Entscheidungsfreiheit oder Sachzwang

Bei wirtschaftlichen Entscheidungen sollte man die Mikroökonomik von den makroökonomischen Zusammenhängen abgrenzen. Um es plastischer werden zu lassen, müssen wir die lokale (regionale) Wirtschaft der „nationalen“ (oder globalen) Ökonomie gegenüberstellen. Und wir werden feststellen, dass es viele Entwicklungen gibt, die auf lokaler Entscheidungsebene erstaunlich gut funktionieren, auf nationaler Ebene mangels einer sinnvollen systemischen Führung sich dysfunktional entwickeln.

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Was auf lokaler Ebene als ein Sieg der Freiheit der Entscheidung gefeiert wird, kann auf die nationale Ebene übertragen, einem Desaster gleichkommen. Insbesondere dann, wenn der nationale (oder globale) Aktionsraum nicht mehr grenzenlos erscheint; er war es nie, aber wir konnten es uns aber lange leisten, so zu tun als ob es hier keine Grenzen gäbe. Das gilt für die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen, das gilt für die Erwartung gesunder Lebensverhältnisse, ausreichender Räume zur Erhaltung der Artenvielfalt, und das gilt auch für die Idee der Globalisierung, die sich oft als Kolonialisierung mit anderen Mitteln entpuppt hat, u.a.m.

Wirtschaftssysteme besitzen entgegen der neoliberalen Weltsicht mit ihrem verfälschten Freiheitsbegriff eine klare Führung. Sie ist dadurch gegeben, dass zwar keine materiellen Ziele definiert werden, aber durch die Ideologie klare Verhaltensziele installiert wurden: Überzogener Individualismus, Egoismus, absolute Nutzen- bzw. Geldorientierung, und der Glaube an den ‚Glücksbegriff‘ des Utilitarismus im wirtschaftlichen Handeln reichen aus, um eine Moral zu etablieren, die den „Laden“ weitgehend lenkt und ethisch auf eine Einseitigkeit festlegt, die fatal ist.

Wir müssen als Gesellschaft immer wieder von neuem sicherstellen, dass die lokalen Teilsysteme nicht das Ziel des übergeordneten Systems unterwandern. Das setzt voraus, dass es in der Gesellschaft ein Ziel gibt, das breite Zustimmung findet. Wenn ich unsere Verfassung richtig interpretiere, so können wir wohl den Gedanken des Gemeinwohls als rudimentäres Gesamtziel verstehen. Hier werden jetzt manche Leser tief durchatmen und ihre Sorge zum Ausdruck bringen, dass die bürgerliche Freiheit bzw. die „freie Marktwirtschaft“ in Gefahr seien. Sie springen schnell in ihre vorbereiteten „Schützengräben“ und die Argumente werden stereotyp.

Wir sind uns einig, dass Freiheit ein hohes Gut ist, aber lasst uns woanders beginnen: Die erste Frage ist doch, ob die Freiheit des Einzelnen, der egoistisch seinen Nutzen für sich beansprucht automatisch zu einem Zustand führt, den eine große Mehrheit der Gesellschaft als das „höchste erreichbare Glück“ (auf Erden) erfahren kann. Das ist vereinfacht die Idee des Utilitarismus und wesentlich auch Grundlage unseres gegenwärtigen neoliberalen Ökonomieverständnisses. Ob diese Idee tatsächlich stimmt, hat noch niemand belastbar nachgewiesen. Die Idee ist unter idealen Bedingungen zwar denkbar, aber keinesfalls mit den begrenzten Eigenschaften konkreter Menschen umsetzbar:

  • Alle Beteiligten müssten sich auf Augenhöhe begegnen, sie haben die gleichen Rechte und könnten diese auch tatsächlich wahrnehmen.
  • Alle Beteiligten müssten einsichtig (freiwillig) akzeptieren, dass ihre persönliche Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Nächsten beeinträchtigt ist.
  • Bei der Verfolgung ihres persönlichen Nutzens müssten sie die Rechte der anderen Beteiligten achten und müssten wechselseitig fair und im Sinne des guten Willens handeln.

