Dieser Zusammenhang drängt sich mir auf als ich mich mit den Mythen unserer Altvorderen und der Frage beschäftigt war, wie es möglich sein kann, dass vernünftige und relativ gelassene Menschen sich inkonsistente Geschichten über Sachverhalte zu eigen machen und dann noch der Meinung sind, die „anderen“ müssten ebenfalls diese Meinung teilen.
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Bei Religionen erscheint dieses Sendungsbewusstsein noch nachvollziehbar, aber bei Wirtschaftssystemen kommen Zweifel auf. Und ich spreche bewusst nicht von Wahrheit, sondern begnüge mich mit der Erwartung von Konsistenz in der Beschreibung der jeweiligen Sachverhalte.
Dabei scheint sich das Wirtschaften im Sinne von ‚Haushalten‘ und ‚Sicherung der Versorgung‘ nicht zum Mythos zu eignen. Beim Wirtschaften in diesem Sinne bewegen wir uns in der handfesten Wirklichkeit. Und diese Aktivität nutzen wir notwendig seit vielen Jahrhunderten ohne theoretische Voraussetzungen und Grundlagen.
Aristoteles unterschied schon vor rd. 2.500 Jahren sehr treffend die Oiconomie (als die Kunst des guten Lebens) von der Chrematistik als der Kunst des Reichwerdens. (vgl. Andri W. Stahel, Oiconomics: towards a new paradigm in economics, in: Real-World Economics Review, No. 96, 234 ff.) Mit anderen Worten: Sogenannte differenzierte Wirtschaftssysteme sind demnach eine Erfindung der Neuzeit, die mit der Ausweitung der Technologie und der parallelen Verfügbarkeit von fossiler Energie (seit ca. 1760) sowie der Einführung von Privateigentum (ab 1848 als Folge der Enteignung großer Teile der Aristokratie und deren praktizierter Lehenswirtschaft) zur Wirkung kommen.
Die Anwendung der neuen Technologie und der verfügbaren Energie und das Privateigentum schaffen neue Institutionen und damit ein Netzwerk von zusätzlichen Beziehungen technischer, energetischer, sozialer und gesellschaftlicher Art, das es sinnvoll erscheinen lässt, von einem abgrenzbaren Wirtschaftssystem zu sprechen. Dabei ist meist nicht das Wirtschaften als solches Gegenstand des Systems, sondern die Meinung über das „richtige“ Wirtschaften und die rabulistische Vorstellung, wie wirtschaften angesichts von Privateigentum von statten gehen solle. Die Diskussion hat mit der unmittelbaren Versorgung der Menschen nur noch am Rande zu tun.
Die Entwicklung solcher Systeme unterliegt der kritischen Beobachtung von Befürwortern und Kritikern. Es wäre das Einfachste, das System und seine Elemente neutral zu untersuchen, um dann zu einem ausgewogenen, begründbaren Ergebnis zu kommen. Dem stehen mehrere Gesichtspunkte entgegen:
- Persönliche u. wirtschaftliche Interessen der Systembeteiligten
- Gewachsene Strukturen und Privilegien
- Institutionen, deren Struktur ausgewählte Betroffene besonders begünstigen
- Sozialer Status der jeweils Beteiligten aufgrund ihrer Stellung im System
- Macht, Geld, Gier und politischer Einfluss.
Jede dieser Interessenlagen ist weder an der Wahrheit, noch an der oben angesprochenen Konsistenz ihrer Verhaltensnormen interessiert. Ihr Ziel ist es, ein Narrativ zu vertreten, das so beschaffen ist, dass es nicht offensichtlich falsch, aber doch ihren Standpunkt bevorzugt und einfach darstellt, damit ihre Sicht der Dinge gute Chancen hat, zu einem ‚Mythos‘ zu werden, zu einem Glaubenssatz, den möglichst niemand mehr so recht in Frage stellt. Dann gewinnt diese Sicht der Dinge die „Lufthoheit“ und die Sichtweise herrscht erfolgreich über die Mehrzahl der Hirne oder besser, über deren emotional geprägtes Weltbild.
