Eine andere Perspektive

Unser Verständnis von Ökonomie wird geprägt durch die „liberale Demokratie“, ein Modell, das nach Aussage von Francis Fukuyama nach der Auflösung des Sozialismus allein übrig geblieben ist („Das Ende des Menschen“, S. 31) Was das Modell auszeichnet, wird erst mit den gelesenen Seiten klarer, aber bleibt ein unbestimmter Begriff. Es ist aber im täglichen Leben erkennbar, dass in der Verfolgung dieses Gedankenmodells der politische Einfluss der Wirtschaft überproportional wächst und der der Politik ständig sinkt. Der Grund liegt u.a. darin, dass die Ökonomie der liberalen Demokratie strikt auf einem Nutzenkalkül aufbaut (Utilitarismus) und den Eindruck erweckt, alle politischen Auseinandersetzungen wären eine Frage der Optimierung:

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„Die moderne neoklassische Wirtschaftstheorie geht von einer Vorstellung der menschlichen Natur aus, die postuliert, dass Menschen rational nach ihrem Vorteil streben. Die Ökonomen lehnen ausdrücklich jeden Versuch ab, zwischen einzelnen Zweckdienlichkeiten Unterschiede zu machen oder hier Prioritäten zu setzen. (…) Die reduktionistische Strategie (der Ökonomie), die der utilitaristischen Ethik zu Grunde liegt, ist von eleganter Einfachheit, und genau deshalb spricht sie viele an. Sie enthält das Versprechen, dass Ethik in eine Art Wissenschaft von klaren Optimierungsregeln um geformt werden kann. Das Problem besteht allerdings darin, dass die Natur des Menschen viel zu komplex ist, um auf einfache Kategorien wie „Schmerz“ oder „Lust“ reduziert zu werden.“ (Fukuyama, S. 166) Die Rationalität ist grundsätzlich in Frage zu stellen, weil der Mensch keine kardinale Zielstruktur aufweist: Er kann emotional durchaus zwei sich widersprechende Ziele verfolgen. „Es gibt kaum ein von Menschen formuliertes Urteil über Gut und Böse, das nicht von starken Emotionen begleitet ist, ob nun von Sehnsüchten, Verlangen, Abneigung, Abscheu, Zorn, Schuld oder Freude. (…) Der Prozess der Begründung von Werten ist prinzipiell kein rationaler, weil seine Ursprünge aus dem „Sein“ der Emotionen kommen.“ (S. 167).

Umso erschreckender ist es, dass der wesentliche Teil unserer Gesellschaft mit Theorien beeinflusst wird, deren Schlichtheit und meinetwegen auch „Eleganz“ so einseitig ist, dass man sich fragt, ob das keiner merkt und sich dagegen wehrt. Zumal es ein uraltes Konzept gibt, das zwar weniger „elegant“ ist, dafür aber deutlich mehr Kontingenzen zu erfassen in der Lage ist. Es stammt von Platon und ist versteckt in seine Ausführungen zum Staat zu finden: Er geht davon aus, dass die Seele (d.h. der Mensch mit seinen Antrieben) „aus drei Elementen bestehe: einem begehrenden Teil (…), einem energischen oder stolzen Teil (Thymos) und einem rationalen (vernünftigen) Teil.“ Der begehrende Teil (die Begierde oder die Suche nach Nutzen) ist das, was der Utilitarismus unverändert verherrlicht. Der rationale, vernünftige Teil des Menschen dient im täglichen Leben der Entscheidungsfindung zwischen Nutzen und sozialer Anerkennung. Der Thymos (eine Kategorie, die im Zusammenhang mit Ökonomie völlig neu ist) wird am besten mit der Frage nach der gesellschaftlichen Anerkennung beschrieben („Mein Verlangen rät mir vielleicht, den Kampfplatz zu verlassen, aber mein Thymos oder Stolz bringt mich dazu, aus Furcht vor Schande standzuhalten“ (S. 168)). Hegel soll diesen Aspekt als „Kampf um (soziale) Anerkennung“ beschrieben haben. Was nutzt es z.B. eine rational richtige Wirtschaftsentscheidung getroffen zu haben, der aber aus Gründen des Thymos die soziale Anerkennung verweigert wird. „Viele gedankenlose Kommentatoren von heute rümpfen die Nase über Platons allzu simple Psychologie, die die Seele in drei Teile zerlegt. Dabei übersehen sie allerdings, dass viele (eigentlich die Mehrzahl der) Denkschulen des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter die Psychoanalyse, der Behaviorismus und der Utilitarismus (und damit die Ökonomie), noch einfacher gestrickt sind.“(S.169) Sie billigen dem Menschen nur eine begehrende Komponente zu und sehen in der Vernunft nur ein instrumentelle Funktion. Der Thymos als dritte wesentliche Kraft im Wesen des Menschen hat es erst gar nicht in die öffentliche Wahrnehmung geschafft.

