Der angesprochene Sachverhalt, der dem Kapitalismus nach meiner Auffassung inne wohnt, besteht seit der Etablierung des Systems. Da die Entwicklung des Kapitalismus insbesondere in den ersten 200 Jahren durch Kriege, Aufstände und Revolutionen geprägt war, kam dieser Sachverhalt kaum zum Tragen.
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Bei jedem der vergangenen eruptiven Ereignisse wurden im großen Stil Vermögen vernichtet und neues, oft anderes Vermögen aufgebaut. Eine Umverteilung von unten nach oben wurde durch die Auswirkungen der Eruptionen verdeckt und überlagert und spielte deshalb im Bewusstsein der Menschen kaum eine Rolle.
Heute sind wir seit dem letzten Weltkrieg in der glücklichen Lage keine solchen Eruptionen erlebt zu haben. Die eruptiven Erscheinungen fallen weg und die inhärente systemische Umverteilung wird deutlicher erkennbar. Neben der Frage nach der Gerechtigkeit, die hier nicht im Vordergrund stehen wird, bleibt die Frage: Lassen sich die Auswirkungen einer systemischen Umverteilung von arm nach reich (oder von unten nach oben) plausibel und nachvollziehbar darstellen?
Um diese Frage plausibel beantworten zu können, gilt als Voraussetzung, dass es auch künftig keine eruptiven Ereignisse geben wird. Das würde die folgenden Überlegungen konterkarieren. Um die Verständlichkeit zu sichern, wird mit einem stark vereinfachten Verständnis unseres Wirtschaftskreislaufs ausgegangen. Die Wirklichkeit ist viel komplexer und filigraner, aber die Komplexität steht der Verständlichkeit im Wege. Es werden keine großen Theorien aufgeblasen, sondern es wird versucht, anhand einiger Überlegungen der „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ (eine Art Nationalbuchhaltung) zu demonstrieren, wie die Frage nach der systematischen Umverteilung von unten nach oben beantwortet werden kann.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es prinzipiell zwei Einkommensarten gibt:
- Ein leistungsbezogenes Einkommen, das jeder Mitarbeiter persönlich aufgrund seines Arbeitsvertrages als abhängig Beschäftigter erhält (Arbeitseinkommen). Geschäftsführer zählen hier zu den abhängig Beschäftigten, obwohl ihr rechtlicher Status anders gesehen wird.
- Ein leistungsloses Einkommen, das in erster Linie dem Unternehmen nach Abzug aller Kosten und Aufwendungen als Gewinn zu Verfügung steht. Das soll nicht heißen, dass diesem Einkommen keine Leistung gegenübersteht, aber diese Leistung ist persönlich nicht mehr zurechenbar. (Bei Einzelkaufleuten und Personengesellschaften verschwimmt diese Grenze, weil oft privat und geschäftlich schwieriger zu trennen sind. Die Überschüsse sind diesbezüglich vermischte Einkommen.) Bei Kapitalgesellschaften nennt man das leistungslose Einkommen Jahresgewinn oder Jahresüberschuss. Dieses Einkommen steht nach herrschender Auffassung uneingeschränkt den Kapitaleignern zu.
