Politische Führung – gibt es sowas noch?

In den letzten dreißig Jahren gab es aus meiner Perspektive keine politische Führung. Das heißt nicht, dass wir führungslos waren, aber die Politik hat im Sinne von „Laissez faire“ nur dann Ansätze von Führung gezeigt, wenn der „Karren“ drohte, stecken zu blieben oder wenn sich des Wählers Unmut so artikulierte, dass die Wiederwahl der Führungsriege in Frage gestellt war.

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Es haben sich auch die Begrifflichkeiten gewandelt. Man spricht heute gerne von „Governance“ statt von „Führung“, aber erfolgreiche Governance ist in meinen Augen auch erfolgreiche Führung. Wir verbinden mit Führung oft Elitenbildung und versuchen, durch den anderen Begriff dem Phänomen der Führung einen eher demokratischen Touch zu vermitteln. Ob das wirklich hilft, erscheint mir fraglich.

Seit der Finanzkrise 2008/2009 begann sich die Auffassung von Politik langsam zu drehen, weil man gemerkt hatte, dass das Verhalten der „Märkte“ keiner Rationalität entsprach, die die Politik weiter tolerieren konnte.

Parallel zu den schmerzhaften Erkenntnissen vom Versagen der angeblich so idealen Finanzmärkte wurde immer deutlicher, dass unser ursprünglich auf die Ewigkeit gepoltes Wirtschaftssystem (‚ewiges‘ Wachstum bei unbegrenzter Maximierung von privaten Gewinnen) und die Klimakrise klar machten, dass dieser Planet ein solches Wirtschaftssystem nicht tolerieren wird. Diese Erkenntnis ist  zwar schon nahezu 50 Jahre alt, wurde aber geflissentlich überhört und übersehen. Das alles hat sein Ende gefunden. Aber der Neuanfang ist (noch) nicht zu erkennen.

Dann kam dieser verflixte Virus, der unsere gesamte Infrastruktur vor neue Probleme stellte und deutlich machte, dass wir nur mit äußerster Anstrengung den „Karren auf der Straße“ halten können. Neben den medizinischen Grenzen wurde auch deutlich, dass wir seit 15 oder mehr Jahren an der Digitalisierung herumdoktern, aber wenn es darauf ankommt, verlässliche Daten bereit zu stellen, versagt die Infrastruktur in weiten Teilen bzw. es stellt sich dann heraus, dass wir keine einheitlichen bundesweiten Referenzen besitzen, um die Maßnahmen sinnvoll zu steuern. Wir sind jetzt zwei Jahre in der Pandemie und müssen feststellen, dass wir immer noch vielfach mit Methoden arbeiten, die wir schon vor fünfzig Jahren angewendet haben als man Digitalisierung noch nicht einmal buchstabieren konnte.

Die Aufzählung sollte nun nicht dazu dienen, Nachweis zu führen, was alles möglicherweise falsch gelaufen ist. Das ist Vergangenheit und wir sollten großzügig sein. Es lag nur bedingt an den handelnden Personen, die sich, so mein Eindruck, tapfer geschlagen haben, um unter den gegebenen Umständen das Menschenmögliche zu erreichen. Mein Punkt ist, darüber nachzudenken, was wir hinsichtlich unseres bisherigen Verständnisses von politscher Führung ändern müssen, damit wir eine Chance sehen, die kommenden Herausforderungen auch einigermaßen sicher zu beherrschen.

Wir müssen uns hinsichtlich der politischen Führung von der Ideologie des „Laissez faire“ verabschieden. Es genügt nicht, zu führen, indem man einer liberalen Doktrin folgt, ohne sie regelmäßig zu hinterfragen, und nur versucht, als „moderierender Staat“ Reibungen zwischen der realen Welt und der Ideologie zu ‚verwalten‘. Die Aufgabe des „Laissez fair“ bedeutet  nicht, dass die politische Führung ihre Finger in alle Details steckt, sondern es bedeutet einen neuen Wirtschafts- und Sozialrahmen (ein neues „Spielfeld“) zu schaffen, der systemisch unsere Aktivitäten begrenzt und innerhalb der Grenzen, sogenannter Leitplanken, wird dann ein „Laissez faire“ u.U. wieder möglich. Der Aufbau dieses Rahmens wird aber nicht vom Himmel fallen, er muss politisch geschaffen und vermittelt werden. Die hier diskutierten Details zu dieser Erkenntnis stammen aus einem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), unter dem Titel „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, veröffentlicht im Jahr 2011(!), also schon vor gut zehn Jahren, in denen kaum einer der ausgearbeiteten Vorschläge ansatzweise realisiert wurde.

