Die Zahl der Krisen – so das allgemeine Empfinden – nimmt zu. Die eine ist noch nicht bereinigt, so steht schon die nächste ins Haus. Dabei nimmt – zumindest gefühlt – die Häufigkeit als auch die erwartete Heftigkeit zu. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Dazu gibt es eine ganze Reihe von mehr oder weniger plausiblen Ansätzen. Mein hier vertretener Ansatz geht auf verschiedene Autoren und eigene Überlegungen zurück. Und man muss zum Verständnis ganz einfach beginnen.
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Die meisten Menschen leben von einem Arbeitseinkommen. Ein deutlich kleinerer Teil der Menschen leben von leistungslosen Einkommensformen. Hier beginnt m.E. der kapitalistische Tanz: Das Einkommen wird vereinfacht aufgeteilt in Konsum (C), Sparen (S) und Investition (I). Der Empfänger eines kleineren Einkommens verwendet den größten Teil seines Einkommens (ca. 90%), um zu leben (konsumieren). Wenn es gut geht, kann er regelmäßig ein wenig sparen(S = 10%). Eine Investition kommt für ihn aufgrund der Höhe der verfügbaren Beträge nicht in Betracht. Je höher das Einkommen, desto mehr sinkt trotz höherer Konsumansprüche i.d.R. die Konsumquote: Der Sparanteil wächst, die Rücklagen steigen bei höheren Einkommen deutlich schneller als bei den niedrigen.
Der Sparbetrag (die Rücklage) im Falle von geringen Einkommen wird bei unvorhergesehenen Ausgaben (neue Waschmaschine, neue Geschirrspülmaschine, größere Autoreparatur, Krankheit, etc.) viel stärker in Anspruch genommen als bei einem hohen Einkommen. Die Rücklagen der geringeren Einkommen sind ein Teil der notwendigen Absicherung der Betroffenen. Der gesparte Geldbetrag wird selten eine Höhe erreichen, bei dem der Besitzer sich überlegt, ob er sein Geld anlegen (investieren) kann und möchte.
Der Sparbetrag im Falle von hohen Einkommen wird viel weniger durch unvorhergesehene Ausgaben strapaziert. Und wenn, dann sind die unregelmäßigen Vorkommnisse gemessen am Sparbetrag keinesfalls bestandsgefährdend. Mit anderen Worten: Der Sparbetrag der höheren Einkommen wächst zumindest linear und stetig um gleiche Beträge und übersteigt relativ schnell den Betrag, der aus der Sicht des Einkommensbeziehers zur Absicherung seines täglichen Lebens als notwendig angesehen wird. Wenn wir jetzt noch Zins und Dividende einführen, so werden die Chancen des hohen Einkommens auf ein steigendes arbeitsloses Einkommen für jedermann offensichtlich.
Die gegenwärtige Nullzinspolitik macht es schwer, hier größere Zinserträge zu erwirtschaften. Aber das war nicht immer so und es wird auch nicht mehr lange so gehen. Die Entreicherung der in der Vergangenheit zinsverwöhnten Mittelschicht ist allzu offensichtlich. Der Groll wächst und die Politik kommt absehbar in heftige Bedrängnis.
Was aus dieser Darstellung deutlich werden soll, ist die unterschiedliche Steigerung des Sparbetrages zwischen einem geringeren und einem hohen Einkommen. Der Sparbetrag des Geringverdieners wird, wenn überhaupt, nur ganz langsam wachsen. Der Sparbetrag des besser Verdienenden wird (erst recht bei zusätzlich steigendem Einkommen) stetig wachsen. D.h. im Klartext: der Geringverdiener kommt aus seiner klammen Position durch Sparen i.d.R. nicht heraus, während der gut Verdienende deutlich merkt, dass sein Sparvermögen (auch ohne Zinsen) ständig zunimmt. Der Geringverdiener bleibt vermögenslos und der gut Verdienende ist auf dem besten Wege, sich ein Vermögen schaffen zu können (wenn er nicht schon durch Erbschaft ein solches besitzt). Die Folge ist klar erkennbar: unser Wirtschaftssystem sorgt quasi automatisch für eine komplett unausgewogene Verteilung des Vermögens. Das Geld wandert zu den Vermögenden und die Verpflichtungen bleiben bei den eher vermögenslosen Konsumenten. Wenn dieser Prozess über einen längeren (friedlichen) Zeitraum anhält, erhalten wir das Bild der gegenwärtigen Vermögensverteilung in Deutschland.
