Nachdenken tut weh?

In der Süddeutschen Zeitung vom 7.8.2024 hat Christina Berndt unter dem gleichen Titel (aber ohne Fragezeichen) ein Artikel veröffentlicht, der sich u.a. auf eine psychologische Metastudie des Projektleiters Eric Bijleveld von der Universität Nijmegen (NL) bezieht. Ich bin mir dabei nicht sicher, ob Chr. Berndt den Titel ihres Beitrags als Aussage versteht oder doch eher als eine ironische Übertreibung der beschriebenen Zusammenhänge.

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Es wäre wahrscheinlich interessant, sich ein Bild von der Zielsetzung der Studie zu machen. Aber da Nachdenken lt. des Berichtes immer den einfachsten Weg nimmt, verzichte ich darauf, weil ich mir von dem, was ich verstanden habe, keinen persönlichen Nutzen erwarte. Mein weiteres Problem liegt darin, dass die Ausführungen ‚Denken‘, ‚Entscheiden‘ und ‚Handeln‘ nicht klar auseinander halten. Denken sollte der Entscheidung vorausgehen, die Entscheidung ist noch nicht das Handeln. So kann man sich z.B. entscheiden, nicht zu handeln.

Wenn „nachdenken weh tut“, ist es m.E. nicht das Denken, das „weh tut“, sondern die Konsequenzen aus dem Denken, die oft zu einer (notwendigen) Entscheidung führen und damit möglicherweise die Komfortzone in Frage stellt. Das Lesen des Artikels hat mich zum Nachdenken angeregt, ob ich dazu Stellung beziehen soll. Die Entscheidung für eine Stellungnahme führt zur Handlung und macht mir jetzt „Arbeit“, deren Sinnhaftigkeit man in Frage stellen kann. Einen Nutzen kann ich noch nicht erkennen.

Chr. Brandt zitiert eine Pressemitteilung, in der Eric Bijleveld ausführt: „Gewöhnlich können Menschen geistige Anstrengung wirklich nicht leiden“. Gegenfrage: Gilt das nicht für jede Form menschlicher Anstrengung? Eine Anstrengung – egal in welcher Form – nehmen wir Menschen doch nur in Kauf, wenn wir uns davon eine Vorteil versprechen. Und wenn wir ein geistige Anstrengung nicht zu leisten in der Lage sind oder ihren Nutzen nicht erkennen können, neigen wir dazu, sie zu unterlassen, was aber nicht zwangsläufig zu „Schmerzen“ führt.

Es erscheint mir nicht zwingend, anzunehmen, dass ‚Nachdenken‘ bei den Menschen gewöhnlich als ‚geistige Anstrengung‘ beurteilt wird. Von Descartes soll der Satz stammen: „Ich denke, also bin ich“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Descartes das Nachdenken als lästig oder anstrengend empfunden hat Die Fähigkeit zum Denken war für ihn Grundlage der menschlichen Existenz und damit unausweichlich, ob mir das passt oder nicht.

Der Versuch, im Denken den „Weg des geringsten Widerstandes zu wählen“ basiert m.E. auf einem Missverständnis. Das Denken unterliegt doch keinen Widerständen, es sei denn, die vorhandene intellektuelle Kapazität reicht für den Denkvorgang nicht aus. Denken erfolgt doch jenseits der Realität oder Praxis, im Idealfall unter Einschluss der Erfahrung. Erst wenn eine Lösung erkannt wurde, muss ich mir Gedanken machen, wie ich die Lösung realisiere; Dann erst stellt sich die Frage ob und wie die Umsetzung mit dem „geringst möglichen Widerstand“ erfolgen kann.

Bemerkenswert finde ich die Feststellung, dass aus einem ‚Stirnrunzeln‘ oder Heben der Augenbrauen denkrelevante Verhaltensweisen in Richtung Schmerzhaftigkeit abgeleitet werden. Ich kenne viele Menschen, die dann, wenn sie sich konzentrieren wollen oder müssen, ihre Augenbrauen zusammenziehen. Diese Maßnahme ist schlicht ihr persönlicher Ausdruck erhöhter Konzentration.

In einem kurzen Abschnitt wird Martin Korte zitiert: „Entscheidungen zu treffen, ist metabolisch sehr anstrengend“. Dem steht nichts entgegen, aber Entscheiden und Nachdenken ist nicht das Gleiche. ‚Denken‘ eröffnet Potenziale, ‚Entscheiden‘ reduziert sie wieder und das ist das Anstrengende, auf mögliche Potenziale bewusst zu verzichten.