In Kapitel 5 wird eine neue (andere) Form der politische Führung gefordert: „Dem Staat kommt eine bedeutende Rolle im Transformationsprozess zu. Damit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Ressourcen und Potenziale einsetzen und Maßnahmen wie den Auf- und Umbau der Energieversorgung, die Neugestaltung städtischer Räume und die Veränderung der Landnutzung (Kap. 4) entwickeln, umsetzen und anwenden können, müssen Legislative, Exekutive und Judikative den hierfür erforderlichen Ordnungsrahmen schaffen bzw. ausfüllen und nicht nur rhetorisch-symbolisch die Entwicklung von Innovationen ins Zentrum rücken.“ (WBGU, 2011, S. 215)

Dabei macht der WBGU deutlich, dass die neue Form der politischen Führung hinsichtlich ihrer Legitimation mit einer erweiterten bürgerschaftlichen Partizipation austariert werden muss. „Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise (2007–2009) hat das Scheitern deregulierter Marktmechanismen nachdrücklich demonstriert. Gerade auch mit Blick auf die Umweltqualität zeigen sich die Nachteile deregulierter Marktmechanismen: Das Unvermögen von Unternehmen auf freien Märkten, die langfristigen Dimensionen ihrer Geschäftsmodelle und Technologieanwendungen im Blick zu behalten, macht umweltpolitische Regulierungen durch den Staat unumgänglich (Winter, 2010). Dabei muss man vor jeglicher Planungsillusion warnen. Der Staat kennt selbst nicht die besten Optionen, vielmehr muss er die in Unternehmen, in der Zivilgesellschaft und im politisch-administrativen System liegenden Potenziale aktivieren und sich dabei auch nicht länger – wie für pluralistische Verhandlungsdemokratien typisch – auf eine rein moderierende und nachsorgende Rolle beschränken. Ohne also die Risiken einer interventionistischen Politik zu unterschätzen und ohne einer neuerlichen Steuerungsillusion anzuhängen, regt der WBGU eine Weiterentwicklung des moderierenden zum „gestaltenden“ Staat an, der selbst eine proaktive Transformationspolitik betreibt. Dieses „Mehr“ an Staatlichkeit muss in einer Art neuem Gesellschaftsvertrag (Kap. 7.2) durch ein „Mehr“ an bürgerschaftlichem Engagement ausbalanciert werden. Kern dieses (fiktiven) Vertrags ist, dass er staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure im Blick auf Gemeinwohlziele und globale Kollektivgüter in ökologischer Zukunftsverantwortung mit Rechten und Pflichten versieht.“(WBGU, 2011, S.216)

„Der WBGU ist der Auffassung, dass es eines gestaltenden und zugleich aktivierenden Staatshandelns vor allem in den Bereichen der Klima-, Umwelt- und Energiepolitik bedarf und dass diese Politikfelder ins Zentrum einer neu verstandenen Wohlfahrtsstaatlichkeit rücken sollten. (…)

Zentraler Baustein eines solchen gestaltenden, innovationsoffenen Staates ist u. a. die innovationsfördernde Regulierung, so dass im Hinblick auf die drei Staatsgewalten zuvörderst das Handeln des Gesetzgebers erforderlich ist (Eifert, 2009). Hierzu könnte exemplarisch der deutsche Verfassungsgesetzgeber den Klimaschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen und zugleich statuieren, dass dieses Ziel insbesondere durch innovationsfördernde Regulierung erreicht und durch entsprechende Klagerechte gestützt werden soll. (…)

Staatliches Handeln soll darauf ausgerichtet sein, die Marktkräfte und das Engagement der Zivilgesellschaft im Dienste der Transformation zu nutzen und zu stärken. (..)“ (WBGU, S. 217).

Diese leicht dahin gesagten Sätze enthalten einen Paradigmenwechsel, weg von der Beschränkung politischer Aktivität auf die Moderation hin zur politischen Gestaltung. Wenn man die Sätze so liest, könnte man die darin verpackte „Bombe“ leicht übersehen. Mindestens eine Generation von Politikern kennt nichts anderes als Moderation. Das neue Ziel „Gestaltung“ stand bisher nicht auf ihrem Lehrplan.

Zudem wird immer nur von mehrheitlich technischen Innovationen gesprochen als ob das ausreicht, um das Ziel zu erreichen. Von Befreiung von Überfluss, von Veränderung des Verhaltens und ggfs. die Reduktion des Outputs aufs Wesentliche als Kennzeichen von Nachhaltigkeit wird nicht gesprochen. Der Wandel wird aber ohne derartige eher „unangenehme“ Sozial-Innovationen nicht vonstattengehen. Darüber zu sprechen erscheint gegenwärtig politisch eher nicht opportun.