Jeder, der ein bisschen Lebens- und Wirtschaftserfahrung mitbringt, weiß, dass diese Ideen und Ideale im täglichen Leben (leider oft) zum Scheitern verurteilt sind. John Maynard Keynes hat diesen Sachverhalt aus seiner Perspektive sinngemäß kommentiert: es besteht die Frage, ob der Glaube realistisch sei, dass die widerwärtigen Motive von widerwärtigen Menschen auf irgendeine Art die besten Ergebnisse in der angeblich besten aller möglichen Welten bringen werden. Keynes hat die Frage klar verneint. Und nicht nur er.

Es gibt dabei noch ein weiteres Moment, das diese verabsolutierte Idee der Freiheit ins Wanken bringt, weil die zugrundeliegende Annahme von einer freier Entscheidung in Frage steht: die Forderung nach Freiheit entsteht immer erst dann, wenn der Einzelne sich in Gesellschaft bewegt. Den solitären Menschen berührt diese Fragestellung naturgemäß nicht. Wenn wir uns von der territorialen Aufteilung dieser Welt freimachen, so können wir ohne große Theorie feststellen, dass die Freiheit des Einzelnen mit wachsender Bevölkerungsdichte dieses Planeten tendenziell laufend abnimmt:

Die Menschheit zählte 1950 auf diesem Planeten etwa 2,5 Mrd. Menschen; heute sind wir etwa beim Dreifachen und für 2050 liegen die Schätzungen bei 10 bis 11 Mrd. Menschen. Bezogen auf die Freiheit des einzelnen können wir sagen, dass die Freiheit, die dem einzelnen bei gleichbleibendem Raum zugewiesen werden kann, seit 1950 objektiv geringer geworden ist. Unter ökonomischen Gesichtspunkten sollte die verbliebene Freiheit für den einzelnen zwar deutlich wertvoller, aber deren Ausübung keinesfalls einfacher geworden sein. Es wird nun Einwendungen geben, dass man Freiheit als einen qualitativen Begriff so nicht abhandeln kann. Dem würde ich gerne zustimmen, wenn ich eine andere Form der Darstellung des virulenten Problems gefunden hätte.

Der Gedanke lässt sich ja noch weiter spinnen: Die Folgen der Klimakrise laufen der Bevölkerungsentwicklung entgegen – auf der einen Seite wächst die Bevölkerung und auf der anderen Seite reduzieren sich durch die Klimakrise Schritt für Schritt jene Flächen, auf denen Menschen künftig gefahrlos ihren Lebensmittelpunkt bzw. ihr Auskommen finden können. Als Folge wurde weltweit eine gewaltige Migrationswelle ausgelöst. Die Menschen suchen nach Chancen, einen sicheren Platz zum Leben zu finden und nehmen dabei auch größte persönliche Freiheitseinschränkungen in Kauf.

Man kann nun auf der dogmatischen Seite stehen und der Auffassung sein, diese Fakten können doch unser abgehobenes Verständnis von („unserer“) Freiheit nicht in Frage stellen. Als ob es eine deutsche oder europäische Freiheit und eine (andere) Freiheit Afrikas oder Indiens gäbe. Hier sitzen wir im gleichen Boot. Wir haben nur den eindeutigen Vorteil, dass wir es uns leisten können, das Boot nur als Metapher zu sehen, während die vielen anderen das Boot sehr konkret nutzen müssen, um ihr Überleben zu sichern.

Nun ist der weitere Gedanke ganz einfach: je weniger Anteile an Freiheitschancen global auf den Einzelnen entfallen, desto mehr Gewicht erhält die persönliche Freiheit, die es zu erhalten gilt. Und je weniger Freiraum für den einzelnen übrig bleibt, desto interessanter und wichtiger wird die Frage, wie Politik aussehen müsste, die unter diesen Rahmenbedingungen unser Zusammenleben künftig formt und reguliert.

Heute gehen wir davon aus, dass die Politik ihr politisches und wirtschaftliches Handeln ganz wesentlich auf eine Art „Laissez-faire“ beschränkt sieht, die eventuell durch Anreize und Vorschläge, aber keinesfalls durch Verbote Einfluss nehmen will. Dabei herrscht unverändert der Glaube vor, dass die „Tyrannei der kleinen (dezentralen) Entscheidungen“ (siehe oben) das Glück der Welt quasi automatisch schafft. Voraussetzung wäre auch, dass für diese Vorgehensweise grundsätzlich genügend Freiraum bestünde, um die erwarteten Vorteile der Freiheit zu nutzen.

