Die Qual der Wahl

Die Ampel-Koalition hatte richtig erkannt, dass sich wohl eine Zeitenwende ankündigt. Das diese Zeitenwende nur sehr bedingt gelungen ist, hat viele Gründe. Wegen einem dieser Gründe werden wir im Februar 2025 wählen und die Parteien haben für die nächsten vier Jahre (und leider nicht darüber hinaus) ihre Vorhaben ausformuliert. Man könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten in den letzten dreißig Jahren den Zustand der Bundesrepublik nicht mitverantwortet und die „Zeitenwende“ noch immer nicht kapiert. Sie haben scheinbar nichts oder nur wenig dazugelernt.

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Was der allgemeine Tenor der Parteiprogramme als Politikmix aufscheinen lässt, lässt sich am besten mit dem Begriff “Politik als Dienstleistung“ umreißen. Was aber nötig wäre, wäre eine politisch-demokratische „Politik der Führung“. Das ist in einer Demokratie deutlich schwieriger als nur eine „Dienstleistung“ bereit zu halten, die immer nur dann zum Zuge kommt, wenn der Karren droht, im Dreck stecken zu bleiben. Den Rest überlässt man lieber dem „Marktgott“, der es dann richten soll.

Intellektuell völlig daneben ist der angestrengte Dualismus „Staat vs. Markt“ oder noch krasser „Staat vs. Freiheit“, eine verhängnisvoll dumme Entwicklung. Man trennt hier etwas, was nicht zu trennen ist. Eine erfolgreiche Gesellschaft versteht es, Staat und Wirtschaft in einen sinnvollen Ausgleich zu bringen.

Was ist die Aufgabe des Staates? Neben vielem anderen ist es seine Aufgabe Infrastruktur vorzuhalten, weil sie den wirtschaftlichen und privaten Aktivitäten eine gesicherte Grundlage zu bieten hat. Ohne ausreichende Infrastruktur ist jede wirtschaftliche Aktivität und jedes komplexeres Geschäftsmodell obsolet. Haben wir eine vernünftige Infrastruktur, die diesem Anspruch gerecht wird? Ich würde das verneinen, weil wir ein Defizit in der Digitalisierung haben, in der Energieversorgung und bei der Bürokratisierung. Zur Infrastruktur gehört auch die Lösung der Renten- und Pflegeproblematik, unsere maroden Straßen und Brücken, nicht zuletzt auch der Wiederaufbau der von der Politik vor etwa dreißig Jahren bewusst kaputt sanierten Bundesbahn.

Die Pläne der Parteien sehen große Ausgaben vor, aber nicht für Infrastruktur, sondern für Steuersenkungen. Angesichts des Aufgabenüberhangs in Bezug auf die Infrastruktur fragt man sich natürlich, wo das Geld für die offenen Wunden der Infrastruktur herkommen soll, wenn riesige Geschenke in Form von Steuersenkungen gemacht werden. Nach meinem Kenntnisstand hat keine der Parteien zu diesem Phänomen ein ehrliches Wort verloren. Das Geheimnis wird erst nach der Wahl gelüftet.

Wir haben eine Zeitenwende. Das haben m.E. sowohl Teile der Politik als auch der Wirtschaft erkannt und auch verstanden. Die Populisten in der Politik tun so, als gelte das nicht für sie. Sie leben auf einem andere Stern, der einer Scheibe gleicht! Die Programme der sogenannten Alt-Parteien tun so, als ob es diese Zeitenwende und deren Konsequenzen nicht gäbe. Daraus ergibt sich die Qual der Wahl.

Alle Blicke richten sich gegenwärtig auf die Automobilindustrie, die zu spät die falschen Maßnahmen ergriffen hat. Neben den Details hat diese Industrie m.E. ihre ureigensten Ziele verraten: Das Ziel der Automobilindustrie ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Mobilität zu leisten. Stattdessen hat sich diese Industrie den Profit zum alleinigen Leitstern erkoren und hat versucht, jene Produkte zu produzieren, die den maximalen Profit versprachen und haben dabei die Funktion der Mobilität aus den Augen verloren. Das haben andere einfach besser gemacht. Jetzt stehen tausende von Arbeitsplätzen zur Disposition und die politischen Wahlangebote einer große Zahl von Parteien beschränkt sich im Wesentlichen auf Steuersenkungen für Mittelstand und Wirtschaft. Was ist mit der Erhaltung der Kaufkraft? Man kann nicht nur dank Steuersenkungen billiger produzieren wollen, man muss auch dafür sorgen, dass Einkommen generiert werden, die es zulassen, die Produkte zu kaufen. Insbesondere, wenn aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit das Ausweichen in den Export schwieriger wird.

Der Bürokratieabbau wird seit Jahrzehnten diskutiert. Trotzdem haben sich seit dem Jahr 2000 die Bauvorschriften lt. einer Aussage eines Betroffenen vervierfacht, auch deshalb, weil jedes Land in Deutschland glaubt, seine eigenen Vorschriften entwickeln zu müssen. Aber das Bauen ist nicht 16-mal anders in dieser Republik. Setzt Euch zusammen, bestimmt einen sinnvollen Standard und der ist von allen Ländern (ohne Ausnahmen) zu realisieren! Sonderregelungen sind möglich, aber nur, wenn sie mit dem Bundesausschuss abgestimmt, vereinheitlicht und genehmigt werden.

Es fällt anlässlich der „Dry January“-Kampanie auf, dass in der Öffentlichkeit verstärkt darauf gedrungen wird, den Alkoholkonsum in der Getränkewirtschaft massiv zurückzudrängen. In der öffentliche Community wird rauf und runter zu Recht darauf hingewiesen, wie gefährlich der Alkoholkonsum leider generell eingestuft werden muss. Dagegen laufen die Hersteller Sturm, weil sich alkoholfreier Wein und Sekt aufgrund seiner geschmacklichen Schwäche nur schlecht vermarkten lässt. Bei Bier läuft es gegenwärtig offensichtlich besser. Alkoholfreie Biersorten wurden vielfach zu isotonen „Sportgetränken“.

Es gibt einen Dreiteiler in der ARD-Mediathek, der einerseits die Gesundheitskosten anführt, die der Alkohol auslöst und wie die Hersteller über Lobbyarbeit in der EU sicherzustellen versuchen, dass sich möglichst wenig ändert. Und die Gesundheitskosten sind gigantisch im Vergleich zum wirtschaftlichen Erfolg alkoholischer Getränke. Alkohol ist eine Droge und er muss auch als solche in der Öffentlichkeit erkannt werden. Man sucht auch dieses Problem mangels Lösungsansätzen wahrscheinlich vergeblich in den Parteiprogrammen.

Die Babyboomer gehen oder sind schon teilweise in Rente. Die Zahl der alten Mitbürger wird absehbar in den nächsten Jahren sprunghaft ansteigen. Die Rentenlast als auch die unweigerlich ansteigende Pflegelast bringen die Systeme an ihre Grenzen. Hat irgend eine Partei einen Vorschlag, wie das gelöst werden könnte, oder wo gibt es einen Hinweis, dass dieses Problem zur Lösung ansteht. Eher Fehlanszeige!?

Aber es werden gewaltige finanzielle Zusagen in Form von Steuererleichterungen in Aussicht gestellt, Wie soll das finanziell funktionieren? Was passiert, wenn die Populisten, wie immer wieder betont, es fertig bringen, Tausende oder gar Millionen sogenannter Migranten „abzuschieben“? Es fehlen uns schon heute Tausende von Arbeitnehmern, um den bestehenden Personalbedarf in Handwerk und Industrie zu decken.

Was bleibt, ist die Qual der Wahl, denn die „bunten“ Parteiprogramme umschiffen im großen Bogen die wirklichen Probleme unseres Landes und malen ein optimistisches Bild in falschen Farben. Das wird ein böses Erwachen geben. Deshalb ist es wichtig, wählen zu gehen. Wir können nur auf die Problemlösungsfähigkeiten der Parteien hoffen, wenn die Realität die „schönen“ Programme einholt haben werden.

Hans-Joachim Schellnhuber, Klimafolgenforscher (im SZ-Magazin vom 10. Januar) schließt in einem Beitrag über Klimawandel mit den Worten: „Schauen Sie zurück auf die 1930er Jahre. Geschichte kann schiefgehen. Es gab eine Zeit, als die Menschen entschieden, nicht auf die Fakten, nicht auf die Vernunft zu hören, sondern auf extreme Ideologien zu setzen. Deshalb sollte jeder sich Mühe geben, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Auch wenn es manchmal schmerzvoll, ja demütigend ist.“

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Ein erfolgreiches Neues Jahr!?

Das Jahr geht zu Ende. Wahlen stehen ins Haus. Dabei fragt man sich, ob die zur Wahl stehenden Parteien durchgängig den Ernst der geopolitischen Lage verstehen und verantwortlich agieren. Es gibt Stimmen, die den Eindruck erwecken als ob größere Teile der Wirtschaft verstanden haben, was ansteht. Der Umbau hat offensichtlich begonnen und wir müssen feststellen, dass wir darauf nicht vorbereitet sind. Es addieren sich die Folgen der Untätigkeit der letzten drei Jahrzehnte im Bereich der Infrastruktur mit einem energiebedingten Umbau der Wirtschaft, der uns geopolitisch plötzlich ein Tempo abverlangt, das die Mehrzahl unserer Politiker erst für die nächsten 20 Jahren erwartet haben (wenn überhaupt).

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Die zum Ausdruck gebrachte Ratlosigkeit der Politik drückt sich in einem Hin und Her aus: es werden Jahrzehnte alte Konzepte ausgegraben (z.B. Atomenergie) oder es soll der Neoliberalismus forciert werden, der auf Annahmen beruht, die eher religiös denn wissenschaftlich hinreichend begründbar sind. Der Neoliberalismus hat seine Schwächen in den vielen Krisen der letzten Jahre bewiesen. Der Markt soll es richten, aber ein funktionierender Markt braucht eine intakte Infrastruktur und klare Regulierungen, die in Zeiten des Umbaus Leitlinien für die Wirtschaft bereitstellen.

Wer glaubt denn, dass die großen Technologieumbrüche in den letzten zweihundert Jahren ohne eine massive staatliche Unterstützung erfolgt wären? Die wirtschaftlichen Risiken solcher Umbrüche werden von der Privatwirtschaft nicht übernommen. Die Kurzfristigkeit des ökonomischen Denkens braucht hier politisch längerfristige Unterstützung. Aber – wie viele Wahlperioden muss diese staatliche Unterstützung anhalten, um nachhaltig zu wirken? Das ist mit vier oder fünf Jahren nicht getan. Welcher Politiker traut sich, über diesen Zeitraum hinaus die Weichen zu stellen? Ist sich die Politik in diesen Grundfragen soweit einig, dass auch nach einem Regierungswechsel diese grundlegenden Entwicklungslinien eines Wirtschaftsumbaus künftig sinnvoll fortgesetzt werden können? Oder fangen wir alle vier bis fünf Jahre wieder mit der Diskussion von vorne an?

Und es ist wichtig!: Gehen Sie bitte wählen und wählen Sie mit Bedacht und Verstand. Und misstrauen Sie den einfachen Scheinlösungen, die uns die Parteien des Rechts Außen präsentieren wollen.

Ein frohes gesundes Neues Jahr!

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Bürokratieabbau – aber wie?

Die Kettensäge sollte man in einem prinzipiell funktionierenden, aber komplexen Staatsgefüge zuhause lassen. Argentinien hat komplett andere Problemlage als die USA oder Europa. Ebenso scheint Elon Musk nur bedingt für den Job zu taugen, für den Trump ihn „gebrauchen“ will. Musk ist ohne Zweifel ein Macher, aber ob er die filigranen Zusammenhänge einer bestehenden Struktur durchschaut und sinnvoll verändern kann, bleibt abzuwarten.

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Musk erscheint als Manager eher der Typ zu sein, der Bestehendes nicht geschickt korrigiert, sondern der gerne den einfacheren Weg des „Bulldozers“ nimmt: platt machen und dann insbesondere wieder mit viel Geld neu aufbauen. Klappt es, ist er der öffentlichen Bewunderung sicher, klappt es nicht, zieht er schnell weiter zu neuen Abenteuern. Es steht bei dieser Vorgehensweise viel auf dem Spiel. Das ganze System könnte aus den Fugen geraten und kollabieren. Und wir bewegen uns auf der Ebene von staatlichen Strukturen und nicht auf der Ebene von Unternehmen, bei denen ein solches Scheitern bitter, aber Teil des kapitalistischen Lebensrisiko ist. Und was viele Unternehmen nicht anerkennen wollen: Ohne eine funktionierende Infrastruktur fehlt die Geschäftsgrundlage unserer Wirtschaftsordnung und eine funktionierende Bürokratie ist wesentlicher Teil dieser Infrastruktur.