Das ökonomische Kalkül ist in seiner angeblichen „Eleganz“ (oder einfach: in seiner intellektuellen Schlichtheit) schon bemerkenswert. Alles Handeln erfolgt aus der gleichen Grundlage: aus der Gier. Dabei wird nicht unterschieden, ob das Handeln eines Wall-Street-Bankers oder das Handeln einer Mutter Theresa in Indien beurteilt wird. Beide sollen durch das Handeln ihren Nutzen maximieren. Dabei ist es etwas schwammig ausgedrückt: Der Banker will keine Nutzenanteile kumulieren, er will Geld sehen. Der dezente Hinweis auf seine erfolgreiche Nutzenanhäufung wird ihm nur ein müdes Lächeln abringen können. Konkret heißt das, dass Nutzen in unserem ökonomischen Umfeld gleichbedeutend mit Geld ist. Ob das nun die theoretische Ökonomie Nutzen nennt oder nicht, dürfte ihm völlig gleichgültig sein.

Wenn wir uns aber den Aktivitäten einer Mutter Theresa nähern, und von ihr sagen, dass sie ihren Nutzen maximiert, so träfe das mit großer Wahrscheinlichkeit bei ihr auf wenig Verständnis. Dieser Frau irgendeine Form der Gier zu unterstellen, ist schon ziemlich vermessen, insbesondere als wir Gier in Nutzen und Nutzen dann in Geld umsetzen. Ihr fehlt doch jedes persönliche Streben nach Geld. In seinen Anmerkungen erläutert Fukuyama die Anwendung des Gieraxioms bei Mutter Theresa wie folgt: „Die Nutzeneinheit würde im Fall von Mutter Theresa einer bestimmten Form von psychischer Befriedigung entsprechen“ (Kap. 7, Anmerkung 17). Eine schwachsinnigere Erklärung ist kaum denkbar. Deshalb hat sie Fukuyama auch unkommentiert (mit einem Augenzwinkern) aufgegriffen. Wäre es nicht viel sinnvoller, die Motivation einer Mutter Theresa aus dem Thymos abzuleiten, aus der Freude helfen zu können oder aus der hohen gesellschaftlichen Wertschätzung, die die Frau für ihre Arbeit am Menschen erfährt. Aber so differenziert kann die Ökonomie nicht argumentieren. Sie verlöre ihre „Eleganz“ oder Schlichtheit, gewönne aber an Präzision und Inhalt.

Ähnlich problematisch steht es um die ökonomische Rationalität. Sie hat mit Vernunft bei Gott nichts zu tun. Rationalität im Sinne der Ökonomie ist wie ein Algorithmus zu beurteilen. Der Algorithmus der Rationalität führt in ein geschlossenes Modell, bei dem alle Randbedingungen bekannt sind (alle Alternativen, mit ihren dezidierten Nutzeneinheiten und einer einfachen Zielfunktion). Die Rationalität fußt auf einem Entscheidungsmodell, sie ist aber nicht in der Lage, Vernunft in der Form zu entwickeln, dass reflektiert werden kann, ob der Algorithmus auf die anstehende Problemstellung überhaupt anwendbar ist und ggfs. zu einem sinnvollen Ergebnis führt. Diese Fragestellung kann ökonomische Rationalität nicht beantworten und das will sie auch gar nicht. Sie verlöre dabei ja ihre Eleganz. Dabei kommt die Eleganz aus der formalen Form, aber nicht aus einer vernünftigen Anwendung. Vernunft und Rationalität sind offensichtlich nicht das Gleiche – Rationalität gilt nur unter sehr eingeschränkten Randbedingungen (die oft in der Realität nicht gegeben sind), gilt oft nur kurzfristig und blendet jeden vernunftbetonten Versuch einer längerfristigen Beurteilung der Sachlage aus. Hierfür reicht die Komplexität des Algorithmus i.d.R. nicht aus.

