Neoliberalismus und die ‚Sieben Todsünden‘ – ein Versuch

Man kann ein humanitäre Entwicklung auf mindestens zwei Wegen fördern: durch die systematische Unterstützung positiver Werte und Ziele oder aber durch die ausdrückliche Vermeidung ihrer Negation. Beide Wege sind heute gängige Praxis. Aber was geschieht, wenn man zu beobachten glaubt, dass der Mensch durch eine neoliberal geprägte Kultur strategisch gezielt auf die konsequente Verfolgung negativer Werte hin geprägt wird?

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Mit dem Aufkommen des Christentums hat die Kirche die griechischen Ideen zu den Tugenden über die ersten Jahrhunderte nach der Zeitenwende auf eine eher ‚negative‘ Weise umgesetzt. Da der Mensch aus der Sicht der Kirche schuldbeladen in diese Welt kommt und das Interesse der Kirche sich auf die Sicherung eines „gottgefälligen“ Lebens richtet, tat sie sich schwer, die griechischen Gedanken über die Tugenden direkt aufzugreifen. Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit als die profanen Kardinaltugenden der Griechen passten nicht so recht zu dem transzendenten Weltbild der Kirche.

Statt positiver Tugenden hat sie einen Gegenentwurf geschaffen: Unter dem Begriff der „sieben Todsünden“ wurden schon im frühen Mittelalter menschlich häufiger anzutreffende  negative Verhaltensweisen als mit einem ‚gottgefälligen‘ Leben unvereinbar gebrandmarkt. Eine nachhaltige Vermeidung der sieben Todsünden galt als ein hinreichend sicherer Weg zum kirchlichen Heil.

Die mit dem Konzept der ‚Todsünden‘ verbundenen alten Begriffe sind zeitbedingt ein wenig sperrig: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Überdruss. Es gibt, ähnlich wie bei den altgriechischen Tugenden, Versuche, diese Begrifflichkeit zu modernisieren. Heute könnte man stattdessen die Begriffe  Selbstüberschätzung, Gier, Neid, Unbeherrschtheit, Schamlosigkeit, Maßlosigkeit und Gleichgültigkeit verwenden, um in etwa den gleichen Inhalt auszudrücken. Wer sich von diesen negativen Verhaltensweisen frei machen kann, nähert sich einer ‚gottgefälligen‘ Lebenshaltung und darf kirchlicher Vorstellung zufolge darauf vertrauen, dass dieses Bemühen bei der finalen Bewertung seines Lebens vermutlich wohlwollend in Betracht gezogen wird.

Alle sieben Verhaltensweisen werden auch aus der Sicht einer profanen (säkularen) Welt als existent anerkannt und schweren Herzens als oft unvermeidlich toleriert. Werden sie aber für unser Verhalten gezielt handlungsleitend, gewinnen diese Eigenschaften gemeinschaftsschädigenden Charakter. Jede Anstrengung der Menschen, ein solches Verhalten einzudämmen oder zu verhindern, dient einer humaneren und vielleicht auch friedlicheren Welt. Diese Anstrengungen gehen auf wichtige Teile unseres moralischen Erbes zurück, das sich die Menschheit durch leidvolle Erfahrung über die Jahrhunderte erworben hat.

Man ist nun versucht, diese moralischen Erwartungen am Kapitalismus zu spiegeln. Das ist eine häufig zu beobachtende Fehlinterpretation, weil Ursache und Wirkung nur scheinbar zusammenhängen. Es stehen nämlich ‚moralische‘ Aussagen gegen ‚systemische‘ Aussagen. Der Mensch verfügt über ein Bewusstsein und ist damit moralisch-ethischen Argumenten zugänglich. Der Kapitalismus ist im besten Fall ein System oder ein Algorithmus, eine menschengeschaffene Institution ohne eigenes Bewusstsein. Jede moralisch-ethische Verhaltensweise muss dem System vorgeschrieben werden, sonst passiert das, was wir heute im allgemeinen Politikgeschehen und insbesondere in der Wirtschaftspolitik häufig erfahren können: Das System wird verselbstständigt und dient der Abwehr begründet moralisch-ethischer Bedenken: „Der Markt ist beunruhigt … oder das Wachstum ist in Gefahr …“. Der moralisch-ethische Anspruch wird mit Hinweis auf mögliche  Systemfolgen zurückgewiesen. Und wir, die Wähler oder die Betroffenen, bemerken diesen Schwindel in den meisten Fällen nicht.

Mit dem System Kapitalismus in seiner politisch-ökonomischen Ausprägung des Neoliberalismus sind die oben angeführten ethisch-moralischen Betrachtungen nicht vereinbar. Eine ethisch-moralische Fragestellung hat in dessen Selbstverständnis keinen Platz. Dabei greifen die Vertreter des Neoliberalismus bevorzugt auf ein (zweifelsohne ethisches) Konzept zurück, das verkürzt zum Ausdruck bringt, dass alles, was der ‚Markt‘ zulässt, ethisch vertretbar sei. Dabei gewinnt der simple Marktmechanismus eine Bedeutung, die die Menschen sonst nur Göttern zubilligen würden. Zudem existiert der ‚Markt‘ nicht in der alltäglichen Wirklichkeit. Zumindest nicht so, wie er begrifflich in der Ideologie des Neoliberalismus verwendet wird. In den Augen seiner Anhänger unterstreicht seine quasi – ‚göttliche‘ Funktion nur dessen wachsende Bedeutung.