Also scheint es so einfach nicht zu funktionieren! Bürokratieabbau darf im ersten Schritt nicht bei der Bürokratie selbst ansetzen (bottom up), sondern muss dort ansetzen, wo die Grundregeln gemacht werden (top down), also bei den politischen Gremien.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass Gesetze nicht nur nach der sachlichen Notwendigkeit entwickelt werden. In einem zu schaffenden Gesetz wollen die unterschiedlichen politischen Strömungen ihre Ideologie wiederfinden und vergessen dabei oft die sachliche Schlichtheit des Grundproblems. Welches Gesetzesvorhaben ist nicht durch die Interessen der diversen Lobbyisten geprägt? Schauen Sie sich z.B. die Mieterschutzgesetzgebung an: Wenn Sie hier ihre Rechte wahrnehmen wollen, verlangt das Verfahren vom Mieter viele Kontakte, die er bespielen muss, um die Voraussetzungen zu schaffen, um in den Genuss der Vorteile des Gesetzes zu kommen. Die Mehrzahl der berechtigten Mieter gibt auf, sein Recht einzufordern. Und das ist oftmals der intendierte Zweck der Übung! Die Vermieterseite gibt vor, mitzuspielen, sorgt aber durch hohe Mitwirkungshürden für den betroffenen Mieter, so dass das Gesetz möglichst selten zur Anwendung kommt.

Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen, hat in einer Stammtischsendung des BR ein Beispiel gebracht: Seit dem Jahr 2000 haben sich die Bauvorschriften grob gesprochen vervierfacht und er fragt sich zu Recht, ob sich dadurch die Bauqualität im vergleichbaren Maße verbessert habe? Dabei muss man wissen, dass im deutschen Föderalismus jedes Land seine eigenen Bauvorschriften herausgibt. Es gibt also 16 unterschiedliche Regelsätze für die Bauvorschriften. Das ist sachlich nicht nachvollziehbar.

In meiner aktiven Zeit habe ich öfters mit US-Managern zu tun gehabt und konnte immer wieder feststellen, dass die cleveren Damen und Herren immer dann. wenn es um Steuern ging, ihren ‚Drive‘ verloren. Da hörte plötzlich der übliche wirtschaftliche Interpretationsspielraum auf. Auf meine Rückfrage wurde ich aufgeklärt: Der US-Amerikaner (ebenso Unternehmen) erstellt die Steuererklärung auf eigene Verantwortung, d.h. die Steuererklärung wird von Amt wegen nur in wenigen Stichproben überprüft. Die US-Steuerverwaltung geht davon aus, dass der Steuerpflichtige ehrlich ist. Warum sind dann die US-Manager in Steuerfragen so vorsichtig? Ganz einfach: Die Steuerverwaltung vertraut der Erklärung des Steuerpflichtigen, schlägt aber ziemlich erbarmungslos zu, wenn sich hernach herausstellt, dass der US-Bürger (oder das Unternehmen) versucht hat, die Staatskasse vorsätzlich zu betrügen. Dabei sind die Strafen, die mir genannt wurden, existenzgefährdend, weil nicht die Schadenhöhe bewertet wird, sondern offensichtlich der Tatbestand des Betrugs an der Gesellschaft, also der Mangel an Ehrlichkeit. Ob das heute noch so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber das dahinter stehende Prinzip halte ich hinsichtlich eines Bürokratieabbaus für bedenkenswert.

Parallel gibt es einen Artikel in der SZ (Wolfgang Jantsch, 7./8.12.2024) der ähnliche Ansätze vertritt. Er fordert die Realisierung des Prinzips der Verantwortung und meint, in dem bürokratischen Verhalten der öffentlichen Verwaltung ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Bürger ausmachen zu können, was am Ende dazu führt, dass die Verwaltung mehr mit Kontrolle als mit der eigentlichen Problemlösung befasst ist.

Das von Jantsch postulierte „Prinzip Verantwortung“ würde davon ausgehen, dass im Grunde die Mehrzahl der Bürger an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Verwaltung interessiert ist und der Anteil, der sich hier verweigert, als klein zu bezeichnen ist. Niemand kann die Verweigerer verhindern, aber der krampfhafte Versuch der Verhinderung blockiert das Handeln der Bürokratie. Also leben wir lieber mit den Verweigerern und kehren das Positive heraus und lösen Probleme.

Das „Prinzip Verantwortung“ muss aber streitbar sein(siehe oben). Wer sich der Verantwortung als Bürger nicht stellt, muss mit dem Druck von Seiten der Rechtsprechung rechnen. Und der Druck muss beachtlich sein. Ehrlichkeit bzw. korrektes Verhalten muss sich dadurch lohnen, indem Bewegung in die öffentliche Bürokratie kommt. Es soll in anderen EU-Ländern öffentliche Verwaltungen geben, die nicht nur kontrollieren, sondern primär mit dem Bürgern und der Wirtschaft erfolgreich kooperieren.

Wenn wir von Bürokratie sprechen, sollten wir die kommerzielle Bürokratie nicht vergessen. Wer kennt nicht den Service kommerzieller Konzerne, der über Call-Center abgewickelt wird. Ein Service, der in der Regel nichts taugt, aber unter der Bezeichnung „Service“ läuft. Man kann Fragen dort abladen und erhält oft antrainierte Standardantworten, die aber das angesprochene Problem in der Mehrzahl der Fragen gar nicht lösen kann. Expertise sollte man dort nicht erwarten. Das Wort „Service“ wird dabei bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet.

Werden wir etwas abstrakter: Bürokratie kann man vergleichen mit einem Algorithmus. Ihre Effizienz und Präzision gewinnt die Bürokratie durch festgefügte wiederholbare Abläufe. In jeder Organisation gibt es nach herrschender Meinung ein bürokratisches „Herz“, das sicherstellen muss, dass gewisse Basisprozesse verlässlich immer gleich ablaufen. Die Umwelt dieser Organisation ist in aller Regel komplex. Und Komplexität ist sehr eng mit dem Begriff des Chaos verknüpft. Trifft die Komplexität der Umwelt ungefiltert auf das bürokratische „Herz“, versucht der bürokratische Organisationsteil oft vergeblich, sich der Komplexität anzupassen, wobei die Effizienz und die Präzision stark darunter leiden. Es braucht also einen Filter zwischen der komplexen Umwelt und dem bürokratischen „Herz“, dessen Aufgabe darin besteht, die Anforderungen einer komplexen Welt sinnvoll so zu kanalisieren, dass das bürokratische „Herz“ effizient und präzise seiner Aufgabe nachkommen kann. Diese Idee ist sicherlich mehr als 50 Jahre in der Diskussion, scheint sich aber in der Praxis bisher nur bedingt umsetzen zu lassen.

Hier wäre es m.E. denkbar, künftig mit künstlicher Intelligenz (KI) zumindest Teile der komplexen Einflüsse im Hinblick auf die Bürokratie zu kanalisieren. Dieser Eindruck drängt sich mir auf, weil ich mit der Telekom in Kontakt kam und eine sinnvollen Zugang für mein Problem suchte. Das Ergebnis war nicht befriedigend und recht zeitraubend. Aber KI soll ja auch besser werden können. Bis dahin ist der ‚face to face‘-Kontakt mit einer menschlichen Intelligenz unschlagbar schneller und erfolgreicher. Es kommt mir so vor, als ob Call-Centers weniger an den Problemen der Kunden interessiert sind, dafür aber jene Funktion einer hoffentlich sinnvollen Kanalisation von Komplexität für das „bürokratische Herz“ der Organisation übernehmen. Nur sollte man das nicht als „Kunden“-Service verkaufen, weil der Nutzen liegt doch eindeutig bei der Unternehmung.

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Konferenzen, Konferenzen…

Erst geht es in Baku um die Finanzierung von absehbaren Umweltschäden, nun in Südkorea um den Plastikmüll, ein nächster „wichtiger“ Termin ist absehbar und immer wird von Neuem erzählt, wie erfolgreich die jeweilige Konferenz war. Nur, konkret geschieht nichts und das ist frustrierend. Wie viel Nachsicht und Geduld sollen wir als Bürger noch aufbringen, dass es auf diesem Planeten Menschen, Organisationen, Nationen gibt, denen ihr persönlicher Geldbeutel so viel bedeutet, dass diesen Einrichtungen das Schicksal ihrer eigenen Spezies gleichgültig ist.

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Vor etwa fünf oder sechs Jahren, so meine Erinnerung, stand das Thema Plastikmüll in Deutschland schon mal auf der Agenda und die damaligen politischen Vertreter waren sich nicht zu schade, dieses Problem einfach dem Verbraucher in die Schuhe zu schieben, weil der Begriff „Verbraucher“ suggeriert, als ob hinter dieser Institution eine ‚Macht‘ stünde, etwas zu ändern. Dass die Mehrzahl der Verbraucher gezielt über einen falschen Freiheitsbegriff individualisiert und von Marketing und Werbung vor sich hergetrieben werden, wird geflissentlich übersehen.

Man folgt der Ideologie der Freiheit, indem man unterstellt, dass sich Verbraucher mehrheitlich frei entscheiden können. Das „Können“ will ich gerne akzeptieren, aber ob sie es auch angesichts der penetranten Einflussnahme von Marketing und Werbung durchsetzen können, bleibt offen. Würde die Wirtschaft Milliarden Euro in diese Maßnahmen stecken, wenn sie nicht nachweislich erfolgreich wären? Und da schließt sich der Kreis und es wird hoffentlich jedem Leser deutlich, dass diese ‚freiheitliche‘ Argumentation falsch und absolut unredlich ist.

Diese Fehler in der Argumentation hat man inzwischen erkannt, nur in neoliberalen Kreisen wehrt man sich vehement dagegen, weil dann zugegeben werden müsste, dass der Markt diesbezüglich zu regulieren sei. Das wäre ein Sünde wider dem Neoliberalismus. Die Konferenz in Südkorea hat diesen Punkt m.W. schon längst abgehakt: Es geht darum, die Produktion von immer neuem Plastik zu unterbinden bzw. erheblich einzuschränken.

Das ist aber nur der Teil des Problems, der dazu beiträgt, dass das Anwachsen der Plastikmüllberge gegen Null geführt wird. Der andere Teil der Herausforderung ist die Frage, was macht die Welt mit dem Gebirge (weil der Begriff ‚Berge‘ zu niedlich ist) von Plastikmüll, die heute schon existieren und dort aufpoppen, wo sie mehrheitlich nicht produziert werden. ‚Einsammeln‘ ist so eine laienhafte Reaktion, die wir im Kleinen aus jeder Säuberungsaktion unserer Umwelt kennen.

Und jeder kennt das befriedigende Gefühl, wenn ein Streifen Natur wieder ursprünglich und vordergründig müllfrei aussieht. Der gesammelte Müll wird dann in einer Größenordnung von 10 oder 20 Säcken dankenswerter Weise von der Stadtverwaltung entfernt (aus den Augen, aus dem Sinn). Das Problem ist aber nicht gelöst, nur verschoben.

Weltweit liegen viele Millionen Tonnen Müll in der „Landschaft“ (Meer, Flüsse inbegriffen), der größte Teil besteht aus Plastik. Plastik ist kein organischer Stoff, er löst sich zwar über die Zeit kleinteilig auf (Mikroplastik), aber eine Absorption in den natürlichen Kreislauf gibt es dort auf absehbare Zeit nicht. Also muss das Plastik eingesammelt werden, um es wieder aus der Biosphäre zu entfernen.

Wenn die Menschheit diese Aufgabe bewältigen will, muss sichergestellt sein, dass nicht vorne weggeräumt und hinten lustig weiterproduziert wird. Die Produktion muss nicht komplett untersagt werden, aber die verbleibende Produktionsmenge muss deutlich reduziert und strikt überwacht werden.