Die Fehlerhaftigkeit dieses Gedankens wird besonders offensichtlich, je mehr wir uns der wachsenden Begrenztheit unseres Lebensraumes bewusst werden. Und diese Einschränkungen folgen aus Sachzwängen, die niemand bewusst will oder anstrebt. Sie sind m.E. eine Folge der „Tyrannei der kleinen dezentralen Entscheidungen“ von der viele immer noch glauben, dass damit unsere Zukunft als Gesellschaft  gestaltet werden könne.

Die noch sehr junge Transformationswissenschaft diskutiert hierzu u.a. folgende Lösung: die Freiheit der „kleinen (und dezentralen) Entscheidungen“ soll weitgehend erhalten bleiben. Stattdessen sollen große gesellschaftliche Entscheidungen, vergleichbar mit „Führungslinien“ oder „Leitplanken“, dafür Sorge tragen, dass sich die allgemeine Entwicklung in eine für das Gesamtwohl gewünschte bzw. sinnvolle Richtung entwickelt. Wir haben heute schon unbemerkt „Leitplanken“ aufgrund von Sachzwängen geschaffen, die uns über die „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ immer wieder in zahllose kleine Sackgassen geführt haben.

Statt des Versuchs unser Handeln mit vorausschauender Weitsicht zu verbinden, führen die kurzfristigen und kurzsichtigen, kleinräumigen und egoistischen Tagesentscheidungen uns Stück für Stück in immer größere Sachzwänge, die das Gegenteil einer Freiheit der Entscheidung darstellen, weil die Zahl der noch möglichen Alternativen ständig geringer werden.

Freiheit drückt sich auch in der Fähigkeit aus, bewusst zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden. Sachzwänge vernichten Schritt für Schritt (oft unbemerkt) an jeder Ecke ein wenig mehr von unserer Freiheit. Eine sinnvolle Form der Führung kann Sachzwänge zwar nicht ausschließen, aber der Versuch, weitsichtiger und sachlich begründeter zu handeln, reduziert die Zahl und die Heftigkeit der entstehenden Sachzwänge.

Die Politik  – so mein Eindruck – schätzt im Grunde Sachzwänge. Sie entheben die Politik nämlich der Notwendigkeit Entscheidungen treffen und umsetzen zu müssen. Sachzwänge sind deshalb auch ein Mittel der Politik, wenn sie sich nicht traut, offen Stellung zu nehmen. Der Sachzwang schafft Fakten, die viele (vielleicht sogar die meisten) achselzuckend akzeptieren. Der Sachzwang ist, so gesehen, ein in Aktion umgesetzter ‚fremder‘ Wille, der jedoch die Freiheit der Entscheidung allgemein einschränkt. Es fehlt ihm die demokratische Legitimation. Und nur selten steht jemand auf, und findet die Kraft, diese quasi faktische Entwicklung in Frage zu stellen.

Nüchtern betrachtet ist unsere vieldiskutierte Entscheidungsfreiheit durch das Ausblenden grundsätzlich bekannter längerfristiger Konsequenzen mangels Urteilskraft ein trunkenes Torkeln von Sachzwang zu Sachzwang. Und das wird uns dann viel zu oft als ‚Freiheit‘ verkauft.

Die Idee der Leitplanken ist nun nichts anderes als eine bewusste und politisch gewollte, rechtzeitige Entwicklung von existentiellen „Sachzwängen“. Im Unterschied zu der „Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ werden hier „Leitplanken“ und ihre Folgen hinsichtlich großer gesellschaftlicher Entscheidungen sichtbar gemacht. Die „Leitplanken“ werden von wissenschaftlicher Seite mit der Verpflichtung zur Unabhängigkeit als Alternativen ausformuliert, die absehbaren Konsequenzen neutral dargestellt und begründet, und zur öffentlichen Diskussion gestellt. Den Rahmen der Diskussion muss die Politik bereitstellen.

Die vorgestellten „Leitplanken“, die in dem diskutierten Stadium ja regelmäßig auch noch gestaltbar sind, erlangen durch diese Vorgehensweise eine gewisse demokratische Legitimation zur Umsetzung. Der wissenschaftlich orientierte Einfluss abseits des direkten politischen Klienteleinflusses der Parteien und der dort oft angesiedelten großen finanziellen Interessengruppen gibt der Diskussion hoffentlich eine neue Wendung zum Besseren mit der Chance, dass die Diskussionen mit mehr Vernunft auf einem der Problemstellung angemessenen Niveau zuführen.

