Nachhaltigkeit – geht es etwas präziser?

Nachhaltigkeit wurde erstmals 1987 durch die Brundland-Kommission definiert. Als nachhaltig gilt eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Auf politischer Ebene gilt diese Definition als ein wesentlicher Schritt zu einem künftigen Umbau der gesellschaftlichen Entwicklung.

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Wie nahezu alle politischen Definitionen lassen sie viel mehr offen als dass diese Definition Standpunkte festlegt. Aber nur auf dieser Grundlage kann man hoffen, eine ausreichende Mehrheit zur Zustimmung zu bewegen. Es bleibt aber der Eindruck einer Entscheidung nach dem Prinzip: Wasch mich, aber mach mich nicht nass!

Trotzdem gibt es ein paar Gesichtspunkte, die man positiv hervorheben sollte:

  • ‚Nachhaltig‘ ist ein Begriff, der im deutschen Sprachgebrauch das Denken und Handeln auf Dauerhaftigkeit oder auf eine langfristige Perspektive verpflichtet.
  • ‚Nachhaltigkeit‘ ist eine Übersetzung des englischen Begriffs „Sustainability“, also die Fähigkeit etwas auszuhalten, zu ertragen, zu widerstehen und zu erhalten. Nachhaltig steht im deutschen Sprachgebrauch für ‚tiefgreifend‘ und ‚lange nachwirkend‘. Man versteht, was intendiert sein soll, aber die Begriffe lassen mehr offen als sie schließen.
  • Einige erkennen darin einen Gedanken „von Beschränkungen, die der Stand der Technologie und der sozialen Organisation auf die Fähigkeit der Umwelt ausübt, gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse zu befriedigen“. Diese etwas um die Ecke ausgedrückte Beschränkung ist mir aus der Nachhaltigkeitsdefinition nicht so recht nachvollziehbar.

Es geht nur um eine Definition, aber eine schwache Definition führt dazu, dass z.B. viele Unternehmen behaupten können, nachhaltig zu sein, wenn man aber bei näherer Betrachtung feststellen muss, dass diese Behauptung unter den Begriff des Unfugs (auch ‚Bullshit‘ genannt) eingereiht werden muss. Unfug ist aber i.d.R. nicht justiziabel. Und es gibt immer ein paar Kunden, die die Unsinnigkeit mancher diesbezüglichen Unternehmensaussagen offensichtlich nicht erkennen (wollen).

Im Rahmen meiner Suche nach einer etwas festeren Definition musste ich feststellen, dass es viele Engagierte gibt, denen es wie mir geht. Sie fragen sich: Ist mit der Definition etwas gewonnen, das über die Akzeptanz der Langfristigkeit einerseits und andererseits der Anerkennung von Bedürfnissen künftiger Generationen hinausgeht?

Konkreter wird Herman E. Daly, wenn er Nachhaltigkeit nicht nur an der langfristigen Perspektive und den Bedürfnissen der Menschen festmacht, sondern Nachhaltigkeit aus der Sicht der Ökologie klar und eindeutig wie folgt definiert:

  • „Das Niveau der Abbaurate erneuerbarer Ressourcen darf ihre Regenerationsrate nicht übersteigen.
  • Das Niveau der Emissionen darf nicht höher liegen als die Assimilationskapazität.
  • Der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen muss durch eine entsprechende Erhöhung des Bestandes an regenerierbaren Ressourcen kompensiert werden.“ (Hardtke/Prehn 2001, S.58)

Dabei fällt auf, dass die Definition der Brundland-Kommission die Nachhaltigkeit aus einer anthropozentrischen Perspektive entwickelt und die Frage, ob die Umwelt diese Form der Nachhaltigkeit überhaupt noch tolerieren kann, wird darin gar nicht erfasst. Hier liegt m. E. ein wesentlicher ‚Knackpunkt‘. Wir, die Menschen, müssen erkennen lernen, dass wir zwar den Herrscher spielen können (nach dem fatalen Motto: ‚Macht Euch die Erde untertan‘), aber am Ende nur das toleriert werden wird, was die Biosphäre als übergeordnetes System überleben lässt. Bevor die Biosphäre ernsthaft Schaden nimmt, werden die auf uns einstürzenden Folgen der ausgelösten Veränderungen so heftig werden, dass für unsere gewohnten Lebensumstände kein Platz mehr bleiben wird.