Wie müssen wir uns das vorstellen? Wer sammelt ein und wer trägt die Kosten? Was ist mit der Logistik – wo werden die nationalen Müllberge denn aufgeschichtet? Wer will denn da wohnen und leben in Zeiten, in denen die Unwetter an Stärke nachweislich zunehmen? Was ist, wenn der Müllberg im Starkregen anfängt wegzuschwimmen.Wenn ich da an das Polit-Theater mit den „Spargeln“ im Zusammenhang mit der Windkraft denke, oder an die Diskussion über das atomare Endlager, dann wird die Logistik zu einem nahezu unüberwindbaren Problem.

Dann werden die reichen Länder das Problem möglicherweise so lösen, wie viele dieser Länder in der Asylfrage agieren wollen: wir verschieben den Plastikmüll in die ‚armen‘ Länder, die sich nicht ausreichend wehren können und zahlen für diesen schmutzigen Deal. Wenn wir dann genug gesammelt und aufgeschichtet haben, so dass der Plastikmüll vordergründig in der Biosphäre kein offensichtliches (öffentliches) Problem mehr darstellt, kommt die nächste Frage: Was machen wir mit den hoffentlich geordnet kartographierten Müllbergen? Recyclen oder gibt es eine Alternative?!

Was heißt das konkret? Es gibt das technische Recyceln mit dem Anspruch, den Plastikmüll zumindest teilweise aufzuarbeiten, um es einer Wiederverwendung zuzuführen und alternativ die thermische Variante – es wird verbrannt! Plastikmüll lässt sich m.W. nur in einem relativ geringen Umfang technisch wieder aufarbeiten. Die Aufarbeitung verbraucht viel Energie und macht dadurch das recycelte Plastik teuer im Vergleich zum Ausgangsprodukt der Erstverwendung.

Wenn ich die Fakten richtig verstanden habe, so bleibt für einen großen Anteil des erfassten Plastikmülls nur die sogenannte thermische Entsorgung, wenn man die Erwartung hat, dass der Müll von der Erdoberfläche verschwinden soll. Bei der thermischen Entsorgung bleibt m.W. aber das Problem, dass der physische Müll zwar weitgehend verschwindet, aber bei der Verbrennung CO2 entsteht, das als überaus kritisch für den Klimawandel angesehen wird. Man kann es auch umdrehen: Der Plastikmüll übernimmt hier in fataler Weise die ähnliche Funktion wie z.B. ein hinreichend gesunder Wald; er ist in gewisser Weise ein CO2-Speicher und aufgrund der unvorstellbar großen Menge ist auch die darin gebundene Menge CO2 gewaltig. Die thermische Entsorgung würde m.E. weltweit unsere Ziele einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes über Jahrzehnte hinaus ad absurdum führen.

Wenn wir thermische Entsorgung im oben genannten Sinne betreiben wollen, müssen wir relativ kurzfristig und aufgrund der vorhandenen Menge an Plastikmüll gewaltige Entsorgungseinrichtungen (mit einer ebenfalls schlechten CO2-Bilanz) aus dem Boden stampfen, damit wir innerhalb von ca. 10 Jahren den vorhandenen globalen Plastikmüll aufarbeiten können. Da wir davon ausgehen, dass neuer Plastikmüll durch Regulierung nur noch in geringem Umfang entsteht, werden wir dann nach Ende der Maßnahme global über eine Überkapazität an Plastikentsorgungsunternehmen verfügen, die hohe Leerkosten produzieren. Die Leerkosten der Überkapazitäten können dann wieder mit den Abbruchkosten ins Verhältnis gesetzt werden, um zu entscheiden, was man mit den Kapazitäten machen soll.

Wenn die hier geäußerten Annahmen der Realität entsprechen, kann man die Problemstellung als überaus ungünstig klassifizieren:

Einer Regulierung der Plastikproduktion stehen große finanzielle Interessen entgegen. Aber eine weitere Zunahme des Plastikmüll-Gebirges kann auch nicht im Interesse der Chemischen Industrie sein.

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Demokratie und eine polarisierte Gesellschaft

Die politische Situation im November 2024 ist undurchsichtig und die weitere Entwicklung weder absehbar noch hinreichend sicher überschaubar. Die Zahl der publizierten guten Beitrage ist erfreulich groß. Ich habe beschlossen, einen meiner etwas älteren Beitrag nochmals aufzugreifen. Er passt ganz gut in die Situation:

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In der Theorie der Demokratie kommt Polarisierung gar nicht vor. Demokratie wird uns als Ideal verkauft. Die Wirklichkeit mit ihren Unzulänglichkeiten kommt darin nicht vor. Die Demokratie kennt Meinungsverschiedenheiten, die sie als solche toleriert und braucht, um aus der Vielfalt der Meinungen eine Haltung zu entwickeln, die das gemeinsame politische Handeln stützt. Demokratie braucht deshalb einen Grundkonsens, wie mit Auffassungen und Meinungen umzugehen ist. Unsere Verfassung hat dabei vor über 70 Jahren das Schwergewicht der Konsensbildung den Parteien übertragen.

Wenn wir heute von einer polarisierten Gesellschaft sprechen müssen, so haben offensichtlich die Parteien diese Konsensbildungsfunktion nicht oder zumindest ungenügend wahrgenommen. Den Grund könnte man in der Struktur der Parteien suchen. Haben sich die Parteien so verändert, dass sie diese Aufgabe nicht (mehr) adäquat wahrnehmen können? Oder: Die Entwicklung der Parteien ist stehen geblieben und die Umstände haben sich so verändert, dass die Parteien damit überfordert sind. Oder: Die Erwartung vieler Wähler hat sich stark gewandelt und die Parteien haben darauf (bisher) keine adäquate Antwort gefunden. Das, was die Parteien bewegt, trifft offensichtlich nicht die Erwartungen eines immer größeren Teils des ‚Wahlvolkes‘.

Durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft rückte die Idee der Gesellschaft und Solidarität leider in den Hintergrund. Der Neoliberalismus kennt lt. Margret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Ein solch gravierendes Missverständnis befeuert die Polarisierung; jeder (der es sich leisten kann!) glaubt sich auf einer Insel und meint seine sogenannten „Freiheits“-Ansprüche ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft durchsetzen zu können. Und eine große Zahl von denen, die es sich nicht leisten können, die also auf eine solidarische Gesellschaft angewiesen wären, steigt aus: Nicht mit mir!

Man sollte ein paar Beobachtungen heranziehen, um die hier vertretene Auffassung zu begründen und verständlich zu machen. In unserer Parteienlandschaft verfügte die SPD einmal über die meisten Mitglieder (deutlich über eine Million), heute hat sie noch knapp die Hälfte. Deutliche Schrumpfungsprozesse weisen auch die anderen Volksparteien auf. Der FDP sind Teile ihrer konservativsten Wähler zur AFD abgewandert; die AFD ist zerstritten und mit sich selbst beschäftigt. Die FDP, so meine Wahrnehmung, hat es aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, sie ist eine Klientelpartei geworden, die außer ihrer Klientel keine Bürger vertreten will. Die Linken hatten für ein paar Jahre zunehmende Mitgliederzahlen, verlieren gegenwärtig bis zur Bedeutungslosigkeit. Die Gründe sind sicher vielfältig und teilweise selbstgemacht. Aber man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass das Interesse des ‚Wahlvolkes“ am politischen Geschehen zumindest ein Stück weit verloren gegangen ist.

Die Wahlbeteiligung ist erschreckend niedrig. Was ist mit den 30 – 40 Prozent unserer Gesellschaft, die wählen dürfen. aber regelmäßig nicht zur Wahl gehen? Dieses Verhalten als schlichtes Desinteresse zu geißeln, trifft nicht den Kern. Das politische Interesse wäre m.E. schon vorhanden, aber die bestehenden Strukturen stoßen viele ab, sich aktiv oder passiv einzumischen. Mit ‚aktiv‘ ist ein Sich-Einbringen gemeint und ‚passiv‘ bedeutet, sich zu einer Wahl aufstellen zu lassen.

Wenn wir das Ergebnis der Wahlen in den letzten Jahren anschauen, so könnte man zu der Auffassung gelangen, dass hier einige Problemstellungen in die gleiche Richtung laufen. Die Parlamentszusammensetzung weist 80 Prozent Akademiker auf. Der Anteil der Akademiker in der Bevölkerung liegt bei etwa 20 Prozent. Frauen, Selbstständige und Handwerker (u.a.m.) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. Es gibt noch viele weitere Gesichtspunkte, in denen das Parlament in keiner Weise als „repräsentativ“ verstanden werden könnte. Um es kurz zu machen: Könnte es sein, dass viele Nichtwähler glauben, „dass es auf sie sowieso nicht ankommt“1. Verena F. Hasel2 zitiert eine Bertelmann Studie, die zu dem Ergebnis kommt, „dass es in den Stimmbezirken, die bei der Bundestagswahl 2017 die niedrigste Beteiligung zu verzeichnen hatten, 70 Prozent mehr Menschen ohne Schulabschluss und 50 Prozent mehr Haushalte aus dem unteren Milieu gab als in denen, wo besonders viele Menschen zur Wahl gegangen waren. Damit, so heißt es in der Untersuchung, sei das Resultat der Bundestagswahl ‚sozial nicht repräsentativ‘. (…) Wären Nichtwähler eine Partei, so hätten sie in der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt“.

Wir leisten uns das, was Richard D. Precht3 eine Konkurrenzdemokratie nennt. Kooperation unter den Parteien entsteht nur und ganz begrenzt in Zwangssituationen. Und selbst da herrschen immer ein zelebrierter Auseinandersetzungsmodus und der Versuch der Abgrenzung. Anstatt zwischen den Wahlen zum „Wohle des Volkes“ eine ruhigere Gangart einzulegen, geht der „Krieg“ oft unterschwellig weiter. Ist das die Natur der Demokratie oder ist dieses Verhalten einfach nur Krampf? Wir, das Wahlvolk; bekommen Schaukämpfe vorgeführt, die inhaltlich keinen Mehrwert haben. Aber die Parteien möchten uns glauben lassen, dass dieses Verhalten normal und alternativlos sei (Darstellungspolitik vs. Entscheidungspolitik).

Parlamentarier kennen sich oft seit vielen Jahren und schätzen sich u.U. persönlich und natürlich jenseits der Öffentlichkeit. Sie spielen uns dann regelmäßig ein „Affentheater“ vor, bei dem man selten den Eindruck gewinnt, es geht wirklich um die Sache.

Die Schweiz hat ihre Form der Demokratie anders gelöst. Man spricht dort von Konkordanz-demokratie4. Verkürzt ausgedrückt gilt: Wenn das Wahlvolk „entschieden“ hat, ist eine Allparteienregierung zu schaffen, wobei das Mitspracherecht der Parteien in den sieben Ministerien umfassenden Regierung entsprechend der auf sie entfallenden Wählerstimmen geregelt ist. Alle Parteien arbeiten nach bestem Wissen gemeinsam für die Regierung der Eidgenossen. Sollten sie sich mehrheitlich nicht einigen können, schwebt über allem das Damokles-Schwert der direkten Demokratie. Ist eine Wahlperiode zu Ende, lebt der Konkurrenzmodus auf und jede Partei hat die Möglichkeit, sich im besten Lichte darzustellen und um Stimmen zu kämpfen. Der Konkurrenzmodus endet wieder mit dem Entscheid der Wahl. Diese Form der Konkordanzdemokratie gilt in der Schweiz seit rd. 500 Jahren und scheint recht erfolgreich zu sein.

Kommen wir zu den Alternativen, wie wir unsere Demokratie ergänzen und verbessern können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie können wir die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und in den Prozess eingliedern:

Der gegenwärtige Fraktionszwang, den m.W. alle Fraktionen des Bundes- und der Landtage nutzen, wird viel zu selten aufgehoben. Ich sehe einen Lösungsansatz darin, dass der Fraktionszwang grundsätzlich entfällt. Wenn er bei wichtigen Fragen zur Anwendung kommen soll, muss er begründet, beantragt und von der einfachen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten befürwortet werden. Der Fraktionszwang wird damit begründet, dass die demokratische Willensbildung angeblich in den Parteien und Fraktionen erfolgen würde. Die Vorgänge aber sind nicht öffentlich und manche gute Ideen werden dort still und heimlich dem Machtstreben der Partei geopfert. Was es dann ins Plenum schafft, hat seine Ursprünglichkeit, Kreativität und Unschuld verloren. Vielfalt der Ideen wird tendenziell auf Einfalt (auf den Machtgesichtspunkt) reduziert!