Den Kapitalismus prägen im Allgemeinen wenige zentrale Begriffe und Verhaltensweisen. Wenn man den ökonomischen Begriff Wachstum an den ‚Todsünden‘ spiegeln möchte, so schwankt man bei der Kategorisierung zwischen ‚Gier‘ und ‚Maßlosigkeit‘. Wachstum ist begrifflich so konstruiert, dass immer wieder mehr benötigt wird, um prozentual ein gleich bleibendes Ergebnis zu erzielen. Das verweist in erster Linie auf die ‚Gier‘. Angesichts der Endlichkeit des Planeten kommt sehr rasch auch die ’Maßlosigkeit‘ als weitere Kategorie ins Spiel. Die Ökonomie baut auf der fixen Idee immerwährenden Wachstums auf und leidet in diesem Zusammenhang wohl auch an grandioser ‚Selbstüberschätzung‘, weil Wachstum nur durch Ressourcenverbrauch dargestellt werden kann. Die Ressourcen sind aber endlich. Diese Tatsache wiederum stößt in der Ökonomie auf aktive ‚Gleichgültigkeit‘ wider besseren Wissens.

Den Zustand unseres Wirtschaftssystems kann man nur als Überflussgesellschaft beschreiben, der sich durch einen gezielt vorangetriebenen Konsumismus auszeichnet. Dieser pathologische Überkonsum ist aber nur darstellbar, wenn es gelingt, den Konsumenten zu überzeugen, dass er verglichen mit seinem Nachbarn ein signifikantes Identitätsdefizit aufweist, das permanent ‚Neid‘ hervorlocken soll, um dann jenen Konsum auszulösen, dessen Rationalität nicht mehr nachvollziehbar ist.

Als Spitze der Manipulation besitzen die Vertreter des Neoliberalismus die ungeheure ‚Schamlosigkeit‘, den Leuten einzureden, die negativen Eigenschaften wie Selbstüberschätzung, Gier, Neid, Unbeherrschtheit, Maßlosigkeit und Gleichgültigkeit seien so etwas wie alternativlos und selbstverständlich, weil das jene ‚Erfolgsfaktoren‘ seien, die zum Ziel einer neoliberalen Gesellschaft führen. Die Frage ist nur, was ist das Ziel: Wachstum oder Wohlstand. Wachstum dient in seiner monetären Ausprägung den Wenigen, Wohlstand oder Gemeinwohl ist auf Mehrheit angelegt. Gemeinwohl ist im Grundgesetz verankert. Wachstum findet dort bewusst keinen Niederschlag.

Das klingt doch überaus eindrucksvoll. Da wir aber schon festgestellt haben, dass der Kapitalismus und mit ihm auch der Neoliberalismus eine menschliche Systemschöpfung ist, die etwa 1750 durch die Entwicklung von Technologien ins Leben gerufen wurde, ist der Kreis geschlossen. Hinsichtlich der ‚verderbten‘, oben exemplarisch dargestellten Eigenschaften fällt uns Menschen dummerweise der Kapitalismus wieder auf die Füße. So wie wir die Götter der Religionen geschaffen haben, so haben wir auch die Religion des Kapitalismus geschaffen und bieten damit jedem in diesen Systemen  Handelnden eine wunderbare Exkulpationsstrategie – bei jeder Ungerechtigkeit, jeder Fehlentwicklung, bei jedem sozialen Missstand kann man auf das System verweisen, mit den Achseln zucken und zur Tagesordnung übergehen.  Dabei haben wir regelmäßig vergessen, dass wir es sind, die der Religion Kapitalismus und dem Marktgott seine Verbindlichkeit für unser Handeln zusprechen – es ist nur ein gottverdammtes dummes, zugegebenermaßen aber effizientes System, ohne Moral und Verstand. Wir sind es, die dem System die Intelligenz, seine Werte geben und seine Grenzen definieren müssen. Davon sind wir heute weiter entfernt denn je.

Nur der Mensch kann den Sinn der sogenannten „Todsünden“ für unser Zusammenleben verstehen und kann sich ihre intendierte säkulare Botschaft zu eigen machen. Das System tut stur immer nur, was dem System gemäß ist, ohne Wenn und Aber. Wir müssen dem System die Grenzen setzen (und nicht umgekehrt) und es in einer anderen Form nutzen, indem wir jene negativen Verhaltensweisen einfach nicht zulassen oder zumindest öffentlich brandmarken. Keiner soll sich herausreden können, er habe sich nicht ernsthaft bemüht. Das überfordert das ‚System‘, das kann nur der Mensch ausdrücken, wenn er willens ist, nicht die ‚systemkonforme‘ Ethik des Marktes zu übernehmen, sondern seine humanen Wesensmerkmale zu entwickeln. Das ist – zugegeben – eine Herkulesaufgabe.

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