Nun taucht für mich die Frage auf, was will uns Eric Bijleveld mit seiner Metastudie eigentlich sagen? Hierzu wäre es nötig, die Studie und ihre konkrete Problemstellung zu lesen und es wäre auch von Interesse, wer die Studie letztlich finanzierte, denn ich kann mir nicht vorstellen, das das Ziel der Studie der Nachweis ist, den Lesern klar zu machen, dass wir das Denken besser lassen, weil es viel zu anstrengend sei. Damit verlasse ich den Beitrag von Christine Berndt und wende mich ein paar anderen Überlegungen zu.

Vor rd. dreihundert Jahren hat Europa die Aufklärung durchlebt und war stolz, dass wir hier und da es gewagt haben, uns unseres Verstandes zu bedienen (Kant). Und nun stellen wir fest, Vorsicht, denkt nicht zu viel, es könnte weh tun. Was für eine verrückte Welt!

Das Denken kann nicht weh tun. In jeder Meditation werden wir von der Fülle unseres Gehirns erschlagen und brauchen viel Disziplin, um die gewünschte Ordnung einzuleiten. „Die Gedanken sind frei, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten“ – von Schmerz oder Unbehagen keine Spur. Erst der Ordnungsgedanke oder der Zweck des Denkens schränkt die Fülle ein. Diese erste Einschränkung bedeutet Entscheidung und auch Arbeit. Man kann sogar noch zwischen Denken und Verstand unterscheiden. Das Denken ist weitgehend kreativ ungebunden und kann auch das Unmögliche entwickeln. Mit dem Verstand spiegelt sich das Denken an der Erfahrung, am sogenannten Mainstream und an der Konvention. Trotzdem bleiben immer noch eine ganze Reihe von ‚guten‘ Gedanken übrig und vermutlich muss das Bewusstsein sich nun entscheiden und sich von den vielen anderen Gedanken verabschieden, gewissermaßen ‚Verzicht‘ leisten.

Wie schnell der Prozess abläuft, ist eine Frage der zu erwartenden Konsequenzen. Normale, routinemäßige Abläufe verlaufen schnell und effektiv. Sind die Konsequenzen aber unangenehm, verzögert sich die Entscheidung, weil man intuitiv nach Alternativen sucht. Manchmal erscheint als Ausweg nur die Verdrängung möglich – sie verschiebt die notwendige Lösung in die Zukunft. Ob die Zukunft eine bessere Lösung bereit hält, bleibt ein schwer abwägbares Risiko.

Meine Überlegungen habe ich einer Bekannten vorgetragen, die in der Erwachsenen- und Berufsausbildung tätig ist. Ihre Antwort war ernüchternd: „Du lebst in einer Blase der Privilegierten, denen Denken als mögliche Spielwiese vermittelt wurde und die dieses Medium mit einem gewissen Vergnügen benutzen können. Außerhalb deiner Blase sieht die Welt völlig anders aus.“ Dort wird meist nicht die Denkfähigkeit vermittelt, sondern es wird in vielen Fällen ein Satz von (relativ komplexen) Regeln bereitgestellt, der von dem Anwender erlernt werden kann oder soll und mit dem er oder sie das Leben gestalten wollen. Immer dann, wenn der Regelanwender im Leben auf eine Situation trifft, für die er oder sie im Regel-Vorrat keine adäquate Maßnahme findet, tritt Verunsicherung ein. Jetzt müsste man denken können. Man ist darin allerdings durch den häufigen Regelgebrauch im Denken ungeübt und nutzt das Denken nur mit mäßigem Erfolg. Das frustriert ihn und wir haben eine denkbare Verifizierung der Aussage: Nachdenken tut (scheinbar doch) weh.

Das klingt auf den ersten Blick plausibel. Es ist aber zu einfach gedacht. Regelsätze sind in praxi nichts anderes als Routinen und Rituale, die sich sowohl die sogenannten Privilegierten als auch der Rest der Welt teilweise selber bauen oder Bewährtes von anderen Institutionen übernehmen, um sicherzustellen, dass Wiederkehrendes nicht ständig neu durchdacht werden muss. Personen, die im Denken geschult sind, sind sich der laufenden Veränderung von Routinen oder Ritualen bewusst, weil sie die verwendeten Regeln regelmäßiger hinsichtlich ihrer notwendigen Voraussetzungen in Frage stellen können.

Regelwerke, die in der täglichen Praxis befriedigende Ergebnisse liefern, werden schnell zu Selbstläufern und erhalten einen Status, der ein Infragestellen der Regeln schwermacht, weil der Grund für deren Einführung im täglichen Klein-Klein oft verloren geht.

Vor diesem Hintergrund bleibt es dabei: „Wage es, Dich deines Verstandes zu bedienen.“(Kant) Auch wenn es eine Herausforderung darstellt. Es gibt m.E. keine sinnvolle Alternative.

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