Die Schweiz, so kommt es mir vor, nutzt das in der Verfassung vorgesehene Plebiszit als Drohkulisse, um allzu widerspenstige ParlamentariererInnen zur Kooperation zu bewegen. Bei der Durchführung eines Plebiszits können alle Parteien verlieren, sowohl an Stimmen und auch an ‚Reputation‘, also ist es wirklich nur das letzte Mittel. Das ist eine ganz andere Situation als in der Konkurrenzdemokratie, bei der Kooperation durch (möglicherweise unsinnige) Zugeständnisse wie auf dem Basar erkauft werden muss (Beispiel: Tempolimit).

Betrachten wir die Tatsache, dass 30 bis 40 Prozent unseres Wählerpotenzials überhaupt nicht politisch in Erscheinung treten. Sie wählen nicht und weil sie nicht wählen, haben auch die Parteien kein so rechtes Interesse deren Wünsche und Belange aufzugreifen. Das sagen sie natürlich nicht, das wäre schlicht Dummheit. Also betreiben sie diesbezüglich Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse, beides kostet wenig bis nichts. Wenn wir uns aber die Entwicklungen bei Corona oder bei empörungsrelevanten Sachverhalten ansehen, diese Bevölkerungsteile sind nicht stumm und tumb, sondern es besteht die Gefahr, dass aus solchen Kreisen plötzlich „Wutbürger“ werden, um den plakativen Begriff aufzunehmen. Konkret heißt das, dass dieses Potenzial durchaus ansprechbar ist. Und es rumort in diesen Kreisen, weil sie sich als abgehängt empfinden. Die Parteien und das Parlament sind von einer völlig anderen Bevölkerungsgruppe okkupiert und die Parteien haben offensichtlich jede Verbindung zu diesen Nichwählerschichten verloren.

Diese Situation müssen wir dringend ändern! Die Erwartung, dass sich die eingefahrenen Prozesse der Parteien ohne Druck ändern, ist eine Illusion. Wir müssen diesen 30 – 40 Prozent Abgehängten einen Weg direkter Demokratie eröffnen, der ggfs. außerhalb des gegenwärtigen Grundgesetzes liegt. Es muss etwas Neues sein. Und es muss so gestaltet sein, dass auch die Parteien sachlich so in Bedrängnis geraten, dass sie sich mittelfristig dieser Klientel zuwenden.

Es gibt Ansätze direkter Demokratie in den unterschiedlichsten Formen: den Bürgerrat, das Volksbegehren oder den Bürgerentscheid (auf allen politischen Ebenen mit niedrigen Durchführungsbarrieren), die Planzelle des Peter Dienel (das ‚deliberative‘ Partizipationsmodell) und ähnliche Verfahren, die außerhalb der eingefahrenen politischen Strukturen laufen und weltweit schon viel hundertfach erfolgreich angewendet werden. Man hat leider in Deutschland mit der griffigen Überschrift „Losen statt Wählen“ der dahinter stehenden Idee keinen Gefallen getan. Das Losen steht in zu engem Zusammenhang mit dem Glückspiel und weist in die komplett falsche Richtung. In der Schweiz gibt es eine öffentliche Verwaltungsstelle, die plebiszitären Bestrebungen neutral mit Rat und Tat zur Seite steht und gleichzeitig auf die Einhaltung einer gewissen Mindestform und Vorgehensweise Einfluss nehmen kann.

Immer dann, wenn wir eine kleine, aber repräsentative Gruppe Bürger zusammenstellen wollen, in der jede Gesellschaftsschicht unserer Republik eine reelle Chance hat, vertreten zu werden, so bildet man eine statistisch repräsentative Stichprobe, indem zufällig ausgewählte Bürger aller Schichten angesprochen werden, ob sie (freiwillig) Teil des Prozesses werden wollen. Ziel ist es, in dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Bereiche repräsentativ abbilden zu können.

Die freiwilligen Teilnehmer werden zu einem persönlichen Treffen eingeladen, erhalten dort eine umfassend fundierte und neutrale Einführung in die aktuelle Problemstellung, Sie treffen sich dann in wechselnden Gruppen, um vorher definierte Fragen in freiem Gedankenaustausch (Deliberation) zu diskutieren. Für diese Aufgabe wird auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Das Ergebnis der Diskussion wird mit professioneller Unterstützung zusammengefasst und ist eine Vorlage für die Politik, die darauf reagieren muss(!). In einem anderen Zusammenhang habe ich ausgeführt, dass auf diese Weise dem Bürger, der gewöhnlich über keine Lobby verfügt, ein Einfluss möglich wird, der dem Lobbyismus der Wirtschaft Paroli bieten kann. Da das Parlament bzw. die Politik gezwungen wird, darauf zu reagieren, wäre das ein starkes Instrument und ein wirksames Gegengewicht zum unvermeidlichen, aber lästigen Lobbyismus der Wirtschaft. Wichtig ist dabei, dass über das Ergebnis in den Medien detailliert berichtet wird, um jenen 30 – 40 Prozent zu zeigen, dass auch ihre Problemstellungen Eingang in die Diskussionen findet.
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1 V. F. Hasel, Wir wollen mehr als nur wählen, DTV 34968, 2019, S. 28
2 Eda. S. 28
3 David Richard Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, S. 468f.
4 Vgl. V.F. Hasel, a.a.O., S. 55, oder David Richard Precht, a.a.O. S.468f.

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Die Transformation gelingt!?

Unter der Überschrift “Die Klimatransformation wird gelingen“ fasst die SZ am 24.10.2024 optimistisch das Ergebnis des Interviews mit Susan Solomon zusammen. Dabei könnte man der Auffassung sein, dass die Aussage eine Selbstverständlichkeit ausdrückt. Entscheidend wird der Punkt sein, auf welchem Niveau die Menschheit dann noch Teil des Transformationsprozesses sein wird?

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Als vor gut fünfzig Jahren die ersten Mahner zur Klimakrise auftraten, war ihr Bemühen darauf gerichtet, Lösungen zu finden, die den anstehenden Transformationsprozess so gestalten, dass die dabei auftretenden Kollateralschäden aus humaner Perspektive so gering als möglich ausfallen. Der Prozess sollte „by design“ gestaltet werden, d.h. der Prozess sollte kontrolliert hinsichtlich der betroffenen Bevölkerungsteile ablaufen. Das zu vermeidende Gegenstück wurde unter dem Begriff „by desaster“ diskutiert. Letztere Vorstellung war von der Sicht geprägt, dass die Entwicklung unkontrolliert, dann auch von der menschlichen Perspektive her als unsteuerbar gilt und katastrophale Folgen für große Teile der Weltbevölkerung nicht ausgeschlossen werden können.

Der Design – Ansatz droht nun zu scheitern, weil große Bevölkerungsteile der nördlichen Hemisphäre die Herausforderung nicht erkennen wollen und deshalb sich jeder Veränderung gegenüber sperren. Es kommt die alte Managementerkenntnis zum Zuge: Es ist schwer, jemanden von einer Lösung zu überzeugen, wenn der Jemand sein Geld damit verdient, dass er die Lösung ignoriert. Dabei rinnt uns die Zeit durch die Finger, die wir für eine angemessene Lösung benötigen.

Wie kann man dann behaupten, dass die Klimatransformation gelingen wird? Das ist eine Frage der Perspektive. Unser Planet existiert seit etwa vier Mrd. Jahren und hat gute Aussichten auf einen Bestand für weitere vier Mrd. Jahre. Mit anderen Worten, der Planet wird ausreichend Zeit haben, um sich von der bis jetzt etwa 250 Jahre dauernden technologischen Penetration der Biosphäre durch die Spezies Mensch wieder zu erholen. So gesehen ist die Aussage, dass die Klimatransformation gelingt, prinzipiell eine Selbstverständlichkeit.

Die entscheidende Frage ist doch: gibt es dann noch adäquates menschliches Leben auf der Erde? Wenn die Erwärmung weiter steigt, die Unwetter weiter an Anzahl und Heftigkeit zunehmen, nimmt der Planet in seiner Grundstruktur wohl keinen nennenswerten Schaden. Am Ende wird es eben keine 8 Mrd. Menschen mehr auf diesem Planeten geben, sondern vielleicht nur noch 3 Mrd. Menschen mit der Folge, dass die Klimakrise dann kein Problem mehr darstellt. Das könnte eine mögliche, grobe Beschreibung des „Desaster-Szenarios“ darstellen. Damit wäre der Biosphäre die Klimatransformation auf Kosten der Spezies Mensch gelungen! Aber die Konsequenzen für die Menschheit und die Zahl der möglichen Opfer wären dramatisch.

Susan Solomon hat die Trägheit der Masse Mensch richtig angesprochen. Sie meint, die Trägheit der Bevölkerung hinsichtlich des Klimawandels ließe sich erst dann überwinden, wenn eine „personal perception“ (eine persönliche Wahrnehmung und damit Betroffenheit) zum Tragen kommt. Im Klartext heißt das, dass wir warten, bis das „Desaster – Szenario“ bei einer Mehrheit der Bevölkerung konkret angekommen ist, der Problemdruck und die Verunsicherung so groß geworden sind, dass die Menschen aus ihrer Komfortecke hochgeschreckt werden und zum Handeln (zur „Praxis“) kommen. Die Erwartung, dass dann noch ein koordiniertes, überlegtes Handeln sich durchsetzen kann, erscheint wenig wahrscheinlich, weil es absehbar keine Instanz gibt, die auf diese Aufgabe vorbereitet ist und sie zielorientiert übernehmen kann. In Deutschland bräuchte es dazu einen Konsens, welche Maßnahmen Priorität haben und welche Maßnahmen eher in die zweite oder dritte Reihe zurücktreten sollten. Auch dieser Konsens erscheint nur schwer erzielbar und er braucht vor allem Zeit, die wir dann nicht haben.

Solange man den Weg des „Designs“ verfolgt, verfügt man i.d.R. über eine ganze Reihe von Handlungsoptionen, wie man der anstehenden Problematik Herr werden könnte, ohne das „Desaster-Szenario“ realisieren zu müssen. Aber mit Eintritt des „Desasters“ verlieren wir mit größer Wahrscheinlichkeit die Kontrolle über das Geschehen, weil jede(r) Betroffene nach dem Prinzip handelt, rette sich wer kann. Das Chaos ist vorhersehhbar. Die vernunftgesteuerten Maßnahmen, die der Design-Ansatz möglich gemacht hätten, sind im Falle des Desaster-Szenarios hinfällig, wenn aufgrund des hohen unmittelbaren Problemdrucks unkoordiniert und punktuell gehandelt wird. Wir haben zwar im Desaster-Szenario anders als im Design eine große Bereitschaft der Bevölkerung zu handeln, verlieren aber jede Chance, die Handlungen sinnvoll koordiniert und zielgerichtet durchführen zu können.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die Akzeptanz der möglichen Folgen des Desasters konkret Menschenleben in Gefahr sind oder verloren gehen. Diese schockartige Erfahrung wird bei vielen Betroffenen völlige Kopflosigkeit auslösen. Das könnte die negativen Einflüsse des Desasters noch verstärken und politisch zu Entwicklungen führen, die heute in keiner Weise absehbar sind.

Alles, was bis hierher als möglich oder wahrscheinlich dargestellt wurde, ist an die Eintrittswahrscheinlichkeit des „Desaster-Szenarios“ gebunden. Insofern komme ich zu der Einschätzung, dass es gute Gründe gibt, sich weiterhin gezielt für einen „Design-Ansatz“ einzusetzen, weil die Folgen aus dem „Desaster-Szenario“ unabsehbar für die Menschheit wird. Der scheinbare Optimismus von Frau Solomon führt ins Desaster und taugt als solcher nicht. Dann besser die optimistische Haltung, dass eine Mehrzahl in der Bevölkerung sich trotz aller Unzulänglichkeiten für den Weg des „Design-Ansatzes“ entschließen wird, die notwendigen Konsequenzen anerkennt, danach handelt und ihre Kuschelecke aufgibt, um an der Transformation unterstützend mitzuarbeiten.

Das „Desaster-Szenario“ braucht keine Maßnahmen, sondern nur ein „Weiter so“ der Menschheit und noch ein wenig Zeit, bis es die volle Wucht seiner Zerstörung erreicht hat. Das ist wohl eindeutig die schlechtere Lösung. Also bleiben wir in diesem Sinne für einen „Design-Ansatz“ optimistisch, wenn auch mit großen Vorbehalten.