Leistungsbezogenes Einkommen
Das leistungsbezogene Einkommen schlägt sich in der Gewinn- und Verlustrechnung eines Unternehmens in der Position „Personalkosten“ nieder. In einer Volkswirtschaft kann man alle Gewinn- und Verlustrechnungen nebeneinanderstellen und zusammenfassen (aggregieren), um eine Gewinn- und Verlustrechnung des Gemeinwesens (der Volkwirtschaft) darstellen zu können. Der Vorgang ist keine Addition, weshalb technisch von Aggregation gesprochen wird. Um bei den Personalkosten zu bleiben, repräsentiert die Position Personalkosten auf nationaler Ebene alle Arten von Lohn- und Gehaltszahlungen an die abhängig Beschäftigten. Hinsichtlich ihrer Verwendung bei den abhängig Beschäftigten stellen die ausgewiesenen Personalkosten mit ihrem Nettoanteil (nach Abzug von Steuern und Abgaben) einen wesentlichen Teil der Kaufkraft einer Volkswirtschaft dar, die dazu dient, dass Massenkonsum stattfinden kann. Die abhängig Beschäftigten haben mit ihrer Arbeitsleistung im Rahmen von Unternehmen die Produkte geschaffen, die in ihrer Gesamtheit das Bruttoinlandsprodukt darstellen. Da der nationale Umsatz (das Bruttoinlandsprodukt) vom finanziellen Volumen her deutlich größer ist als das, was die abhängig Beschäftigten als Leistungseinkommen erhalten, klafft hier ständig eine beachtliche Lücke, die durch andere Maßnahmen (wie Kredite, Gewinnanteile, Transfers, u.a.) geschlossen werden müssen, um sicherzustellen, dass sich Produktion (BiP) und Konsumtion in etwa die Waage halten. Gelingt das nicht bzw. baut sich durch den mangelnden Ausgleich über die Zeit eine massive Schieflage auf, kommt das gesamte System in ernste Schwierigkeiten.
Leistungsloses Einkommen
Das leistungslose Einkommen ist keine Transferzahlung. Den Staat und seine Aktivitäten blenden wir aus Vereinfachungsgründen hier aus. Das leistungslose Einkommen ist im Wesentlichen der Unternehmensgewinn, der als Rücklage im Unternehmen verbleibt oder ganz oder in Teilen an die Kapitaleigner ausgeschüttet wird. Die Bezeichnung „leistungslos“ verdeutlicht dabei, dass der Kapitaleigner persönlich zum Gewinn nichts beigetragen hat, er muss nicht einmal Teil des Unternehmens sein. Der Gewinn steht ihm in unserer Rechtsordnung als leistungsloses Entgelt für die Überlassung von Kapital zur Verfügung. Ein Gesellschafter-Geschäftsführer erhält seine persönlichen Aktivitäten vertraglich vom Unternehmen als leistungsbezogenes Einkommen vergütet. Sein zusätzlicher Gewinnanteil wird insoweit also ‚leistungslos‘ bezogen, weil er persönlich ihn gar nicht schaffen konnte.
Bei einem großen Personenkreis stellen auch Erbschaften den Kern der leistungslosen Einkommen dar. Große Vermögen werden selten in einer Generation geschaffen, sondern entwickeln sich als eine Folge von Vererbungen.
Wie wird das leistungslose Einkommen beim Empfänger verwendet? Es wird in relativ wenigen Fällen in den Konsum fließen. Vielfach wird plausibel unterstellt, dass dieses zusätzliche Einkommen gespart oder investiert wird: gespart wird es am Anfang zum Aufbau von Vermögen bis ein Sicherheitspolster (im Hinblick auf Altersversorgung, Berufsunfähigkeit, u.a.) aufgebaut ist. Da man unterstellen darf, dass das leistungsbezogene Einkommen den alltäglichen Grundbedarf deckt, wird das leistungslose Einkommen zu einem großen Teil ‚investiert‘. Bei einem Unternehmen, das im Aufbau begriffen ist, wird das leistungslose Einkommen des Eigentümers mit einiger Sicherheit ganz oder teilweise in das eigene Unternehmen investiert und wird dort (hoffentlich) produktiv. Im anderen Fall wird das Einkommen schlicht gehortet bzw. in Erwartung einer Rendite in das Finanzsystem transferiert. Diese Beträge sind dann der Realwirtschaft i.d.R. entzogen. Das leistungslose Einkommen kumuliert Jahr für Jahr die finanziellen Erträge, wird zum Vermögen, entwickelt aber i.d.R. keine wirtschaftliche Produktivität. Es liegt sicher und soll möglichst Rendite erwirtschaften. Wenn letzteres nicht gelingt, dann gibt es gewöhnlich keine Notwendigkeit, die Beträge wieder in die Realwirtschaft zurück zu transferieren.
Wie schafft man Vermögen?