Wir neigen dazu, unsere Spezies Mensch als Subjekt unter ganz vielen Objekten zu sehen. Diese Sichtweise ist teilweise auch durch unsere Tradition des Wissenschaftsverständnisses geprägt. Sie hat auch dazu geführt, dass wir diesen Gedanken dazu benutzen, uns vorzustellen, dass diese Welt ausschließlich dazu geschaffen wurde, damit wir sie zu unserem Nutzen ausbeuten können. Der Utilitarismus, der insbesondere die Wirtschaft umtreibt, hat den Gedanken zum Leitbild erhoben und verherrlicht das egoistische Verhalten als angebliche Voraussetzung für das „größtmöglichen Glück auf Erden“.

Seit einigen Jahrzehnten beginnt sich zumindest in den Sozialwissenschaften eine andere Perspektive durchzusetzen, die die Welt nicht in übergeordnete Subjekte und tendenziell inferiore Objekte aufteilt. Der Ansatz stellt nicht den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft alles Existierenden, das vereinfacht als ‚System‘ (z.B. die Biosphäre) betrachtet wird. Der Mensch bleibt wichtig und zentral, denn nur er ist in der Lage, Systeme zu definieren und letztlich zu beurteilen. Der Mensch ist regelmäßig Teil eines Systems, aber nicht automatisch als deren Boss oder das Subjekt, sondern nur als Element, das zur Funktion des Systems etwas beitragen kann. In sozialen bzw. dynamischen Systemen werden Maßnahmen primär nicht nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung beurteilt, sondern anhand des Beitrags zur Funktions- bzw. Zweckerfüllung des Systems. Es werden nicht einzelne Strukturelemente (Bestände, Subjekte) als wichtig herausgehoben, sondern der Informationsfluss (das Netz der Relationen) innerhalb des Systems, der letztlich zur Zweckerfüllung aktiv beiträgt.

Was heißt das für die Nachhaltigkeit? Solange wir Nachhaltigkeit stets auf ein Attribut dessen reduzieren, was als Produkt das Wirtschaftssystem verlässt, sind wir auf der Verliererstraße. Nachhaltigkeit lässt sich nur als eine Funktion des Wirtschaftssystems begreifen! Nicht das Produkt muss nachhaltig sein, sondern das ganze System (die Produktion) hat sich der Nachhaltigkeit zu unterstellen. Das ist noch nicht bei allen angekommen.

Was könnte diese Aussage konkret bedeuten? Wenn ein Akteur (ein Subsystem) des Wirtschaftssystems ein neues Geschäftsmodell entwickelt, so hat er sich dabei die Frage zu stellen, ob sein geplantes Geschäftsmodell (und nicht nur das intendierte Produkt) der Nachhaltigkeitsfunktion des Wirtschaftssystem gerecht wird, weil andernfalls die Durchführung seines Geschäftsmodells erhebliche Kosten in anderen benachbarten Systemen auslösen, die die Durchführung seines Modells als dysfunktional klassifizieren werden.

Systeme müssen notwendigerweise einen Zweck erfüllen (sonst sind es keine Systeme). Es stellt sich die Frage: Was ist der Zweck unseres Wirtschaftssystems? Die Frage gilt in Wirtschaftskreisen als ketzerisch. Aber ist es die Versorgung der Menschen? Oder ist es der Versuch reich zu werden? Aristoteles hat letztere Sichtweise schon vor 2.500 Jahren als Chrematistik abgetan. Oder ist das Wirtschaftssystem in Wahrheit nicht beides: ein Subsystem, das sich der Versorgung und ein Subsystem, das sich der Chrematistik verschrieben hat? Die Antwort ist m.E. erst möglich, wenn wir als Gesellschaft diese Frage nach dem Zweck unseres Wirtschaftssystems ausführlich diskutiert haben.