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Freiheit – mal anders

Als Grundsatz soll unverändert gelten: Die Freiheit eines Individuums endet dort, wo die Freiheit des nächsten beginnt. Dabei wird bewusst von einem Individuum gesprochen und nicht vom Menschen oder Bürger, weil wir gewohnt sind, Freiheit nur aus einer anthropozentrischen Haltung zu beurteilen. Diese Haltung möchte ich in Frage stellen.

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Mein Ausgangspunkt ist die Biosphäre. Dieser Begriff ist in etwa gleichbedeutend mit „Natur“. Aber „Natur“ ist vielfach durch emotionale Kategorien überfrachtet, weshalb ich den Begriff der Biosphäre vorziehe. Die Biosphäre ist die Grundlage allen Lebens, also auch der Menschen und aller ihrer sozialen Konstruktionen. Die Mitwelt1 ist von der Erhaltung einer gedeihlichen Biosphäre abhängig.

Wo kommt die Biosphäre her und wie lässt sich sich zweckmäßig beschreiben? Die Biosphäre, wie wir sie wahrnehmen, ist das Ergebnis einer sehr langen Evolution und die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Entwicklungspfad auf einem Planeten des bekannten Kosmos wiederholt, wird als sehr gering eingeschätzt. Dabei ist einfaches Leben vermutlich auch unter schlechteren Bedingungen denkbar, aber intelligentes Leben, wie wir es auf unserem Planeten heute vorfinden, ist ziemlich einzigartig.

Wenn wir die Biosphäre beschreiben wollen, so gibt es in der Vergangenheit verschiedene Darstellungen, die in der Regel einen religiösen Ursprung haben und sich auf übernatürliche Kräfte beziehen. Das kann nicht mein Ansatz sein.

Für meine Zwecke erscheint es sinnvoller, die Biosphäre unter systemtheoretischen Aspekten mit einem dynamischen, komplexen, sich selbstregulierenden System zu vergleichen. Der dynamische Aspekt kommt dadurch zum Ausdruck, dass dieses System alles unternimmt, um die (Über-)Lebensfunktion des Systems zu erhalten. Komplex ist das System, weil es über Jahrtausende entwickelt wurde und inzwischen eine unglaubliche Vielfalt von Verhaltensformen hervorbringt, akzeptiert und oft auch toleriert. Die Selbststeuerung ist eine Folge der hohen Komplexität; wenn dem System eine Schieflage droht, so ist es innerhalb eines beachtlich weiten Toleranzbereiches selbst in der Lage, dieser Schieflage zu begegnen und im Sinne der Lebenserhaltung Maßnahmen zu ergreifen, die die Schieflage abwenden können. Reicht der Toleranzbereich nicht aus, die Schieflage zu beseitigen, können Subsysteme, die sich als dysfunktional erwiesen haben, „abgestoßen“ oder aufgelöst werden. Die Elemente der betroffenen Subsysteme haben u.U. eine Chance, sich einem anderen funktionalen Subsystem der Biosphäre anzugliedern oder werden aus der Biosphäre ausgeschlossen, die Funktion des betreffenden Subsystems wird damit endet.

Das System reagiert auf einen „Angriff“ auf seine Überlebensfunktion nicht durch rechtliche Schritte oder Schuldzuweisungen,oder gar „Krieg“, wie wir es unter humanen Gemeinschaften allzu oft erkennen müssen. Das System nutzt seine hohe Komplexität, und versucht im Rahmen seines Toleranzbereiches geschmeidig dem Angriff auszuweichen und entwickelt in seiner Struktur Gegenstrategien, um das System in seiner Funktion zu erhalten und zu stabilisieren. Um konkret zu werden: die Menschheit steigert durch den fortwährenden, überhöhten CO2-Ausstoss die Erwärmung des Planeten. Die Antwort des Systems ist keine direkte Reaktion, sondern sie liegt darin, dass das System versucht z.B. global einen Ausgleich durch heftige Klimaveränderungen zu schaffen. Dabei bleibt die Befindlichkeit der Spezies Mensch aber vollkommen unbeachtet. Das System ist nicht menschengemacht und damit auch nicht anthropozentrisch ausgerichtet. Die Biosphäre folgt bei der Antwort auf den „Angriff“ funktional den vielfältigen Möglichkeiten, die ihr die Komplexität des Systems seit Jahrtausenden bereit stellt.

Was ist nun mit der Freiheit? Wenn wir anerkennen, dass eine intakte Biosphäre für unser Leben in den letzten ca. einhundert Jahren Schritt für Schritt immer unverzichtbarer wird, so müssen wir, ob wir wollen oder nicht, die ungeschriebenen Regeln der Biosphäre berücksichtigen. Oder anders ausgedrückt: Das System der Biosphäre ist eine lebenswichtige Institution, die nur dann ihren Überlebensbeitrag leisten kann, wenn wir ihr angemessenen Raum zu ihrer Entfaltung lassen. Die einfachste Lösung läge darin, dass wir die Biosphäre als eine lebenswichtige Institution auf Augenhöhe anerkennen und ihr einen naturgegebenen Anspruch auf ein „freie“ Entwicklung zubilligen. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die funktionsnotwendige Freiheit des Systems Biosphäre als Grundlage unseres Lebens beginnt.

Dazu sollten wir uns die Entwicklung in den letzten 300 Jahren vor Augen führen: vor ca. 300 Jahren wurden die ersten technologischen Erfindungen gemacht, die den Menschen in die Lage versetzten, erstmals in deutlichem Umfang Einfluss auf die Entwicklung des Planeten zu nehmen. Vor 300 Jahren war die Welt aber nur mit ca. 300 Mio. Menschen bevölkert. Die Menschen waren bis dahin Teil der Biosphäre ohne Einfluss auf deren Entwicklung oder Veränderung. Heute zählen wir ca. 8 Mrd. Menschen und haben einen technologischen Eingiffsapparat geschaffen, der in der Geschichte wohl einzigartig ist. Allein schon die schiere Zahl unserer Spezies verbunden mit unserem Raumanspruch und den technologischen Möglichkeiten engt – ob wir wollen oder nicht – den Spielraum der Biosphäre fortwährend ein.

Der uralte Satz: „Macht euch die Erde untertan!“ bekommt plötzlich eine ganz andere Wahrnehmung. Über zweitausend Jahre war das ein frommer Wunsch und plötzlich haben wir als Spezies die technologischen Voraussetzungen dafür geschaffen. Wir müssen gleichzeitig feststellen, dass unser menschliches Verhalten für die Biosphäre in einem Maße dysfunktional geworden ist, dass die lebenserhaltende Funktion des Systems mittelfristig in Frage steht. Wir haben uns, möglicherweise unbewusst, einen Gegner geschaffen, mit dem nicht zu verhandeln ist, weil er keine Repräsentanz besitzt. Die Biosphäre handelt nach archaischen Grundsätzen, die wir nur teilweise verstehen. Also wäre eine Lösung, der Biosphäre künftig wieder mehr Spielraum, mehr Freiraum zu geben, damit sie ihre lebenserhaltenden Strategien (auch in unserem ureigenen Interesse) besser umsetzen kann.

Wenn wir künftig von Freiheit sprechen, so kann das nicht nur den Freiheitsanspruch von uns Menschen umfassen, sondern es muss gleichberechtigt auch ein Anspruch auf die notwendige Freiheit der Institution „Biosphäre“ berücksichtigt werden. Das muss sich künftig in unserem Denken und Handeln niederschlagen. Stattdessen wird die Funktion der Biosphäre von einer Mehrzahl von Menschen schlicht als ein „Ressourcenpotenzial“ angesehen, das es wirtschaftlich gnadenlos auszubeuten gilt. Da die Biosphäre aber unserer Lebensgrundlage darstellt, ist dieser Ansatz in hohem Maße selbstzerstörerisch.

Immer dann, wenn wir glauben, unsere sogenannte Freiheit in vollen Zügen ungehemmt genießen zu können, sollte immer der unveräußerliche Freiheitsanspruch der Institution Biosphäre in Erinnerung gerufen werden, um zu vermeiden, dass wir in vollen Zügen unsere Lebensgrundlagen zerstören.

Es bleibt die Frage, ob nicht schon andere Autoren diese oder ähnliche Gedanken vorgestellt haben? In „Biokapital“ weist Andreas Weber (Berlin 2008) darauf hin, dass sowohl der bekannte amerikanische Wirtschaftskritiker und Unternehmer, Peter Barnes, in seinem Buch „Kapitalismus 3.0“ (2006) als auch der Ökonom Herman Daly (ohne konkreten Hinweis) vergleichbare Ideen entwickelt haben. Die Ideen dieser Autoren gehen dahin, die gesamten Gemeingüter (das sind jene Güter, die uns allen anteilig gemeinsam gehören, weil sie uns von der Biosphäre ohne ein ökonomisches Interesse zur Verfügung stellt werden) in Institutionen (wie gemeinnützige Stiftungen oder „Trusts“) einzubringen, die frei (unabhängig) von Markt, Großkonzernen und Politik handeln können und dabei ausschließlich die Interessen des Systems Biosphäre vertreten und den Ge- bzw. Verbrauch der Gemeingüter des System Biosphäre überwachen, untersagen bzw. durch Preisimpulse die Verbrauchsmenge steuern. Der Ge – und Verbrauch von Gemeingütern bekommt einen Preis, der nicht von einem Markt bestimmt wird, sondern von der zu schaffenden gemeinnützigen Institution. Der Preis für die Nutzung des jeweiligen Gemeingutes spiegelt den zu erwartenden Einfluss auf den langfristigen Zustand des Biosphärensystems und seines Überlebenszieles wider. Dabei geht es nicht, wie auf einem Markt, um Profit, sondern um Ausgleich und Erhaltung.

Immer, wenn die Rede sich auf Preise konzentriert, fließt in Folge Geld in irgendwelche Taschen. Die Stiftungsinstitutionen werden mit der Entwicklung von Preisansätzen für die Nutzung von Gemeineigentum weltweit gewaltige Summen zusammentragen. Was damit geschehen soll, wird ungern offen diskutiert, weil dabei enorme Begehrlichkeiten entstehen werden. In unserem Wirtschaftssystem ist Geld eng mit Macht verbunden. Geld kann aber keine verlorene Biosphäre wiederherstellen. Das ist m.E. ein wichtiger, aber offener Punkt in der künftigen Gestaltung.

Die Ideen haben zweifelsohne ihren Reiz. Die Umsetzung erfordert aber großes Geschick, weil wir kaum noch über freies Gemeineigentum verfügen. Wie ist das zu verstehen? Ursprünglich bestand für jede Spezies die Möglichkeit, ungefragt den Nutzen der Biosphäre ohne Einschränkung in Anspruch zu nehmen. Indigene Gemeinschaften leben heute noch so, wobei ihnen eine oft moralische Einschränkung gelehrt hat, mit den Gemeingütern umsichtig und zurückhaltend umzugehen.

Unsere Kultur und unser Wirtschaftssystem hat stattdessen vor einigen Jahrhunderten angefangen, das Institut des Eigentums zu entwickeln. Unsere Altvorderen haben sich gewisse wirtschaftlich interessanten Teile des Gemeineigentum (oft unter Anwendung von Gewalt) einfach angeeignet. (vgl. Th. Piketty, Kapital und Ideologie, München, 2020, 4./5. Kapitel) Daraus hat P. J. Proudhon um 1850 die harte Aussage abgeleitet: „Eigentum ist Diebstahl“. Die Entwicklung war mit der Aussage nicht aufzuhalten. Heute ist Eigentum eine wesentliche Komponente dessen, was wir unter Freiheit verstehen, weil wir andere (auch die Biosphäre) von der Nutzung des Eigentums legal ausschließen können. Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass diese Entwicklung auch fatale Spuren in unserem System der Biosphäre hinterlassen hat. Schritt für Schritt wurde die Biosphäre für einseitig rein menschliche Zwecke zurückgedrängt und vielfach zerstört. Grundlage der Biosphäre war ursprünglich das Gemeineigentum – es gehörte allen Lebewesen, nicht nur der Spezies der Hominiden. Das lässt sich heute nicht mehr erkennen. Und deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Folgen dieses „Diebstahls“ so abfangen können, dass unsere Biosphäre mit uns gemeinsam eine erfolgreiche Zukunft hat.
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1Umwelt ist ein anthropozentrischer Begriff (wir und die anderen). Mitwelt versucht die „anderen“ auf Augenhöhe mit ihren Rechten, Freiheiten und Pflichten zu akzeptieren.

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Klimawandel – im Wandel?