Übertragen wir dieses einfachen Zusammenhänge auf richtig große Einkommen. Dort hat der Sicherheitsgesichtspunkt keine wesentliche Bedeutung. Bei diesen Einkommen drehen sich die Verhältnisse um: vielleicht 10% Konsum und entsprechend 90% Sparanteil bei einem Jahreseinkommen, für das der „kleine Mann“ möglicherweise sein halbes Leben arbeiten müsste. Dieses Einkommen wird nicht mehr gespart, es wird investiert! Es muss, wenn nicht Zins, so doch Dividende oder Wertsteigerung bringen. Diese Form des leistungslosen Einkommens schafft in recht kurzer Zeit in einem großen Umfang neues leistungsloses Vermögen. Die Geschwindigkeit der Zunahme übertrifft bei weitem den Aufbaugeschwindigkeit eines Konsumenten, der mit diesem Prozess weit „unten“ anfängt.
Wenn das Einkommen einem Unternehmer zufließt, so kann man davon ausgehen, dass er große Teile seines Investitionsbetrages wieder in sein Unternehmen steckt. Wenn das gleiche Einkommen einen Investor zufließt, wird nach der schnöden Chance gesucht, aus Geld mehr Geld zu machen. Dabei ist es dem Investor gleichgültig mit welchen Produkten diese Mehrung erzielt wird, sie muss nur seinen Gewinnerwartungen entsprechen.
Der Prozess führt über die Jahre dazu, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft große Vermögen kumulieren kann und der Rest (die Vielen) praktisch vermögenslos bleiben. Dieses Bild kennzeichnet heute unsere Vermögensverteilung in Deutschland, ausgedrückt in einem Gini-Koeffizienten von etwa 0,8. Verglichen mit anderen EU-Staaten bedeutet diese Vermögensverteilung ein hohes Maß an Einseitigkeit: etwa 50% der Bevölkerung haben kein oder kein nennenswertes Vermögen oder sogar Schulden(1,4%). Etwa 10% der Bevölkerung verfügen dagegen über ca. 56,1% des Volksvermögens. Auf 40% der Bevölkerung entfallen dann die restlichen 42,5% des Volksvermögens. (Basis: 2017, Leipziger Internet Zeitung)
Betrachten wir eine Gesellschaft, in der es eine große Spreizung der Einkommen gibt (viele Geringverdiener und wenige Großverdiener), so führt diese Entwicklung zwangläufig dazu, dass die Geringverdiener im Prinzip vermögenslos bleiben und die Großverdiener ständig an leistungslosem Vermögen zu legen können. Der Einwand hinsichtlich der Steuern ist berechtigt, bricht den Prozess aber nicht ab, sondern streckt ihn auf der Zeitschiene. Das Ergebnis ist eine Vermögensmassierung bei den wenigen Großverdienern und eine stetige Entreicherung am anderen Ende der Skala. Alles, was an Geld geschaffen wird, geht durch diese Mühle und bleibt bei den Großverdienern letztlich hängen.
Was heißt das? Bei jeder Kreditaufnahme entsteht eine Verpflichtung und die Bank schöpft (schafft) aufgrund der Verpflichtung eine Summe Geldes und zahlt sie an den Verpflichteten aus. Kreditaufnahmen erfolgen in Masse im Rahmen des Konsums eher bei den geringer Verdienenden. Dabei fließt das Geld über den Empfang der Ware in Richtung Produzenten, aber die Verpflichtung bleibt dem Schuldner erhalten.
Das Vermögen in Form von Geld „schreit“ gewissermaßen nach rentierlicher Anlage. Vieles mag im Kapitalismus unserer Tage als knapp eingestuft werden, aber das Kapital gehört schon lange nicht mehr dazu. Es wabert herum und sucht nach Anlagemöglichkeiten. Dabei wird aufgrund des leichten (nahezu zinslosen) Geldes viel mehr Produktionskapazität geschaffen als wir im Grund benötigen, um die Menschen mit Sinnvollem zu versorgen. Es werden also Dinge produziert, die man auch als sinnlos oder überflüssig bezeichnen kann. Sie werden über die Schiene der Werbung in den Markt gedrückt. Schon in den 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat John Kenneth Galbraith ein Buch herausgebracht, das auf dem deutschen Markt unter dem Titel „Die Überflussgesellschaft“ ein Bestseller wurde.