Betrachtet man die Netto-Vermögensverteilung (also nach Abzug eventueller Schulden), so kann man feststellen, dass etwa 40 Mio. Bürger (rd. 50%) in Deutschland (2017) nahezu keinerlei Vermögen besitzen (knapp ca. 2% des Gesamtvermögens), während die andere Bevölkerungshälfte über 98% des Vermögens verfügt. Da diese Vermögens-Verteilung mit wenigen Veränderungen seit Jahrzehnten existiert, und das Bruttoinlandsprodukt in nahezu jedem Jahr wächst, ergeben sich zwei grundlegende Fragen:
- Was macht die vermögende Hälfte im Vergleich zur anderen Hälfte anders?
- Wohin fließen die jährlichen Zugewinne des Bruttoinlandsproduktes (BiP)?
Was machen die einen anders als die anderen?
Die Antwort ist leicht zu formulieren: die vermögende Hälfte ist in der Lage, die Vorteile des leistungsabhängigen Einkommens und des leistungslosen Einkommens bei sich zu vereinen. Das klingt so banal, das man hier etwas ausholen muss.
Die Verwendung eines Einkommens wird in der Ökonomie (vereinfacht) in Konsum (Bestreiten des Lebensunterhalts) und in „Sparen“ bzw. „Investieren“ aufgeteilt. Die Idee dahinter unterstellt, dass eine Person ein Einkommen bezieht, das den Lebensunterhalt deckt und Raum für den Aufbau einer Sparrücklage lässt. Der durchschnittliche Sparanteil beläuft sich in Deutschland gegenwärtig auf etwas unter 10% des Einkommens. Man nennt das auch Sparquote. Sie war in früheren Jahren höher (bis ca. 14%), vermutlich weil zu dieser Zeit die Banken Zinsen auf Spar-Guthaben bezahlt haben.
Der Mensch, der ins Berufsleben tritt, erzielt gewöhnlich ein Einkommen. Und die meisten Menschen sind sich im Klaren, dass es vernünftig ist, so schnell als möglich eine Rücklage für Unvorhergesehenes zu bilden. In diesem Handeln spiegelt sich das individuell bewertete Arbeitsplatz- und allgemeine Lebensrisiko wieder. Wir müssen aber erkennen, dass die Sparquote von ca. 10% verzerrt ist, weil dort auch jene „Sparquoten“ erfasst sind, die unsere vermögendsten Mitbürger aufbringen können. Die sind für einem jungen Menschen, der ins Berufsleben tritt, hinsichtlich ihrer Höhe kaum nachvollziehbar.
Mit der Sparquote fängt es (meist klein) an. Mit Konsequenz und etwas Augenmaß lässt sich die angestrebte Rücklage in vielen Fällen aufbauen. Bei einem hohen leistungsabhängigen Einkommen ist es deutlich leichter und es geht auch wesentlich schneller. Insgesamt ist das aber die „harte Tour“, um sich gegen das Arbeitsplatz- und Lebensrisiko abzusichern. All diese schönen Betrachtungen setzen voraus, dass erstens ein leistungsabhängiges Einkommen zur Verfügung steht und zweitens die Einkommenshöhe eine aussichtsreiche Sparquote zulässt.
Viel eleganter ist es, wenn eine Erbschaft zur Verfügung steht. Hier fließt leistungsloses Einkommen zu, auf dem leicht aufgebaut werden kann. Ein solcher Zuschuss, der dem Erben aus der Vorgeneration zufällt, ist eine echte Vermögensbildungschance, setzt aber voraus, dass das leistungsabhängige Einkommen im Laufe der Jahre keine wesentlichen „Liquiditätslöcher“ hinterlassen hat.