Manche glauben, bürgerliche Partizipation würde sich auch durch Umfragen darstellen lassen. Das ist m.E. ein großer Irrtum. Die Mehrzahl der Bürgerschaft ist unzureichend informiert und bildet sich ihre jeweilige Meinung auf dieser extrem schmalen Grundlage. Kommt jetzt eine Umfrage, wird diese „Meinung“ kundgetan und führt u.U. zu Meinungsblasen, die in keiner Weise zu den anstehenden Problemstellungen Lösungsbeiträge darstellen können. Wenn wir Pech haben, wird dieser Unsinn dann auch noch mehrheitsfähig und damit politisch relevant. Solche Meinungen sind kaum wieder aus den Köpfen zu löschen (man denke an die Querdenker-Community).

Partizipation muss neue Wege gehen. Aus der Auswahl von Methoden gefiel mir die sogenannte „Auslosung“ (siehe den Beitrag bei ARTE 42: „Sollen wir losen oder wählen?“) besonders gut. Dabei wird eine überschaubare Zahl von Bürgern durch Los zufällig bestimmt und spiegelt im Idealfall die Schichtung unserer Bevölkerung wieder (u.U. besser als das gegenwärtige Parlament). Diese Bürger (Leute wie Du und ich) werden eingeladen, nehmen freiwillig teil (und werden für ihren ehrenamtlichen Beitrag letztlich auch entschädigt), nehmen an einem Workshop teil, indem sie mit der Problemlage und den vielfältigen Zusammenhängen vertraut gemacht werden. Das Informationsniveau zwischen den Probanden wird auf diese Weise weitgehend ausgeglichen. Danach folgen Gruppensitzungen in wechselnder Zusammensetzung, um Lösungsvorschläge für die anstehende Problemlage zu diskutieren und dann Mehrheitsentscheidungen zu den Lösungsvorschlägen in einem „Bürgergutachten“ zu dokumentieren und dem jeweiligen Parlament vorzuschlagen.

Ich war Teilnehmer einer solchen Veranstaltung auf Kreisebene und war überrascht, wie konkret und ernsthaft die (ehrenamtlichen) Bürger ihre Aufgabe wahrgenommen haben. Gegenüber Umfragen hat dieses Verfahren den Vorteil, dass nicht schlecht informierte Meinungen vervielfältigt, sondern gut informierte, ausdiskutierte und vielfach begründete Meinungen zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Das Verfahren hat den schrecklichen Namen „deliberativer Partizipationsprozess“, der von Prof. Peter Dienel (Universität Wuppertal) in den 1970iger Jahren formuliert und auch erfolgreich angewendet wurde.

Weiter bleibt die Frage, warum von staatlicher Seite nicht eine Verstärkung (etwas moderner: ein Empowerment) der Volkshochschulen erfolgt. Es reicht nicht, schlaue Bücher zu schreiben, die hoffentlich von der Politik gelesen werden (hier habe ich meine Zweifel). Der WBGU müsste in die Lage versetzt werden, Information und Bildung auf dem Felde der Transformation unter die „Leute“ zu tragen. Ich denke da auch an die Bundeszentrale für politische Bildung, die diese Aufgabe mit Vorträgen und verständlich gehaltenem Print-Material noch mehr unterstützen könnte.

Zum Schluss drängt sich natürlich die Frage auf, ob unser „Führungspersonal“ auf diese neuen Aufgaben ausreichend vorbereitet ist? Der gestaltende Staat braucht sicher auch Moderatoren, aber Moderation allein ist zu wenig. Es braucht Mut, Schwung, Zuversicht, Perspektive und ein gewisses Maß an intellektueller (und parteipolitischer) Unabhängigkeit, um neue Wege zu gehen. Viele unserer Politiker weisen einen Werdegang auf, der eher einer Ochsentour als einem „Weg zum Lichte“ gleicht. Die Ochsentour macht den Politiker angreifbar: wer viele Jahre in dem Politikbetrieb gearbeitet hat, gleicht oft einem Kieselstein – alle Ecken und Kanten sind abgeschliffen. Und plötzlich soll dieser jahrelang auf Moderation getrimmte „Kieselstein“ auch noch innovative Gestaltungsideen entwickeln? Wie soll das gehen? Hierzu schweigt auch das Gutachten der WBGU bei all den sonst so weitreichenden Überlegungen. Wo nehmen wir das passende Personal her? Die anstehenden Gestaltungsaufgaben sind umfassend und sehr komplex. Wie wäre es, hier temporär Fachkräfte oder Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft mit den Gestaltungsaufgaben zu betrauen bis eine neue Generation von Politikern herangebildet wurde, die sich auch erfolgreich auf den gestaltenden Staat als Handlungsmuster einzustellen versteht?

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