Angesichts der politischen Entwicklungen sieht es so aus, als ob der Klimawandel etwas in den Hintergrund rückt. Diese Entwicklung ist deshalb fatal, weil mit dem Klimawandel Veränderungen angesprochen werden, die am Ende das Überleben der Menschheit bestimmen werden. Dieser Sachverhalt wird vielen Menschen nicht klar kommuniziert bzw. viele verschließen vor dieser harten Aussage die Augen und die Ohren. Man kann dieses Verhalten auch als Verdrängung bezeichnen.

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Das Grundproblem

Das besondere am Klimawandel ist, dass dieses Problem sich nicht auf ein Land oder eine Region beschränkt, sondern Klimawandel hat einen planetarischen Maßstab. Angesichts dieser Bedrohung glauben manche Menschen, sie können in die von ihnen als angenehm erinnerte Zeit rein nationaler Politik zurück. Geschichte, so wie wir sie verstehen, ist eine gerichtete Entwicklung, kennt also kein Zurück. Man kann nur empfehlen, die Geschichtsbücher zur Hand zu nehmen, um zu erkennen, dass es eine bessere Vergangenheit nie gegeben hat und dass unsere Chance ausschließlich in der sinnvollen Bewältigung einer uns noch unbekannten Zukunft liegt. Man sollte nicht alte Fehler wiederholen, nur weil man glaubt, man wisse wie dann zu handeln sei.

Die Problematik des Klimawandels teilt sich in mindestens drei große Bereiche, die untereinander in enger Beziehung stehen, aber politisch gerne als Einzelphänomene betrachtet werden:

Der Klimawandel fokussiert auf die absehbare Erderwärmung durch übermäßigen CO2 -Ausstoß und deren Folgen. Er versucht Maßnahmen zu entwickeln, die die heute absehbaren Folgen einer Erderwärmung mit Blick auf die nächsten Jahrhunderte minimieren. Ausdruck dieser Strategie ist das Ziel, die Erderwärmung global unter 1,5 Grad halten zu können. Der Grund für diese 1,5 Grad sind die bisherigen Erkenntnisse, dass dadurch die negativen Folgen der Erderwärmung noch in Grenzen gehalten werden können.

Die zu erwartenden Folgen sind nur bedingt auf das Klima bezogen. Unterhalb der Grenze von 1,5 Grad sollen die Klimawirkungen auf Ernährung, Dürren, Überflutungen, Unwetter, Erdrutsche, Auflösung des Permafrostes, Erhöhungen des Meeresspiegels mit der Folge von gewaltigen Migrationsströmen beherrschbar bleiben. Inzwischen zeigt sich, dass die globale 1,5 Grad – Grenze möglicherweise nicht zu halten ist, weil es Bereiche auf der Erde gibt, für die auch 1,5 Grad schon zu viel sind, wenn man die damit verbundenen Folgen vermeiden oder minimieren will.

Um das 1,5 Grad-Ziel erreichen zu können, müssen insbesondere die Industrieländer sich einer wirtschaftlichen Transformation unterziehen, die die sogenannten Marktkräfte in ihrer trägen Handlungsgeschwindigkeit bei weitem überfordern werden. Da der „Markt“ eindimensional auf Fragen der Ökonomie orientiert ist, wollen die Marktvertreter nicht erkennen, dass der Veränderungsprozess auch eine komplexe soziale Komponente braucht, um die künftigen Folgen der Veränderungen abzufedern. Aus der Sicht des ausgehenden Neoliberalismus setzt aber die Beachtung einer sozialen Komponente die Wirksamkeit des Marktmechanismus stark herab; mit anderen Worten: selbst wenn die Anpassung über den Markt erfolgen könnte, läuft uns die Zeit davon.

Die Investitionen in die Transformation werden viel Geld kosten. Den wirtschaftlichen Vorteil realisieren vermutlich erst künftige Generationen. Die Transformation ist so etwas wie der gezielte Umbau unserer Infrastruktur. Die Kosten dieser Transformation können m.E. nicht aus dem jeweils laufenden Haushalt bestritten werden. Öffentliche Haushalte müssen den „laufenden Betrieb“ finanzieren. Investitionen in die Zukunft müssen durch „Sondervermögen“ oder durch gesonderte Umlagesysteme finanziert werden. Die Umlagesysteme hätten den Vorteil, dass sie zwar die heutige Wirtschaft belasten, aber künftig keine Zinsaufwendungen für die kommenden Generationen auslösen werden.

Die zunehmenden Schadenereignisse

Ein zweiter Problemkreis liegt in der Zunahme der verheerenden Schadenereignisse. Seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums“ (1972) werden zunehmend die Auswirkungen der Erderwärmung aufgezeichnet und man stellt fest, dass sich diese Ereignisse einerseits häufen und andererseits pro Ereignis an Mächtigkeit zunehmen. Große Teile der Politik verschließen sich dieser gut belegten Erkenntnis.

Die Versicherungswirtschaft, die im Schadenfall ihre betroffene Klientel finanziell zu entschädigen verpflichtet ist, sieht das deutlich anders. Für sie gilt der Erwartungswert des Schadens als Maßstab; d. h. Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens multipliziert mit der Schadenhöhe. Wenn in dieser Grundformel beide Formelwerte laufend zunehmen, also nicht alle 30 Jahre, sondern plötzlich alle zehn Jahre (oder weniger) und der Wert des Schadens aufgrund der Heftigkeit des Ereignisses samt Inflation laufend zunimmt, so werden die Prämien davon nicht unberührt bleiben. Altverträge haben eventuell noch Bestandsschutz. Bei Neuverträge wird sich die veränderte Situation in den Prämien und in dem Eigenanteil zur Schadenprävention (Erhöhung der Gestehungskosten) niederschlagen.

Zur allgemeinen Hochwasserexposition gibt es zudem öffentlich zugängliche, neue digitale Kartenwerke, an denen erkennbar wird, welche Gebäude mit welcher Wahrscheinlichkeit hochwassergefährdet sind. Die Kunden der Versicherer können sicher sein, dass gegenwärtig Schritt für Schritt eine Neubewertung ihres Risikos durchgeführt wird. Das ist bisher im wesentlichen eine Darstellung des privaten Sektors.

Die großen Schadenereignisse betreffen ja nicht nur Privatleute, sondern ganze Regionen und ihre öffentlichen Infrastrukturen (Wasser/Abwasser, Energie, Kommunikation, Verkehrssysteme, Digitalisierung u.v.m.), also unser Gemeinwesen. Im Falle des Ahrtal-Ereignisses spricht man von einer Schadenhöhe von 40 Mrd. Euro. Das war (2022) angeblich ein „Jahrhunderthochwasser“, Anfang des Sommers (2024) standen Bayern, die Rheinland-Pfalz und das Saarland unter Wasser – noch ein „Jahrhunderthochwasser“. Mit den Wassermassen, die jüngst in Rumänien, Niederösterreich, Tschechien und Polen niedergingen, sind wir teilweise noch an Elbe und Oder beschäftigt. Auch hier wird gerne von einem „Jahrhunderthochwasser“ gesprochen. Es liegen aber keine fünf Jahre dazwischen.

Worauf ich hinaus will, dass diese und ähnliche Ereignisse auch das Gemeinwesen finanziell erheblich belasten werden. Wir können diese Ereignisse langfristig nur dadurch eindämmen, dass wir uns „Zukunftsinvestitionen“ leisten, um die Wahrscheinlichkeit von Schadenereignissen künftig zu reduzieren. Wir haben aber parallel schon jetzt eine Entwicklung, die wir nur mit Mühe finanziell beherrschen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Entwicklung einige Jahrzehnte noch weiter zunimmt, weil weltweit die Maßnahmen zur Reduktion der Erderwärmung einfach unzureichend sind. Mit anderen Worten: der schwache Wille, eine globale Transformation in Angriff zu nehmen, wird mit jedem Schadengroßereignis weiter geschwächt, weil die öffentliche Hand ihre Finanzmittel auch nur einmal ausgeben kann.

Resilienz

Mit dem Wort Resilienz oder Widerstandskraft wurde ein neues Wort geschaffen, um unseren seit 30 Jahren aufgebauten Defiziten in der Infrastruktur einen neuen Namen zu geben. Er soll vermutlich darüber hinwegtäuschen, dass die Politik ihre Erfolge in der Vergangenheit dadurch finanziert hat, dass sie Jahrzehnte lang kein Geld für die systematische Erhaltung der Infrastruktur bereitgestellt hat. Die verrottete Infrastruktur steht zur Wiederaufarbeitung an und wird zusätzlich Finanzmittel binden, die für Zukunftsaufgaben und für Hilfen bei Großschäden möglicherweise nicht zur Verfügung stehen werden.

Wie ist es dazu gekommen? Abgesehen vom politischen Willen, der immer auf Neuinvestitionen gerichtet war, ist mit der (laufenden) Reparatur der Infrastruktur kein Staat zu machen. Das wäre für die meisten Bürger zu selbstverständlich, für die Politik also wenig öffentlichkeitswirksam. Also haben neue Großinvestitionen immer Vorrang gehabt, weil sich die Politik dabei in Bild und Ton in der Öffentlichkeit erfolgreich darstellen kann.

Ein weiterer Gesichtspunkt liegt vermutlich im verwendeten Handwerkszeug: der kameralistisch orientierten Finanzplanung, Sie kommt einer einfachen Einnahmen-Ausgaben-Rechnung sehr nahe. Was mit dem eingesetzten Geld geschaffen wurde (z. B. Anlagevermögen), wird nicht systematisch erfasst (weil der Stand der Digitalisierung in der deutschen Verwaltung eine sinnvolle Erfassung vermutlich auch nicht zulässt). Unternehmen dokumentieren ihre Investitionen ausführlich, um eine gesicherte Grundlage für die Ab- und Zuschreibungen zu haben, um anhand der Aufzeichnungen sinnvolle Reparaturzyklen zu bestimmen, mit dem Ziel eine optimale Nutzungsdauer des Geschaffenen zu erreichen. Die Kameralistik kennt aber keine Abschreibungen. Abschreibungen sind zeitliche Aufwandsverteilungen und die Kameralistik kennt nur Ausgaben (Geldabfluß).

Mit der Adaption des Begriffs der „Resilienz“ hat m. E. die Politik im Grunde den Klimawandel als unausweichlich klassifiziert und der Bevölkerung und der Wissenschaft ihre Resignation signalisiert, wir können es eh nicht ändern. Statt an die Wurzeln des Übels zu gehen, hat man das Problem stillschweigend akzeptiert und konzentriert sich jetzt auf die Behandlung der Symptome. Das ist ein typisch politisches Verhalten, man folgt dem Schwarm der bequemen Haltung und geht den Weg des geringsten Widerstandes.

Fazit

Je mehr wir in die Zukunft investieren (was jetzt Geld kostet) mit dem Ziel, die Folgen des Klimawandels zukünftig zu minimieren, desto weniger Geld werden wir für die Schadengroßereignisse bereitstellen müssen. Oder wenden wir es anders, je weniger wir uns um die Zukunft schweren, desto teurer kommen uns die heute absehbaren Schadengroßereignisse. Parallel dazu müssen wir unsere desolate Infrastruktur „resilient“ machen, damit uns die Auswirkungen der Schäden nicht so unvorbereitet treffen.

Diese Denkweise geht von der Fehlannahme aus, dass der Klimawandel wie ein Regenschauer vorüberzieht. Das wird nicht der Fall sein, weil die Prozesse, die durch den Klimawandel ins Rollen kommen, i.d.R. irreversibel sind. Wenn das Klima sein dynamisches Gleichgewicht verliert, ist eine Rückkehr auf das Ausgangsniveau aufgrund des physikalischen Phänomens der Entropie ausgeschlossen. Der Klimawandel stellt auf lange Sicht das Überleben unserer Spezies in Frage, weil wir uns systematisch aus dem relativ schmalen Korridor, indem intelligentes Leben im Kosmos überhaupt möglich ist, selbst hinauskatapultieren.

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Wohin gehen wir? Ein Rückblick 22 Jahre später!

Diese Frage stellte sich im Jahre 2002 eine namhafte Gruppe von Wissenschaftlern und hat mit Hilfe der Szenario-Technik einige Alternativen für unser weitere menschliche Entwicklung entworfen1. Das implizite Ziel der Berichts-Ausführungen ist eine planetarische Gesellschaft, die verstanden hat, welche Konsequenzen der Klimawandel für die menschliche Gesellschaft haben wird. Der Bericht geht von drei Szenarien aus, die jeweils wieder in zwei unterschiedliche Entwicklungsalternativen aufgeteilt werden.

