerke aus. Dieses Gutachten müsste zudem Priorität vor allen anderen Lobbybeiträgen haben und das Parlament als auch die Regierungen von Bund und Land werden per Gesetz verpflichtet, öffentlich darüber zu beraten und müssen dazu dezidiert mündlich und schriftlich Stellung nehmen.

Wenn wir nun von einer Regierung ausgehen müssten, die diese unliebsame „Einmischung“ der Bürger gerne so gering als möglich halten möchte, so muss es möglich sein, dass auf Antrag von einer ausreichenden Anzahl von Bürgern die Legislative verpflichtet werden kann, hierzu ein Bürgergutachten einzuholen. Es ist ein ähnliches Verfahren wie beim Bürgerentscheid.

Kritisch bleiben die Informationsveranstaltungen, die die „Auserwählten“ sachlich auf Ballhöhe bringen sollen. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten den gleichen Sachstand haben. Hier gibt es ein Einfallstor für Manipulationen. Da die Möglichkeit erfahrungsgemäß auch („gnadenlos“) genutzt werden wird, muss das ganze Verfahren öffentlich vonstattengehen und es muss gezielt auf Neutralität geachtet werden. Das Interesse zur Einflussnahme von Dritter Seite besteht schon deshalb, weil hinsichtlich der professionellen Lobbyisten keine Waffengleichheit besteht. Die „Auserwählten“ finden in jedem Fall das Ohr der Entscheider. Wenn es den professionellen Lobbyisten gelänge, hier „einzugrätschen“, wären die Folgen für das Ergebnis des Prozesses absolut kontraproduktiv.

Wissen oder Mehrheit

In der Pandemie ist ein politisches Dilemma offen zu Tage getreten: Folgt die Politik den wenigen, die wissen oder jenen vielen, die nicht wissen, aber die Mehrheit darstellen. Das Dilemma kann man als das Kernproblem politisch-demokratischer Führung nennen, weil Wahlen i.d.R. nicht durch Wissen sondern durch Mehrheiten entschieden werden. Und die Politik neigt aus Selbsterhaltungsgründen dazu, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen, was insbesondere bei existenziellen Fragestellung (wie gegenwärtig die Bekämpfung der Pandemie oder künftig bei der Transformation der Gesellschaft zur Nachhaltigkeit) i.d.R. zu sachlich falschen Entscheidungen führt oder führen wird.

Politik ist machtverknüpft. Wenn die Macht fehlt, ist auch die Politik nicht mehr handlungsfähig. Deshalb liebäugelt sie immer mit der Macht der Mehrheit. Es war erfreulich, bei der letzten Wahl festzustellen, dass dieses alte Schema: „Weiter so“ offenbar seine Wirkmächtigkeit verloren hat und der Bürger sich mehrheitlich darüber im Klaren wurde, dass das keine wirkliche Alternative mehr darstellt. Das waren die Bürger und nicht die Verbrauer, Konsumenten, Arbeitsnehmer, u.s.w., denn wenn sie auf diese schmalspurige Identität reduziert werden könnten, hätten sie das „Weiter so“ wohl mehrheitlich akzeptiert.

Wenn der Bürger als Ganzes eben doch ein wesentlicher Faktor in der Politik geblieben ist, wäre die nächste Frage, wie man im Rahmen von schwierigen politischen Führungssituationen auf die Stimmung und Meinungen (und mehr ist es leider bei Wahlen nicht) erfolgreich Einfluss nehmen kann ohne dass Institutionen wie ‚Analytica‘ sowie Werbe- und Marketingagenturen die Köpfe der Mehrheit durch Manipulation und psychologische „Kriegsführung“ zu etwas bewegen können (denken Sie an „Brexit“ oder „Trump“), das im Grunde mittel- und langfristig zu ihrem Nachteil sein wird. Die Lösung sehe ich in dem Instrument des „Lobbyismus des Bürgers in eigener Sache“ (siehe oben) bzw. in der Umsetzung der Idee der Planzellen (Peter Dienel) und deren Weiterentwicklungen.

Die schwierigen Fragen werden einem wechselnden (ausgelosten) Bürgergremium vorgelegt, es werden die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgetragen und dieses (ausgeloste) Gremium arbeitet ein Bürgergutachten aus, dass dann in den Medien (z.B. Fernsehen) publikumswirksam zur Diskussion gestellt wird. Es können durchaus mehrere parallele Veranstaltungen zu unterschiedlichen Fragen stattfinden, aber bitte keine Überforderung des Spaßpotenzials. Dann wird es wieder fad.

Die Veranstaltungen müssen professionell geführt werden und den Zuschauer durch Spannung gefangen nehmen. Damit wird auch den klassischen Manipulationen der Boden entzogen. Es wird schwer werden, gegen die Macht des Bürgerlobbyismus, der den Sachverhalt und die notwendigen Entscheidungen in einfacher Sprache so darstellt, dass Wissen und Knowhow der Zuschauer aus der Diskussion erwächst und sich dadurch eine zureichende „Urteilskraft“ (Kant) bei einer Vielzahl von Wählern einstellt. Je mehr „Urteilskraft“ erzielt wird, desto weniger fallen die Bürger auf die manipulativen „dummen Sprüche“ der Gegenseite herein. Der Begriff “Urteilskraft“ ist nicht zu verwechseln mit „Urteilsfähigkeit“. Fähigkeit ist die Möglichkeit zur Erkenntnis, Urteilskraft geht darüber hinaus und bezieht konkret auch die Fähigkeit zur Umsetzung ein.

Angesichts der großen Aufgabe, unsere Gesellschaft und Wirtschaft zur Nachhaltigkeit zu führen, ist es ganz wichtig, eine offene Kommunikation mit den Bürgern zu suchen. Der Kreis der wechselnden „Auserwählten“ (die jeweils ausgelosten Bürger) kann dabei den Nukleus bilden, um daraus einen ständigen und interessanten Austausch zwischen dem „Wissen“ und dem „Meinen“ und letztlich auch „Wählen“ herzustellen. Nur so kann es eine Chance geben, einen Großteil der Nicht-Beteiligten zu erreichen und mitnehmen zu können und die unvermeidlich „uninformierten Meinungsträger“ in Grenzen zu halten.


[1]  https://www.arte.tv/de/videos/101941-006-A/42-die-antwort-auf-fast-alles/  (aufgerufen 24.11.2021)

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