Mehr Zentralismus wagen!

Mit dieser Überschrift hat Peter Bofinger (Mitglied des Sachverständigenrates) einen Artikel in der FAZ vom 12.8.2017 veröffentlicht, indem er aufgrund des vielfältigen Marktversagens die absolut vernünftige Frage aufwirft, ob die „Märkte“ aufgrund ihres häufigen Versagens die ihnen zugeschriebenen Aufgaben überhaupt gerecht werden können. Dabei führt er eine Reihe von Beispielen an und untermauert damit die Berechtigung seiner Fragestellung. (vgl. http://www.nachdenkseiten.de/?paged=3 ). Antworten gibt er keine.

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Wenige Tage später weist die FAZ auf eine Replik der verbleibenden vier (neoliberal orientierten) Mitglieder des Sachverständigenrates hin, ohne dass die eigentliche Replik im Wortlaut irgendwo auftaucht. In dieser Replik, so wird in dem Artikel dargestellt, werfen die Mitglieder Bofinger – verkürzt ausgedrückt – vor, sein Handwerkszeug nicht zu verstehen, ohne jedoch auf seine Argumente in irgend einer Weise einzugehen. Jens Berger hat in den Nachdenkseiten das Notwendige zusammen getragen und nachvollziehbar kommentiert.

Was mich immer wieder verwundert, ist der Stil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Man fragt sich ernsthaft, ob das noch irgendetwas mit Wissenschaft zu tun hat. Wissenschaft lebt vom kritischen Dialog, so habe ich das jedenfalls verstanden – aber mein Eindruck in fast 50 Jahren Beobachtung des ökonomischen Diskurses lässt mich immer mehr zu der Überzeugung kommen, dass Wirtschaftswissenschaft zu einer Religion verkommen ist: „Glauben macht seliger denn Wissen“. Als „Marktreligion“ verstanden, ist es dann auch nachvollziehbar, dass man Häretiker in einem kurzen Prozess und ohne ausreichende Gründe niedermacht. Die neoliberale Inquisition ist genauso gnadenlos und korrupt wie die kirchliche. So wie die Inquisition ein Machtinstrument der Kirche ist, so wirkt Inquisition auch im ökonomischen Umfeld. Nur die ‚Rechtgläubigen‘ kommen ins Himmelreich der Ökonomie. Und die ökonomischen Atheisten, die schlicht die Fähigkeiten des „Marktgottes“ anzweifeln, müssen zu Lebzeiten unter dem Bannstrahl der Inquisition leiden und dürfen wohl das neoliberale Walhalla der Ökonomie nicht betreten.

Nach den Ausführungen der Medien haben wir ein Terrorismus-Problem, weil einige Irregeleitete ihre Religion missverstehen und keinem vernünftigen Argument zugänglich sind. In der ökonomischen Wissenschaften haben wir ein ähnliches Problem, nur sind die Mittel dort (noch) etwas zivilisierter: ob die neoliberalen Vertreter als irregeleitet bezeichnet werden können, bleibt abzuwarten – aber dass sie keinem vernünftigen Argument zugänglich sind, erschreckt den Beobachter schon. Irregeleitet sind sie insoweit als sie sich als Vertreter einer nicht begründbaren Marktreligion im Besitz der letzten ökonomischen Wahrheit wähnen und die Möglichkeit einer Weiterentwicklung des wirtschaftlichen Denkens kategorisch ausschließen wollen. Karl Popper warnte vor gut 50 Jahren die „offene Gesellschaft“ vor ihren Feinden. Der Neoliberalismus zählt heute ohne Frage zu ihren mächtigsten Feinden.

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