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Die großen drei Szenarien entwickeln sich aus unterschiedlichen Strategien oder auch Ideologien: Die erste Strategie folgt der Vorstellung einer konventionellen Welt, also dem „weiter so wie bisher“ im Vertrauen auf die „Marktkräfte“ und/oder durch minimale politische Anpassungen. Die zweite Strategie oder Ideologie unter der Bezeichnung „Verfall und Barbarei“ setzt auf den Einsatz von Gewalt und militärische Macht. Diese Vorstellung basiert auf einer Welt von nationalen Festungen, die es zu verteidigen gilt („Barbarei“) oder, wenn das nicht gelingt, „Zusammenbruch“ unserer Zivilisation. Die dritte Strategie (oder Ideologie) erwartet angesichts der bestehenden Probleme eine demokratische Zustimmung zu einer großen Transformation mit dem Ziel eines „Öko-Komunialismus“ bzw. einem neuen „Nachhaltigkeitsparagima“. Die Details bitte ich aus Platzgründen im Bericht selbst nachzulesen. Er steht im Internet als deutsche Fassung zur Verfügung.

Wir sind seit der Veröffentlichung bis heute 22 Jahre in der Entwicklung fortgeschritten und es fällt mir schwer, hier hinsichtlich einer „großen Transformation“ irgendwelche relevanten Fortschritte erkennen zu können. Angesichts der veränderten geopolitischen Lage, der Entwicklungen in China und Indien, dem Verhältnis von Putin und der EU, des Zustands der EU selbst, den gesellschaftlich gespaltenen Vereinigten Staaten von Amerika u.a.m. fällt es mir schwer, die in der Studie unterstellte Monopolarität (die „planetarische Perspektive“) in irgendeiner Weise entdecken zu können. Keiner der angesprochenen „Global Player“ hat eine planetarische Perspektive. Unsere politischen Strukturen sind auf nationales Agieren ausgerichtet. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Der Gedanke der Globalisierung wurde m.E. inzwischen aufgegeben, weil Globalisierung nur dann einen Wert hat, wenn man Krieg als Mittel der Politik weitgehend ausschließen kann. Die Lieferkettenprobleme, die wir in letzten Jahren beobachten können, lassen Zweifel an der ökonomischen Sinnhaftigkeit der Globalisierung aufkommen. Deshalb will ich den Gedanken einer „großen Transformation“ in diesem Zusammenhang nicht weiter vertiefen.

Interessanter erscheinen mir die Beträge im Rahmen der „konventionellen Welten“ und die Überlegungen, unter welchen Bedingungen „Barbarei und Verfall“ drohen könnten. Die Strategie der Konvention, das „weiter so, es wird schon gutgehen“ bezieht sich im Schwerpunkt auf die Erwartung, dass der „Markt“ es schon richten wird. Raskin et. al. schreiben hierzu im Jahr 2002:

„Die Weltsicht der Marktkräfte umfasst eine ehrgeizige Vision und spielt gleichzeitig eine Art Kosmolotterie. Die Vision sieht die Entstehung eines weltweiten freien Marktes, der unbehindert von Zöllen und anderen Handelsschranken funktioniert, von supranationalen Institutionen kontrolliert wird und das westliche Modell zum verbindlichen Entwicklungsziel erklärt. (…)

Es stimmt wohl, dass sich einige Umweltzerstörungen durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes korrigieren lassen: ökologische Knappheit spiegelt sich in höheren Preisen und drückt auf die Nachfrage, sie begründet die Investitionen für neue Techniken oder ermöglicht die Substitution von Rohstoffen. Deswegen betont die Umweltökonomie die Bedeutung der „Internalisierung der externen Kosten“, d.h., dass die Folgekosten in den Preis eines Produktes eingerechnet würden. Müsste der Verbraucher anteilig die Umweltschäden durch Produktion oder Beseitigung des gekauften Artikels mitbezahlen, sähe seine Entscheidung an der Kasse wohl anders aus. Kann dieser immanente Reparaturmechanismus schnell genug und in genügend großem Ausmaß Abhilfe schaffen? Das ist eine Glaubensfrage, und wer sie mit Ja beantwortet, kann seinen Optimismus weder wissenschaftlich noch historisch belegen.2

Inzwischen haben wir bessere Erkenntnisse zu den Auswirkungen des Klimawandels einerseits und erfahren andererseits, welche gigantischen Kosten die Schadensfälle weltweit durch den Klimawandel zunehmend auslösen: Einerseits wollen wir vernünftigerweise durch sinnvolle Investitionen die negativen Auswirkungen des Klimawandels so gering als möglich halten oder gar aufheben, andererseits wachsen die Kosten der Schäden, die durch den Klimawandel in Einzelereignissen weltweit ausgelöst werden, immer weiter. Wir bewegen uns also zwischen Scylla und Charybtis und wissen nur, dass beides einen enormen Finanzbedarf auslösen wird. Und die Problematik ist weit davon entfernt, gelöst zu werden.

Der wachsende Finanzmittelbedarf, der im Falle der Schadensbehebung notwendig wird, werden an anderer Stelle unseres Gemeinwesens fehlen. Es ist als führten wir einen (m. E. aussichtslosen) Krieg gegen die Natur: Wir betreiben halbherzige Maßnahmen im Rahmen der Bekämpfung des Klimawandels und werden zunehmend – an unterschiedlichen Orten – Schadensereignisse feststellen können, die in ihren Auswirkung einem „Krieg“ gleichen. Die Chancen, diesen „Krieg“ im klassischen Sinne irgendwie zu gewinnen oder doch wenigstens einen „Waffenstillstand“ zu vereinbaren, laufen gegen Null: mit der Natur kann man nicht verhandeln.

Aus gegebenem Anlass ist die Problematik der sogenannten Migration unter dem Stichwort Asylpolitik populär. Die Maßnahmen, die ohne nähere Analyse des Problems populistisch auf der Tagesordnung auftauchen, sind viel zu sehr an den Symptomen orientiert und nur sehr begrenzt verursachungsbezogen. Das Problem langfristig lösen zu wollen, übersteigt wahrscheinlich den Horizont unserer Politiker. Sie brauchen (vor der Wahl) eine schnelle und simple Lösung (einen sogenannten schmutzigen Deal). Die Gerechtigkeit wird dabei wahrscheinlich unter die Räder kommen.

Diese Entwicklung haben in einer breiteren Perspektive Raskin et. al. als eine der großen Herausforderungen der Zukunft in ihrer Studie angesprochen. Wir sind auf dem besten Wege unsere Wagenburgen auszubauen und die „Zugbrücken“ hochzuziehen, in der Hoffnung, dass wir dadurch den globalen Migrationsdruck für unser Land abwehren können. Die Maßnahmen sind – so scheint es mir – von der späten Erkenntnis geführt, dass wir die in der EU offenen Grenzen administrativ nicht in den Griff bekommen.

Sei es, dass wir hinsichtlich der „Asylfrage“ nicht belastbar wissen wer, wann und wo welchen Rechtsstatus hat oder wo die Grundlagen einfach fehlen. Die einfache Vorstellung, die sich hinter dem Begriff „Abschieben“ verbirgt, vernachlässigt, dass die Fehler der Vergangenheit nicht dadurch geheilt werden können, das man bemüht ist, sie außer Landes zu bringen. Es sind Menschen, die bei uns keine Aufenthaltsrecht haben, aber wo haben sie denn dann ein „Aufenthaltsrecht“? Abschieben – schön und gut – aber wohin? Wer will denn Menschen bei sich aufnehmen, die wir offensichtlich aus vielerlei Gründen nicht haben wollen? Das ist eine humanitäre Frage, die wir dadurch geschaffen haben, dass wir sie vor Jahren EU-weit schlecht organisiert bei uns aufgenommen haben.

Im Jahr 2002, also lange vor der ersten Migrationswelle, beschrieben Raskin et.al. (S. 38f.) ein Narrativ (eine Erzählung) über eine künftige „Welt als Festung“ wie folgt (gekürzt):

(Die) „Nutznießer der wirtschaftlichen Globalisierung waren nur zwei Fünftel der Gesellschaft: Die 20 Prozent der Spitzenverdiener und die 20 Prozent mit dem höchsten Ausbildungsstand. Die Weltwirtschaft gebar eine neureiche Klasse, die sich in ihrer Internationalität gefiel. Aber dem standen Milliarden verzweifelt armer Menschen gegenüber, deren Situation nicht von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung berührt wurde. Es gab nach wie vor internationale Einrichtungen und Hilfsprogramme zur Armutsbekämpfung. Sie setzten auf unternehmerische Initiative und Modernisierung. Da jedoch die meisten Gelder in Sicherheit und Kontrollbehörden flossen, waren die Mittel für soziale Belange ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Not der Armen wurde immer dringender, die Kluft zwischen Vermögenden und Mittellosen immer größer. Trotzdem wurde die Entwicklungshilfe immer weiter abgebaut. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, von institutioneller Seite zu helfen, war erschöpft. Derweil verschlechterte sich die Lage der Umwelt. Die Mehrfachbelastung – Umweltverschmutzung, Klimaveränderung, die Zerstörung von Ökosystemen – beschleunigte den Niedergang. Streit um die knappen Wasservorräte führte vor allem zwischen Ländern mit gemeinsamen Flüssen zu Konflikten. Luftverschmutzung, kontaminierte Böden, Nahrungsmittelknappheit und Seuchen stürzten das Gesundheitswesen eine tiefe Krise.(…)

In dieser angsterfüllten Atmosphäre vertieften sich alte ethnische, religiöse und nationalistische Spannungen. Die staatliche Einheit vieler Entwicklungsländer zerbrach, die Ordnungskräfte versagten und Kriminelle nutzten das Machtvakuum. Erschütterungen suchten auch die wohlhabenden Nationen heim, weil die Infrastruktur zerfiel und manche technische Einrichtung versagte. Der Motor der Weltwirtschaft stotterte, die internationalen Institutionen waren geschwächt, während die mit der Klimaveränderung einhergehenden Unwetter katastrophale Ausmaße annahmen. Die reiche Minderheit fürchtete, in den Strudel von Immigration, Gewalt und Krankheit gerissen zu werden. Die Krise geriet außer Kontrolle.

Die Kräfte der Weltordnung traten in Aktion. Internationale Verteidigungsbündnisse, Konzerne und die Regierungen der mächtigsten Staaten bildeten eine Rettungsallianz von eigenen Gnaden. Sie polierten die Vereinten Nationen auf, nutzten diese als Plattform und erklärten den planetaren Notstand. Militärische Strafaktionen und drakonische Polizeimaßnahmen sollten die schlimmsten Konfliktherde „ausbrennen“. Mit finanzieller und personeller Unterstützung durch die Allianz konnten die lokalen Machthaber jeden Widerstand unterdrücken und ihr Land dank der internationalen Friedenstruppen ruhig halten.

Am Ende steht eine neue Zweiteilung der Welt. Die einen sprechen von der Welt als Festung, die anderen nennen es planetarische Apartheid.“

Man erinnert sich vielleicht an die hehren humanitären und demokratischen Werte wie Menschenrechte oder Grundrechte, die wir die letzten siebzig Jahre wie eine Monstranz vor uns her getragen haben. Wenn das so endet, wie oben erzählt, ist doch etwas gründlich schief gelaufen.

Am 13.9.2024 ist zu diesem Thema in der SZ eine Karikatur von Kittihawk zu finden: „Da kann die AfD einpacken! Irre Ideen zur Asylpolitik: Jetzt auch bei uns! CDU“. Die Karikatur scheint die gegenwärtige Situation recht gut zu treffen.
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1Vgl. Raskin et al., Great Transition – Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft, original: 2002, deutsch: 2003 Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) GmbH, Hamburg

2Raskin et. Al, 2003, S. 39

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Reparieren statt Wegwerfen

Diese Überschrift findet man mehrfach auf Youtube. Die Forderung wird wenig Widerspruch hervorrufen. Aber ist unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem in der Lage, dieser Aufforderung nachzukommen? Die Aufforderung zur Reparatur statt zum Wegwerfen setzt voraus, dass diese erste Grundlage zur Erzielung von Nachhaltigkeit auch die Zustimmung des Wirtschaftssystems erhält bzw. finden kann.