Es stellt sich nun die Frage, ob man diese Thesen auch mit Zahlen unterlegen kann. Das ist ohne weiteres im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung möglich. Man muss sich darüber klar sein, dass der Produktion (ausgedrückt im Bruttosozialprodukt des Landes) immer eine Kaufkraft in gleicher Höhe gegenüberstehen muss. Sonst findet die Produktion keine Abnahme. Die Kaufkraft erfasst dabei die finanziellen Quellen, die dem Konsumenten zur Verfügung stehen, um die angebotene Produktion zu konsumieren. Wesentlicher Teil der verfügbaren Kaufkraft ist das Masseneinkommen. Und das Masseneinkommen wiederum besteht aus dem Netto-Einkommen aller abhängig Beschäftigten zuzüglich der Transfereinkommen aus staatlichen Unterstützungen. Weiter wird die Kaufkraft zu kleinen Teilen durch die Unternehmergewinne gestützt, durch den Export und wie wir sehen werden, durch Kredite, die die Menschen aufnehmen, um das Produktangebot über das Masseneinkommen hinaus wahrnehmen zu können (nach dem Motto: Kaufe jetzt – zahle später).
Um die Situation eines Landes abzubilden, kann man jetzt die Entwicklung des Bruttosozialprodukts über die Jahre mit der Entwicklung des Masseneinkommens (einschließlich des Transfers) vergleichen. Das Bruttosozialprodukt hat in den letzten Jahrzehnten stets als Folge des „Wachstums“ zugenommen. Die Masseneinkommen sind dagegen nur gering gestiegen. Um die Aussage zu verifizieren, denken Sie an die Meldungen, dass der Reallohn in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht oder kaum zugenommen hat.
Wenn wir jetzt die durch das Masseneinkommen zum Ausdruck kommende Kaufkraft mit dem Bruttosozialprodukt vergleichen, müssen wir feststellen, dass da eine erhebliche Lücke klafft, die gegenwärtig durch Exportüberschüsse (eines Exportweltmeisters) und durch Kreditaufnahme „künstlich“ geschlossen wird. Die vorhandene Überkapazität kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die klassische Inflation (im Sinne von Preissteigerungen) praktisch kein Problem mehr darstellt. Sie drückt sich heute dadurch aus, dass die Preise gleich bleiben, aber die verkauften Mengen reduziert werden, (in der Hoffnung, dass der Konsument diesen miesen Trick nicht bemerkt).
Das heißt konkret, dass dann, wenn die Exportüberschüsse, die wir uns vom Ausland holen, nicht mehr beglichen werden können (weil z.B. durch die Folgen der Digitalisierung unsere Nachbarn ‚klamm‘ werden) und dadurch bei uns eine massive Rezession eintritt, Arbeitsnehmer ihre Arbeit verlieren und dann ihre Kredite nicht mehr bedienen können (die Vermögenden verfügen über ausreichend Rücklagen), dann kollabiert das System, indem die Massenkaufkraft in sich zusammenbricht.
Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass nicht nur der Exportüberschuss und die Kredite wegbrechen (und die Banken in Schwierigkeiten kommen), sondern aufgrund der anschwellenden Arbeitslosigkeit auch das eigentliche Masseneinkommen stark nachgibt. Es gibt Schätzungen, dass zwischen 25 bis 50 Prozent unserer Produktionskapazität sich als überflüssig erweisen könnte. Für die USA gibt es die Erwartung, dass bis zu über 60 Prozent Überproduktion bestehen können. Es gibt deshalb auch die Meinung, dass der Kapitalismus alle 70 Jahre (alle 2 Generationen) diesen absehbaren Korrekturkreislauf durchlaufen würde oder müsse. In der Vergangenheit haben die zahllosen Kriege in Europa und anderswo die „Korrektur“ für den Kapitalismus erledigt. Wir haben erstmals eine Periode, in der der Kapitalismus zumindest in Europa eine ausreichend lange Friedensperiode erfahren konnte, dass dieser Mechanismus über die Jahre erst jetzt zum Tragen kommen könnte.
Nun beobachten wir nicht nur einen Wandel aufgrund der Digitalisierung, sondern auch sonstige Veränderungen unserer Wirtschaftsstruktur. Stahl- und Automobilindustrie, Versicherungen, und Banken sind im Moment die offensichtlichen Krisenherde. Alles, was hier aufgezählt wird, scheint im ersten Schritt zu einer Reduzierung der Arbeitsplätze zu führen. Vielleicht hat der Abbau von Kapazität schon begonnen und wir haben es nur nicht bemerkt?
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