Wir erwarten, dass Wirtschaft uns ein gutes Leben möglich macht. Das war in der Vergangenheit wohl unbestreitbar der Fall. „Aber seit einiger Zeit berichtet uns die Wissenschaft, dass bald das Gegenteil stattfindet, dass die Wirtschaft nun eine existenzielle Bedrohung der Zivilisation darstellt. Mit anderen Worten, noch nie wurde ein theoretisches System so von Grund auf falsifiziert wie das des neoliberalen Ökonomieansatzes.“ (Edward Fullbrook, Economics 999, in: Real-World Economics Review No. 96, S. 256, eig. Übersetzung)
Und unser Wirtschaftssystem ist nach dieser Auffassung als ein Mythos anzusehen. Es gibt eine große Zahl von Glaubenssätzen in den Wirtschaftswissenschaften, die weder im Studium noch später im täglichen Wirtschaftsleben jemals wieder in Frage gestellt wurden. Wir sind gegenwärtig an einem Punkt, an dem wir erkennen müssen, dass trotz oder gerade wegen der mythischen Grundlagen unserer Wirtschaftsweise im Rahmen der Klimakrise irgendwas grundsätzlich falsch läuft. Die Sozialwissenschaften haben die Zusammenhänge unabhängig von den Wirtschafswissenschaften detailliert ausgearbeitet und Hypothesen über die vielfältigen Gründe entwickelt. Es steht nun der fehlerhafte, aber emotionsgeladene Wirtschaftsmythos des Neoliberalismus gegen die Erkenntnisse der Sozialwissenschaft. Und die Wirtschaftswissenschaften sind dann noch mehrheitlich der Auffassung, dass sie nicht zur Sozialwissenschaft gezählt werden dürfen. Ihre „schönen“ mathematischen Modelle und ökonomischen „Gesetze“ prädestinieren sie angeblich dafür, im Grunde als „naturwissenschaftlich“ gelten zu können. Den gegenwärtig bestimmenden Mythos abzubauen und aufzulösen, ist also eine Herkulesaufgabe, weil sozialwissenschaftlicher Sachverstand gegen einen emotionsgeladenen Mythos ankämpfen muss, der primär die persönliche Gier bedient.
Wir stehen vor einer großen Transformation und müssen feststellen, dass der Mythos vom ewigen Wachstum, der Mythos der nicht hinterfragten Märkten und deren Versagen, der Mythos, dass Wettbewerb kreativ sei, der Mythos, dass der Preis einer Sache deren Wert bestimme, der Mythos vom linearen Fortschritt in eine bessere Zukunft, (u.v.a.m.) unsere Gehirne vernebeln und es nur schwer möglich ist, diesen Fehleinschätzungen zu entkommen. Der Mythos ist so schön simpel und er ist nicht grundsätzlich falsch. Wenn man die Zusammenhänge sauber analysiert, ist Wachstum (in begrenztem Maße) darstellbar, hat der Markt gewisse regulative Vorteile, mobilisiert Wettbewerb Aktivität, u.s.w.. Aber unter welchen stark einschränkenden Nebenbedingungen die Aussagen gelten und welche Kollateralschäden (externalisierte Kosten) die Vorgehensweise auslösen, wird regelmäßig weggelassen. Das ist vorsätzliche Blindheit.
Im Rahmen der großen Transformation stehen sich jetzt der Mythos und die Sozialwissenschaft unversöhnlich gegenüber. Hier die großen Vereinfacher des Mythos und dort eine angestrengte Sozialwissenschaft, die den Pfad der wissenschaftlichen Tugend nicht verlassen möchte, aber so kompliziert daher kommt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie eine breite Bevölkerungsschicht dieser Betrachtungsweise folgen kann oder will. Aber genau das wäre von eminenter Bedeutung für den Erfolg der anstehenden Transformationsprozesse!
Es geht nicht darum, rückblickend einen neuen Mythos zu identifizieren. Es ist der Widerspruch zu lösen, einen Mythos aktiv und gewissermaßen proaktiv zu schaffen, der so gestaltet ist, dass er einerseits die wichtigen Elemente der sozialwissenschaftlichen Analyse angemessen erfasst, aber dieses Ergebnis so präsentiert, dass es auch unabhängig vom Intellekt emotional eine breite Bevölkerungsschicht ansprechen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die große Transformation allein über die Vernunft und den Verstand realisiert werden kann. Dabei sind weite Teile der Bevölkerung nicht zu dumm, sondern werden gezielt mit anderen Fragen des Lebens (wie Wettbewerb, Gier, Selbstdarstellung, Machtspiele u.ä.) so beschäftigt, die ihnen schlicht keine Zeit bleibt, ihren Verstand und ihre Vernunft auf die Erfordernisse einer Transformation unserer aller Gesellschaft zu richten.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob es möglich ist, ‚vorsätzlich‘ einen neuen Mythos zu schaffen. Einen neuen Mythos, der nicht der Vergangenheit verpflichtet ist, sondern der für eine Mehrzahl von Menschen interessant genug erscheint, um ihr bestehendes Paradigma (oder Weltbild) als unzulänglich zu erkennen und freiwillig durch ein neugeschaffenes zu ersetzen. Diesem Wechsel kann man sicherlich mit Mitteln einer fragwürdigen Propaganda nachhelfen, aber letztlich bleibt es eine freiwillige Entscheidung.