Hohe abhängig erwirtschaftete Einkommen lassen bei vernünftiger Verwendung eine Sparquote zu, die die Sicherungsbedürfnisse relativ schnell erfüllen können. Die dann weiter kumulierten Sparanteile münden vielfach in einen höheren Konsum (was recht kurzsichtig wäre) oder schaffen die Grundlage für die Bildung von leistungslosem Einkommen (Immobilien, Anteilserwerb, Aktien, u.a.). Wie weit das „Spiel“ dann getrieben wird, ist individuell sehr unterschiedlich. Viele realisieren, dass der Versorgungsaspekt wegen ausreichender Erfüllung wegfallen kann und entdecken, dass mit weiter zunehmendem Vermögen Zukunftssorgen abnehmen. Sie realisieren auch, dass Vermögen dazu dienen kann, mit Hilfe des Geldes Macht und Einfluss zu gewinnen. Damit kommt so etwas wie die Gier ins Spiel. Der ursprüngliche Versorgungsgedanke findet in aller Regel einen Punkt der Befriedigung, an dem ein weiterer Vermögensaufbau nicht mehr sinnvoll erscheint. Die sich abzeichnende Möglichkeit, durch Vermögen einen Zuwachs an Macht und Einfluss zu gewinnen, kennt im Grunde keine intrinsischen Grenzen.
Warum haben 50% der Bevölkerung nahezu kein Nettovermögen? Aus dem oben Angeführten lässt sich ableiten, dass dieser Bevölkerungsanteil offensichtlich einen sehr hohen Anteil von Personen umfasst, die mit ihrem Einkommen keine ausreichende Sparquote darstellen können und bei denen die Zahl der Erbschaften eher gegen Null tendiert. Diese 50 % umfassen u.a. Rentner, prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, befristet Beschäftigte, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Empfänger von Grundsicherung und andere. Man kann vermutlich ohne große Untersuchungen unterstellen, dass sich hier auch die meisten Einkommensbezieher des sogenannten „Niedriglohnsektors“ wiederfinden werden.
Wohin fließen die jährlichen BiP – Zugewinne?
Oben wurde festgestellt, dass zu einem signifikanten Vermögensaufbau idealerweise eine Nutzung beider Einkommensformen, der leistungsbezogene Vergütung als auch die leistungslosen Zugänge verknüpft werden müssen, um Vermögen zu erhalten und um in überschaubaren Zeiträumen ggfs. neues Vermögen aufzubauen. Wir haben auch gesehen, dass seit Jahrzehnten ein wenig variierender Anteil von etwa 50% der deutschen Bevölkerung existiert, der die Möglichkeiten eines Vermögensaufbaus überhaupt nicht wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann. Es lässt sich daraus der einfache Schluss ziehen, dass die jährlichen Zuwächse, die die Volkwirtschaft im Rahmen der Bruttoinlandsproduktion erzielt, auch die angesprochenen 50% der Bevölkerung nicht erreichen. Konsequenter Weise müssen sich diese Vermögenszuwächse bei der anderen, der vermögenden Hälfte der Bevölkerung niederschlagen. Für die vermögende Hälfte hat das den großen Vorteil, dass diese Zuflüsse nicht mit allen geteilt werden müssen, die an der Produktion beteiligt waren. Die rein rechnerische Renditechance der Vermögenden verdoppelt sich dadurch. Da im vermögenden Teil der Bevölkerung sich das Vermögen nicht homogen verteilt, werden auch dort die einzelnen Zuführungen individuell erheblich schwanken.
Durch die Unterscheidung des Einkommens in einen leistungsbezogenen Anteil und in einen leistungslosen Anteil, auf den die persönliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen keinen Einfluss hat, wird deutlich, dass das System des Kapitalismus regelmäßig dafür sorgt, dass nur jene Systemteilnehmer signifikante Zuwächse zu verzeichnen haben, denen es gelingt, das leistungslose Einkommen für sich arbeiten zu lassen. Das setzt voraus, dass die Sparquote aufgrund der Einkommenshöhe es grundsätzlich möglich macht, soviel „zu sparen“, um die Voraussetzung zu schaffen, leistungsloses Einkommen genießen zu können.
Vor diesem Hintergrund wird die gerne zitierte Metapher des Neoliberalismus obsolet: „wenn die Flut kommt, wird sie alle Boote heben“. Diese Aussage wird angesichts der obigen Ausführungen und der Erkenntnis, dass 50% nahezu kein Vermögen besitzen, als ziemlicher Unsinn entlarvt: Was machen alle jene, die über kein „Boot“ verfügen und das sind immerhin 40 Mio. Menschen? Also bestimmt keine vernachlässigbare Randgruppe!
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