Am 5. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil über das Vorgehen der Europäischen Zentralbank hinsichtlich des Ankaufs von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Asset Purchase Programme) veröffentlicht, indem sich das Verfassungsgericht u.a. gegen eine im Urteil des EUGH getroffene Entscheidung stellt. Das BVerfG ist der Auffassung, dass die von dem EUGH getroffene Entscheidung einseitig und zu formal begründet sei, die Folgen der beschriebenen Maßnahme für die Mitgliedsländer nicht ausreichend beachtet wurden.
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Die Kläger haben weiter der Bundesbank vorgeworfen, sich nicht vor dem EUGH durch eine Klage gewehrt zu haben. Das veröffentlichte Urteil legt die Auffassung des BVerfG auf 110 Seiten detailliert dar. Dem Urteil gehen 10 Leitsätze voran, in denen die Ausführungen des Gerichts zusammengefasst sind.
Dieses Urteil hat einerseits einen Sturm der Entrüstung als auch eine breite Zustimmung ausgelöst. Ob diese Meinungen immer von Sachkenntnis getragen sind, lässt sich für einen Außenstehenden nur schwer beurteilen. Die Entrüstung macht sich unter einigen Juristen breit, die der Auffassung sind, dass eine Entscheidung des EUGH formal nicht durch nationales Recht in Frage gestellt werden dürfe. Die zustimmenden Stimmen werden laut, weil sie der Argumentation des BVerfG folgen können und wollen. Es steht also der Primat der Form gegen den Inhalt.
Heribert Prantl (SZ) sieht für die EU die Gefahr einer weiteren Auflösung, weil die Zuständigkeiten in Frage gestellt werden nach dem Motto „Wehret den Anfängen“. Wir können feststellen, dass das Urteil im europäischen Ausland sehr wohl zur Kenntnis genommen wurde. Je nach politischer Ausrichtung wurde das Urteil natürlich von den EU-kritischen Mitgliedern eher positiv aufgenommen, so mein Eindruck. Prantl rückt aber etwas in den Vordergrund, was nur dann ein Argument wäre, wenn die Strukturen sinnvoll und „richtig“ wahrgenommen würden. Das ist nicht der Fall. Deshalb hat das BVerfG den Fall wohl auch angenommen, weil die demokratischen Rechte der Bürger bei der Entscheidung des EUGH nur unzureichend Eingang in die Entscheidung gefunden haben. Man könnte auch zu der Auffassung gelangen, dass der EUGH sich zum Büttel derer hat machen lassen, die in dem Ankauf von Wertpapieren durch die EZB (zu eigenen Vorteil und zum Nachteil großer Teile der EU-Bürger) forcieren wollten. Die Haltung, die Herr Prantl favorisiert, würde ich als hochherrschaftlich brandmarken, weil begründete demokratische Einwände über formale Gesichtspunkte zur Seite geschoben werden sollen.
Es bleibt das Problem, wie mit dem Urteil umgegangen werden soll. Denn es ist schon richtig: es hat etwas von dem Spiel „Unter sticht Ober“. Aber wenn ich mir die Argumente des BVerfG ansehe, so vermitteln sie den Eindruck, dass der EUGH wesentliche Gesichtspunkte in seiner Begründung nicht berücksichtigt hat und dabei durch sein Urteil Vorteile vermittelt hat, deren Berechtigung in Frage zu stellen ist. Nun laufen die Drähte zwischen Berlin und Brüssel heiß. Das Urteil bindet den Bundestag und damit auch die Regierung. Es ist klar, dass das deutsche BVerfG über keinerlei Weisungsbefugnis in Richtung EZB verfügt. Noch kann das BVerfG als funktional nachgeordnete Einrichtung das Urteil der EUGH aufheben. Es ist – so scheint es – ein geschickter Schachzug, den EUGH aufzufordern, sich hinsichtlich der fehlenden Begründungen zu erklären. Aber was passiert, wenn sich dabei herausstellen sollte, dass die Einschätzung des BVerfG richtig ist? Ein verzwickte Situation, die deutlich macht, dass jenseits der Struktur das bessere Argument zur Geltung kommt.
Ein damit verbundener Gesichtsverlust des EUGH wäre fast nicht zu vermeiden. Damit ist letztlich niemandem gedient! Könnte es sein, dass aus diesen Gründen sich die Antwort des EUGH auf formale Gesichtspunkte zurückzieht und den Hierarchiegedanken ausspielt? Das wäre m.E. der falsche Weg. Das gälte auch hinsichtlich der beizubringenden Erklärung des EUGH. Wird die Erklärung schlampig aufgemacht und von der Haltung des „Ober“ gegenüber dem „Unter“ bestimmt, geht der „Schuss“ nach hinten los. Beides ist denkbar, aber aus meiner Sicht wäre es in seiner Wirkung für die Reputation des Gerichtes verheerend. Eine Änderung der Rechtsprechung des EUGH durch den Einwurf des BVerfG erfordert eine zumindest teilweise Rückabwicklung der Ankäufe der EZB und würde schon erhebliche professionelle Souveränität des EUGH verlangen. Aber unmöglich ist nichts.
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