Der oft unterstellte deduktive Ansatz zu einer Transformation erscheint vor diesem Hintergrund nicht erfolgreich. Für den sogenannten „großen Wurf“ die notwendige Zustimmung der Betroffenen zu finden, erscheint unrealistisch. Die befassten Wissenschaftler haben einen anderen, eher induktiven Weg eingeschlagen: Sie wollen den Transformationsprozess in kleinen Schritten vornehmen, wobei der Handlungsspielraum des alten neoliberalen Mythos Schritt für Schritt eingedämmt wird. An Ende verliert der Mythos mangels Masse seine Strahlkraft und wird irrelevant. Die schrittweise Einengung des Spielraums erfolgt über sogenannte „Leitplanken“ (engl. rail guards).
Jede Leitplanke, die politisch sanktioniert eingezogen wird, schmälert das Terrain, auf dem sich der alte Mythos austoben kann. Diese Leitplanken darf man sich dabei nicht nur zweidimensional (in der Fläche) vorstellen. Leitplanken sind gesellschaftliche Grundsätze, die eingehalten werden sollen und die nicht nur einer ausschließlich wirtschaftlichen Perspektive huldigen. Manches kann als Angebot präsentiert werden, andere Leitplanken werden aber verbindlich sein müssen. Eine Nichteinhaltung wird sanktioniert werden.
Um es bildlich zu machen: man fängt beim gegenwärtigen definierten Aktionsraum ganz außen an und schränkt in kleinen, kontrollierbaren Schritten ein bis das erreicht ist, was z.B. gegenwärtig mit Klimaneutralität definiert wird. Dabei sollen die jeweiligen Maßnahmen einer ständigen Kontrolle unterliegen, einerseits um sicherzustellen, dass die Wirksamkeit garantiert ist und andererseits, um eventuelle Fehlentwicklungen noch im laufenden Prozess korrigieren zu können. Eine solche Vorgehensweise bezeichnet man als ‚inkremental‘, weil sie keinen großen Wurf repräsentiert, sondern kleine, kontrollierbare Maßnahmen in Richtung des angestrebten Zieles einleitet, die bei einer Fehlentwicklung auch wieder zurückgenommen bzw. verbessert werden können.
Der Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von der deduktionistischen Vorgehensweise der Wirtschaftswissenschaften, die fernab von der wirtschaftlichen Realität ein Modell „gebastelt“ hat, diesem Modell aufgrund deduktiver Grundsätze den Status der Allgemeingültigkeit zuwies und dann an die Umsetzung ging. Das Ergebnis war oft kläglich, weil ohne „Netz und doppeltem Boden“ (Abstimmung mit realen Tatsachen) gearbeitet wurde.
Die Vertreter des eher induktionistischen Ansatzes der Sozialwissenschaften sind sich darüber im Klaren, dass die anstehende Aufgabe zu komplex ist, um sie ohne erhebliche Nebenwirkungen „in einem Guss“ umsetzen zu können. Der induktionistische Ansatz versucht deshalb sicherzustellen, dass keine zu großen Schritte unternommen werden, die irreversible Folgen auslösen, sondern strebt nur inkrementale (d.h. kleine, in ihrer Wirkung überschaubare) Schritte an.
Allein schon der ungewohnte inkrementale Ansatz braucht ein gutes Narrativ, das die Vorgehensweise so darstellt, dass die zu erwartenden Anpassungen nicht von vornherein als Unfähigkeit oder gar als Ratlosigkeit ausgelegt werden. Die Politik handelt in den meisten Fällen (ähnlich der klassischen Ökonomie) deduktionistisch, in dem sie von einem Ideal, einer Vision oder von einem Dogma ausgeht und daraus die Maßnahmen deduktiv ableitet und so gerne den „großen Wurf“ konzipiert. Wie das ausgehen kann, sehen wir am Neoliberalismus – seine Kollateralschäden (u.a. Klimakrise) und seine soziale und gesellschaftlichspolitische Blindheit werden absehbar sein Ende einleiten.
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