Was heißt das im Einzelnen? Je komplexer unsere Lebensumstände werden, desto wichtiger wird das langfristige Urteil der Wissenschaft. Wir merken es in der Pandemie, wir merken es bei der Digitalisierung, bei den Kriterien zur Künstlichen Intelligenz (KI), in einer Medizin, die leider statt Patienten nur noch Kunden sehen will; wir spüren, dass der Klimawandel nicht mehr durch schöne politische Formulierungen umgangen werden kann. Es darf nicht noch mehr geredet, sondern es muss endlich gehandelt werden.

Die Politik hat m.E. über die letzten dreißig Jahre ihre Glaubwürdigkeit hinsichtlich der notwendigen und insbesondere richtigen Maßnahmen verspielt. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat beispielsweise jüngst einen (einstimmigen) Konsens über die Entwicklungsziele der Landwirtschaft herbeigeführt, den eigentlich die Politik hätte schaffen müssen. Die einzig beteiligte Politikerin machte sich nach meinen Informationen durch Verweigerung der Mitarbeit einen Namen. Diese und ähnliche Entwicklungen nähren die Erwartung, dass wir im Sinne einer Verbesserung der ‚Governance‘ unsere politischen Strukturen verbessern, ergänzen oder umstrukturieren müssen.

Eine Idee wäre ein interdisziplinärer Wissenschaftlicher Beirat, dem die Aufgabe zufiel, als „Watchdog“ (Wachhund) nüchtern und und unaufgeregt (ohne das übliche Empörungsritual) darüber zu wachen, dass die Politik (in ihrem Kleinklein und ihren „Vier/Fünf Jahres-Legislaturperioden“) nicht die großen und langfristigen Zusammenhänge aus den Augen verliert. Der Beirat hätte das Ziel, unsere staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen laufend danach zu durchleuchten, wo sich Entwicklungen abzeichnen, die im Hinblick auf das Gemeinwohl aus dem Ruder laufen könnten.

Das ist eine heikle und schwierige Aufgabe, weil nicht nur Veränderungen festgestellt werden, sondern auch das sehr allgemeine Ziel ‚Gemeinwohl‘ in operationale Parameter zerlegt werden müsste. Diese Zielaufgliederung in sinnvoll erachtete Einzelparameter ist aber selbst wieder in Abhängigkeit von den Ergebnissen eine hoch politische Bewertung. Deshalb wird neben der Untersuchung der Zusammenhänge immer wieder auch die Frage auftauchen müssen, ob der Parameter noch als sachgerecht anzusehen ist.

Diese Watchdog-Funktion des Beirats hätte den Charme, dass regelmäßige sachliche Berichte (alle zwei oder drei Jahre) erstellt würden, die nicht nur den leitenden Gremien zugestellt werden, sondern deren Konsequenzen sowohl in der wissenschaftlichen Community als auch in der interessierten Öffentlichkeit intensiv diskutiert werden. Das hätte zur Folge, dass die Berichte so formuliert und ausreichend erläutert werden müssen, dass sie nicht nur von Akademikern gelesen und verstanden werden können.

Durch die öffentliche Diskussion dieser Berichte hat die Politik die Chance, sich die richtigen Fragestellungen zu erarbeiten. Die Politik gewinnt dabei die Chance, aus ihrer Blase herauszutreten und zu erfahren, was unter Beachtung stichhaltiger sachlicher Argumente zukunftstauglich sein könnte. Dabei bleibt noch genug Raum für konkrete Politik. Aufgrund des Evidenzgebotes der Wissenschaft könnte die Politik aber inhaltlich einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Es wäre zu hoffen, dass die ganz alten Zöpfe und fatal schlichten Glaubenssätze als Folge mangelnder Urteilskraft aufgrund besserer Information und neuerer Erkenntnisse endlich abgeschnitten werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Irrtum wird deshalb nicht ausbleiben können, aber allein die Offenheit gegenüber dem Irrtum wäre ein großartiger Gewinn im gesellschaftlichen Diskurs über unsere Zukunft.

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