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Unsere Wirtschaft ist in den letzten Jahren m. E. durch eine deflatorische Lücke gekennzeichnet. Was heißt das? Grob gesprochen übersteigt das Angebot an Waren und Dienstleistungen tendenziell die Nachfrage, mit der Folge, dass ein ständig spürbarer Preisdruck auf dem Markt liegt. Alle Massenguthersteller versuchen diesem Druck durch Kostensenkung nachgeben zu können.

Kostensenkungen lassen sich auf die eine oder andere innovative Weise realisieren, aber am Ende gehen sie immer zu Lasten der Qualität. Und Qualität ist ein Begriff, den die moderne Ökonomie noch nie in ihrem Repertoire hatte. Unter dem Regime der deflatorischen Lücke ist das besonders zu spüren. Denken Sie nur an den geplanten Verschleiß, der von zahlreichen Ökonomen beschrieben, aber von der Wirtschaft immer noch vehement bestritten wird. Wenn die Marge zu klein wird, um vom Einzelgeschäft leben zu können, muss es eben der Durchsatz (die Masse) bringen – also darf das Produkt um Gottes willen nicht unverwüstlich sein. Also wird ständig an der Lebensdauer der Produkte (als einer wesentlichen Ausprägung von Qualität) „gespielt“ – gerade so, dass der Kunde die Verkürzung der Lebensdauer im Sinne von Verlust an Qualität nicht ernsthaft bemerkt und insbesondere nicht nachweisen kann.

Kennen Sie auch den Spruch: „Hoffentlich macht es meine alte Wasch- oder Spülmaschine noch möglichst lange, die neuen (in dem korrespondieren Preissegment) sind nur noch Schrott!“ Haben Sie auch alte Küchenmaschinen, die seit Jahrzehnten unverzagt ihren Dienst tun und Sie hoffen noch auf viele weitere Jahre, weil Sie den neuen Geräten eine solche Qualität nicht mehr zutrauen? Das ist die Erfahrung des Kunden hinsichtlich der Wahrnehmung der gesamtwirtschaftlichen Folgen der deflatorischen Lücke. Das ist der vorprogrammierte, schrittweise Verlust an Qualität.

Das Reparieren von Geräten tritt bei der verkaufsorientierten Strategie völlig in den Hintergrund. Viele Waschmaschinen haben früher mit Getrieben aus Metall gearbeitet, heute sind diese Zahnräder aus Plastik. Wenn sie zerbröseln, wird die Reparatur teuer, möglicherweise teurer als das „zufällig“ bereitstehende Neugerät. Noch schlimmer ist es, dass ab einem gewissen Alter genau diese Ersatzteile auch nicht mehr zur Verfügung stehen. Reparatur ist dann Fehlanzeige – unabhängig von den möglicherweise auftretenden hohen Reparaturkosten.

Oder betrachten wir Schuhe: Die billig gemachten, aber schön bunten ‚Treter‘ aus Plastik und Mesch, also sogenannte Sneakers, sind nicht zur Reparatur geeignet. Sie sind dann, wenn gewöhnlich eine Reparatur ansteht, „ausgelatscht“ und gelten als Müll. Als Folge ist der Beruf des Schuhmachers bis auf wenige spezialisierte Exemplare ausgestorben. Man könnte auch sagen, sie stehen auf der roten Liste.

Da die Preise für Neuwaren tendenziell im Keller sind, die Neuware gemessen an den Altprodukten billiger hergestellt und massenhaft verkauft werden muss, fällt gezielt eine ganze Reparatur-Industrie aus. Die Produzenten der Neuware können diese Reparatur-Industrie gar nicht zulassen, weil sie die Lebenszeit der Produkte ständig verkürzen müssen, um die Umschlagsgeschwindigkeit der Neuware ständig erhöhen zu können. Eine Reparaturfähigkeit der Neuprodukte würde sich unmittelbar auf eine Verlängerung der Lebensdauer und damit negativ auf die Umschlagshäufigkeit der Produkte auswirken. Letztere würde sinken. Das führt zu Einbußen beim Neuwarenverkaufsgeschäft. Eine weitere Folge der Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit sind die wachsenden Müllberge und der Verfall einer Reparatur-Kultur. Das ist mit Nachhaltigkeit nicht zu vereinbaren.

Um einen Ausweg aus dieser deflatorischen Falle zu schaffen, ist die Politik gefordert. Es hat wenig Sinn, hier auf die nationale Politik zu hoffen. Nach meinen Informationen hat das Europa-Parlament einen ersten Vorstoß auf diesem Gebiet gemacht. Wenn ich die Äußerungen richtig interpretiere, wird angestrebt, dass alle oder nahezu alle Neuwaren künftig grundsätzlich reparaturfähig sein müssen. Wenn eine Reparaturfähigkeit gefordert wird, müssen vom Produzenten auch die notwendigen Ersatzteile für eine Anzahl von Jahren vorgehalten oder zur Verfügung gestellt werden. Dieser formulierte Anspruch könnte ein Umdenken auslösen:

Die Konstruktion von Neuwaren wird gegenwärtig so vorgenommen, dass man eine Reparatur entweder gar nicht (wie bei gewissen Smartphones), oder nur durch einen autorisierten Personenkreis mit einem spezialisierten auf dem Markt nicht verfügbaren Werkzeug durchführen kann. Das ist heute nicht verboten, würde aber künftig ggfs. unter das Kartellrecht fallen. Auf dem Reparatursektor müssten künftig gleiche und einheitliche Marktzugangsrechte gelten. Der Aufbau von Reparatur-Kartellen wäre kontraproduktiv. Sie würden den freien Zugang zum Markt untergraben.

Auf den Produzenten kämen zusätzliche Kosten für geänderte Konstruktionen, eine Ersatzteileverwaltung u.ä. zu, die er in den heute niedrigen Verkaufspreis einrechnen muss. Der Zwang zur Reparaturfähigkeit könnte den verhängnisvollen Trend, „Schrott“ (billig) zu produzieren, brechen. Der Zwang zur Reparaturfähigkeit gibt zudem dem Produzenten das neue Argument, dass die Qualität so hoch ist, dass eine Reparatur, abgesehen vom regelmäßigen Service, entfallen kann. Dann muss er aber auch Qualität liefern und das wird sich zwangsläufig in höheren Anschaffungskosten niederschlagen. Und das wäre dann wohl so etwas wie ein Schritt zu mehr Nachhaltigkeit.

Eine Subsistenzwirtschaft wird häufig mit Selbstversorgung gleichgesetzt. Das ist nicht falsch, trifft aber im Rahmen einer industriellen Betrachtung nur eine schmale Seite der Wirklichkeit. Subsistenzwirtschaft ist im größeren Rahmen ein Wirtschaftssystem, in dem nicht nur „Neuware“ geschaffen und idealerweise „Altware“ zu Müll erklärt wird, sondern in dem existente Gebrauchsgüter systematisch durch pflegliche, konservierende Behandlung in Funktion gehalten werden. Eine Subsistenzwirtschaft ist also keine Wirtschaftsform, die neben der Neuproduktion nur die Deklaration von Müll toleriert, sondern in der die von Natur oder Menschen geschaffenen Dinge prioritär einer Beurteilung zu einer Reparatur/Sanierung unterworfen werden, ehe man sie dem Müll oder dem Abriss preisgibt.

Diese Entscheidung wird gegenwärtig ausschließlich auf der Basis der vergangenen Kosten getroffen. Das ist kein nachhaltiger Maßstab. Das zu bewertende Gebrauchsprodukt wurde ja nicht zu dem Zweck geschaffen, um es dem Müll zuführen zu können. Mit der Produktion waren eine Funktion und eine erwartete Lebensdauer verbunden. Wenn die Entscheidung ansteht, Müll oder nicht Müll, so wird zurückgeschaut, ob das Produkt seine Abschreibungen und laufenden Kosten bis dato eingespielt hat. Wenn diese Frage bejaht wird, rutscht das Produkt gefährlich in die Nähe des Mülls, obwohl erst ein Drittel oder die Hälfte seiner für das Produkt vorgesehenen Lebensdauer erreicht ist.

Eigentlich beginnt jetzt erst die Phase, in der mit dem Produktionsmittel aufgrund erfolgter Abschreibung richtig Geld verdient werden kann, selbst dann, wenn eine gründliche Überholung stattfinden müsste. Diese Idee spiegelt sich in dem Begriff Subsistenzwirtschaft wieder. Wir sollten uns von dem Glanz des Neuen nicht weiter blenden lassen. Das neue Produkt mag Produktivitätsvorteile versprechen, aber ehrlich – das ist in den meisten Fällen ein ‚Krieg‘ um wenige Prozent. Dafür wiegen die neuen und meist deutlich höheren Abschreibungen der Neuanschaffung als unvermeidliche Fixkosten viel schwerer. Der Aufbau von Fixkosten führt Unternehmen regelmäßig in Schwierigkeiten, insbesondere, wenn der professionell verbreitete Optimismus zur konjunkturellen Entwicklung sich mal wieder geirrt hat.

Wir neigen dazu, nur die Leistungen von Unternehmen zu verherrlichen, die Neues schaffen. Intellektuell mindestens genauso herausfordernd ist die Realisierung einer komplexen Reparatur: Ein Gerät hat eine ernsthafte Störung. Reparieren bedeutet im ersten Schritt Analyse:

  • Finde die Ursache, finde den Fehler! Wenn der Fehler gefunden ist:
  • Finde im gegebenen Rahmen eine kreative Reparaturlösung! Und letztlich:
  • Setze die gefundene Lösung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten um.

Es gibt eine große Zahl von Menschen, die an einer solchen Aufgabe scheitern, weil ihnen die Eigenschaften eines typischen „Tüfftlers“ abhandengekommen sind. Es ist hier ähnlich wie bei den Sprüchen über erfolgreiche Unternehmer – nicht jeder hat die Voraussetzungen für diese Aufgabe: Ich behaupte, das gleiche gilt für die gute Durchführung einer Reparatur. Nur: Reparaturen berühren unsere Lebenspraxis viel öfter als neue Unternehmen. Sie sind das größere und oft nachhaltigere Geschäft.

Und unser Wirtschaftssystem honoriert diese Sichtweise nicht, weil nur das „Neue“, die oft fragwürdige „Innovation“ im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Wir brauchen aber den „Tüfftler-Typ“ ganz dringend für den Aufbau einer Reparatur(Erhaltungs-)-Industrie! Nur dann werden wir in der Lage sein, das erste Gesetz der Nachhaltigkeit zu respektieren und in die Tat umzusetzen. Die einen schaffen Neues und die anderen erhalten es, solange es funktional sinnvoll und zweckmäßig ist.

Jetzt kommt noch ein dritter Schritt ist Spiel: Wenn dann endlich ausgemustert wird, braucht es ein funktionierendes Recycling. Daran fehlt es. Eine Recycling-Quote von 18% ist erbärmlich und beschämend, wenn ich an all den Aufwand mit der Mülltrennung denke. Wir ‚ersaufen‘ im Müll und verwalten ihn teuer. Und es ist nicht einmal eine sinnvolle Lösung in der Diskussion.

An diesem Punkt schließt sich der Kreis. Wenn wir am Ende der Kette ein Chaos verursachen, müssen wir sinnvollerweise wieder an den Anfang der Kette zurück und uns fragen, ob und wie wir das Chaos vermeiden können, indem wir die wahren Kosten des Chaos (die externen Effekte) schrittweise gleich bei der Produktion antizipieren (hinzurechnen). Diese Vorgehensweise führte vor Jahren zum Ende der Atomkraft, denn man hatte diese Technologie als „Deus ex machina“ eingeführt ohne zu wissen, was man mit dem atomaren Abfall machen sollte – die Folgen dieser in Geld ertränkten Verantwortungslosigkeit werden uns noch lange beschäftigen!

Die Kreislaufbetrachtung geht an die Substanz unseres gegenwärtigen Systems und damit sind wir mitten in der Problematik der „großen Transformation“ und seinen Folgen. Die „große Transformation“ beschäftigt die Wissenschaft schon seit geraumer Zeit (mindestens 20 Jahre, eher 50 Jahre). Es gibt auch Fortschritte, aber es ist wohl noch zu früh für die schlichten Botschaften der Mainstream-Medien. Es ist noch keine Katastrophe, es sind nur eher schlechte Nachrichten. Dabei ist die Klimakrise nur der allgemein bekannte Teil, über den heute jedermann redet.

(Erstveröffentlichung in 2020)
Hinweis: Google mal C2C

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