Nach der Wahl wurde die Wahrheit öffentlich – wir müssen aus verschiedenen Gründen etwa eine Billion Schulden aufnehmen, weil unsere Wahrnehmung der Realität in den letzten Jahrzehnten durch ein irrationales Wunschdenken so verfälscht wurde, dass jetzt mindestens zwei Erkenntnisse uns zwingen, nicht nur die Welt „neu zu denken“, sondern auch gleich noch riesige Löcher zu stopfen, die durch die Blindheit unserer Politik hervorgerufen wurden. Das Stopfen dieser Löcher wird primär unter der Überschrift der Finanzen geführt, dabei liegen die Defizite auf dem Felde der öffentlichen Investitionen.
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Das war ein großes Missverständnis mit der Schuldenbremse. Es ist absolut hirnrissig, bei der Staatsfinanzierung auf die Bremse zu treten, nur weil hier eine „Bremse“ eingerichtet wurde, die sich an einem Prozentsatz einer nationalen „Umsatzzahl“ (BiP) orientiert, ohne die jeweiligen Umstände der geplanten Schuldenverwendung zu würdigen. Der „Umsatz“, so die allgemeine Erwartung, soll ja zunehmen („wachsen“). Aber wie soll das geschehen, wenn durch die Restriktionen der Finanzbremse der „Umsatz“ tendenziell reduziert wird, weil die Voraussetzung für gesamtwirtschaftlichen Umsatz neben privatwirtschaftlichen auch öffentliche Investitionen sind. Letztere Investitionen (für Infrastruktur) waren seit ca. 40 Jahren auf dem Rückzug. Die privatwirtschaftlichen Investitionen wurden erheblich gesteigert (als Folge des Wachstums). Die öffentlichen Investitionen fielen als unbeachtlich fortlaufend zurück. Aber die Beanspruchung der Infrastruktur hat ständig zugenommen. Das merkt man in einem großen Zusammenhang nicht gleich, aber wenn man es dann merkt, liegt das Kind mit einem Rückstau von ca. 500 Mrd. Euro im Brunnen. Wie üblich, kommen solche Erkenntnisse stets zur falschen Zeit. Und alle sind ratlos – wie konnte das passieren?
Wie kann man sich dieses Fiasko erklären? Mein Erklärungsmuster sieht wie folgt aus: Der Neoliberalismus hat vor rd. 40 Jahren seine ersten Maßnahmen realisiert. Man wollte die unternehmerische Seite der Wirtschaft stärken und folgte der (liberalen) Überzeugung, dass sich die öffentliche Hand im Grunde auf den ‚Nachtwächterstaat‘ zurückziehen solle. Der Rest würde durch private Initiative und den ‚entfesselten‘ Markt erledigt.
Die neoliberale Idee hat übersehen, dass die Infrastruktur des Gemeinwesens erst den Markt ermöglicht, der alles regeln soll. Aber der Neoliberalismus kennt kein Gemeinwesen. Stellen Sie sich ganz einfach vor, Sie wollen im Internet Ware bestellen, die Ihnen dann geliefert werden soll und es gäbe aber keine Infrastruktur. Die Straßen wäre ausgefahrene schlammige Feldwege, Es fehlte an Energie. Das Internet wäre gar nicht erreichbar. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um die Bedeutung der Infrastruktur des Gemeinwesens für die wirtschaftlichen Aktivitäten für jeden Bürger und Unternehmer zu verdeutlichen. Es gäbe keine großen Unternehmen in diesem Lande, wenn wir nicht ein ausgebautes Netz einer weitestgehend gebührenfreien Infrastruktur bereitstellen könnten, das i.d.R. von allen Bürgern über Steuern finanziert wird und wurde.