Es bleibt die Frage offen, wie wir diesen Zwiespalt überwinden können oder wollen? Wenn Nachhaltigkeit über den anthropozentrischen Aspekt der Brundland-Kommission hinaus als notwendige Systemfunktion anerkannt wird, ergeben sich aus der Systemtheorie heraus einige Qualitäten, die Nachhaltigkeit in einen umfassenderen Zusammenhang stellen. Hartmut Bossel[1] hat Nachhaltigkeit und die Systemperspektive versucht zusammen zu bringen, indem er die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit eines Systems mit dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit verknüpft. Wenn Systeme so gestaltet werden, dass sie eine reelle Chance des Überlebens haben – so Bossel – sind diese Systeme i.d.R. relativ problemlos auch als nachhaltig zu klassifizieren.

Somit bleibt die Frage, welche Attribute braucht ein System zum Überleben? Bossel nennt diese Attribute ‚Leitwerte‘ und führt (hier verkürzt dargestellt) aus: (vgl. Bossel, a.a.O., S. 114):

  • Existenz und Versorgung: Die Ressourcen, die das System braucht, müssen ausreichend verfügbar sein.
  • Wirksamkeit: Das System muss die notwendigen Ressourcen beschaffen können, wobei langfristig der Aufwand den Erfolg nicht übersteigen darf.
  • Handlungsfreiheit: Das System muss auf die vielfältigen Anforderungen der Umwelt angemessen (und nachhaltig) reagieren können.
  • Sicherheit: (ausreichender) Schutz vor unvorhergesehenen Schwankungen der (volatilen) Umwelt.
  • Wandlungsfähigkeit: Das System muss die Fähigkeit entwickeln durch Lernen, Anpassung und Selbstorganisation sich an laufende Veränderungen anpassen zu können.
  • Koexistenz: Das System muss auf die Existenz und das Verhalten benachbarter Systeme vernünftig (i.d.R. kooperativ) reagieren (können).
  • Reproduktion: Autopoietische Systeme benötigen Freiraum zur (kreativen) Entfaltung
  • Emotionale Bedürfnisse: müssen befriedigt werden, Stress und Schmerz vermeiden
  • Ethisches Leitprinzip: Systeme benötigen eine ethisch normative Grundlage. Für die Steuerung bewusster Entscheidungen sind normative Maßstäbe zu verwenden.“

Die ersten sechs Leitwerte gelten für alle autonomen selbstorganisierenden Systeme. Die folgenden drei Leitwerte sind für selbsterzeugende, empfindungsfähige und bewusste Systeme charakteristisch. (vgl. Bossel, a.a.O., S.113)

Ohne auf die einzelnen Aspekte tiefer einzugehen, können wir aber davon ausgehen, dass Systeme mit den angeführten Eigenschaften eine adäquate Grundlage zur Beschreibung der Nachhaltigkeit darstellen bzw. schaffen können. Nachhaltigkeit verliert dadurch ihren anthropozentrischen ‚Touch‘ und kann sich in einer weiter gefassten „Umwelt“ realisieren.

Zugegeben, es bleibt immer noch recht abstrakt, aber Hartmut Bossel ergänzt m.E. den Begriff der Nachhaltigkeit mit bis zu neun Aspekten und stellt damit die Nachhaltigkeit auf eine deutlich breitere Basis. Nachhaltigkeit wirkt dadurch nicht mehr als ein weitgehend beliebiger Begriff. Wer jetzt Nachhaltigkeit für sich und sein Handeln in Anspruch nimmt, ‚kauft‘ automatisch das restliche Paket mit ein. Keines dieser Attribute ist eine ökonomische Kategorie! Nur im Rahmen der Wirksamkeit wird ein ökonomischer Wert gestreift, indem ein langfristiger Überschuss der Erträge zu Grunde gelegt wird. Es fällt möglicherweise auch auf, dass keines der Attribute käuflich zu erwerben ist. Es handelt sich um Qualitäten, die man ‚schaffen‘ (also erzeugen) muss.


[1] Bossel, Hartmut: Globale Wende, Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München, 1998, S. 99 (Kap. 4)

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