In dem gegenwärtigen Ökonomieverständnis spielt die Infrastruktur so gut wie keine Rolle. J.M. Keynes als Ideengeber für die Wirtschaftspolitik vor dem Neoliberalismus hat der Infrastruktur eine bedeutende Rolle für die Wirtschaftsentwicklung eingeräumt. Hier beißen sich zwei Sichtweisen, wobei Keynes pragmatisch eine nachweislich sinnvolle Strategie der Fiskalpolitik vorschlug, während der Neoliberalismus aus ideologischen Gründen diese Vorgehensweise ablehnt, ohne eine schlüssige Theorie bereitzustellen.
Keynes geht davon aus, dass in Zeiten einer wirtschaftlichen Flaute der Staat über eine Schuldenfinanzierung in die Infrastruktur investieren solle, um dann, wenn der Effekt dieser Politik zu einer verbesserten Wirtschaftsleistung geführt hat, die Finanzierung zu reduzieren und mit den dann erwirtschafteten Haushaltsüberschüssen seine Schulden tilgen solle oder könne. Ob die Politik dazu in der Lage ist, steht auf einem anderen Blatt. Ausgaben- bzw. Tilgungsdisziplin zählt nicht zu den unbedingten Stärken der Politik.
Das Merkwürdige der gegenwärtigen Situation ist, dass diese Vorgehensweise vielfach in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der 1960er und 1970er Jahre rauf und runter dekliniert wurde und wir tun so, als ob es jetzt eine völlig neue Situation darstelle. Keynes hat zu Ende des zweiten Weltkrieges einen ziemlich umfassenden Vorschlag unterbreitet, wie man den Wiederaufbau wirtschaftlich gestalten solle. Das scheint vor lauter neoliberalen Nebelkerzen in Vergessenheit geraten zu sein. Und Keynes Ansatz hat damals nachweislich erfolgreich gewirkt. Der Wiederaufbau der am Kriege beteiligten Länder wäre ohne diese Beiträge kaum vorstellbar gewesen.
Der Knackpunkt von Keynes Vorschlägen lag, wenn ich mich recht entsinne, bei der Frage, ob die Wirtschaftspolitik so fein gesteuert werden kann, dass die Realisierung einer angestrebten Wirtschaftsentwicklung klar erkannt wird und dann die Politik die Disziplin aufbringt, die notwendige Zurückhaltung zu entwickeln, um die Mehreinnahmen zur Schuldentilgung zu verwenden. Wenn das so läuft wie vorgesehen, dann muss die Politik genau dann finanzielle Zurückhaltung üben, wenn es „wie geschmiert“ läuft. Diese Erwartung an die politischen Gremien überfordert vermutlich deren Prinzipienfestigkeit.
In der Nachkriegszeit gab es keine Digitalisierung. Die vorhandenen grob gestrickten Informationen über die jeweilige Wirtschaftsentwicklung ließen keine Steuerung zu wie wir sie heute durch die Digitalisierung (wenn sie denn mal umgesetzt ist) erwarten dürfen. In einer Welt, die fiskalpolitisch sich eher an Keynes ausrichten würde (das haben wir mit dem Sondervermögen unfreiwillig schon getan), wäre es durchaus denkbar, einen sinnvollen, aber hinreichend komplexen Mechanismus einer neuen ‚Schuldenbremse‘ einzurichten, der dann ‚automatisch‘ zum Zuge käme, wenn es der Politik schwerfallen würde, Ausgabenzurückhaltung zu üben.
Wenn wir nicht so vernarrt in den Neoliberalismus gewesen wären, wäre in den letzten 40 Jahren die Infrastruktur stets im Fokus des politischen Handelns gestanden. Die Infrastruktur wäre der Hebel gewesen, über den die Fiskalpolitik betrieben worden wäre. Wir hätten, statt unzureichende „Anreize“ zu liefern, regelmäßig investiert und hoffentlich auch regelmäßig die damit verbundenen Schulden getilgt. Ein „Infrastrukturloch“ von 500 Mrd. Euro (!) wäre nie möglich gewesen. Und die berechtigte Frage nach der Tilgung der Schulden durch künftige Generationen wäre obsolet. Wäre das nicht ein Weg, um aus der vertrackten Situation zu lernen, um es künftig besser zu machen?
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