Wenn wir uns schon mit Platons Verständnis vom Menschen beschäftigt haben, so ist es nur ein kurzer Weg zu seinem Schüler Aristoteles. Er unterscheidet zwischen Ökonomik als „das kluge Wirtschaften des Hausverwalters, (der) Ziele und Zwecke gegeneinander abwägt“ (Karl-Heinz Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, Darmstadt, 2000, S. 195) und der „Bereicherungskunde“ (Chremastik) des Kaufmanns. „Für den Kaufmann ist jede Ware ein Mittel, die dem Zweck dient, das Geld zu vermehren. (…) Dieses ‚kaufmännische Kalkül‘ erfährt einen seelischen Niederschlag und prägt einen Charakter, den Max Weber die „Kaufmannsseele“ nennt“ (Brodbeck, S. 195 u. Anmerkung 36).

Wir schenken dem Typus der ‚Kaufmannsseele‘ viel öffentliche Beachtung und manche wollen den sogenannten Erfolgen dieser Menschen nacheifern. Die Ökonomie hat dafür eine einfache Formel gefunden: egal wie niederträchtig die Motive der Handelnden sind, in Summe steigern sie angeblich den Wohlstand (zumindest der Wenigen). Niemand hat bisher diese Aussage verifizieren können, aber sie schwirrt in den Köpfen der „Kaufmannsseelen“ herum und dämpft deren schlechtes Gewissen. Ist es nicht viel schlichter und ehrlicher, wenn wir davon ausgehen, dass positive Beiträge mit hinreichender Sicherheit den Wohlstand aller steigern? Nehmen wir den unfassbar großen Beitrag des Ehrenamtes in und für unsere Gesellschaft. Da ist mit Nutzenmaximierung nichts zu erklären. Es ist ein Amt ohne Geld. Es wäre aber mit dem thymotischen Ansatz Platons sehr gut darstellbar. Das Ehrenamt findet in einer Atmosphäre der Offenheit und der sozialen Anerkennung statt, es macht Freude und es nutzt der Gemeinschaft. Das Ehrenamt  – so könnte man es auch umschreiben – ist die gesellschaftliche Reparaturwerkstätte, in der alle die Widerwärtigkeiten und Schäden aufgefangen werden, die durch die individuelle Gier der „Krämerseelen“ ausgelöst wird. Das Merkwürdige ist, manchmal braucht auch die kranke Kaufmannsseele ein bisschen Ehrenamt, um zum seelischen Gleichgewicht zurück zu finden.

Es gibt Menschen, die tummeln sich in unserem Wirtschaftssystem wie der Fisch im Wasser. Sie haben offensichtlich eine „Kaufmannsseele“ entwickelt. Sie verkörpern die Gier, die unserem Wirtschaftssystem zu Grunde liegt. Der Kaufmann nutzt die Austauschfunktion des Geldes und “missbraucht sie, um mehr Geld zu erwerben“(Brodbeck). Das Gegenstück zur ‚Kaufmannsseele‘ sind jene Menschen in unserer Gesellschaft, denen die Gier zwar vertraut ist, die ihr aber keine entsprechende Bedeutung beimessen können. Meist handelt es sich i.d.R. um Personen, die sehr technik- oder auch sozialbezogen denken und handeln. Ein gutes Beispiel könnte der Arzt sein: als Arzt ist er ein grundsätzlich sozial orientierter Mensch, der sich hoffentlich seinem Hippokratischen Eid verpflichtet fühlt und alles Menschenmögliche veranlasst, um Menschen in Not zu helfen. (Nennen wir das die Sachorientierung) Das medizinische System zwingt diesem Arzt nun eine Verhaltensweise auf, die sich Schritt für Schritt den Ausprägungen einer Krämerseele nähert: er hat sich der ökonomischen Rationalität des Medizin-Systems zu unterwerfen. Es gibt auch Mediziner (der Begriff Arzt ist dann m.E. nicht mehr anwendbar), die es hervorragend verstehen, ihr medizinisches Wissen erfolgreich zu vermarkten. Ihnen fehlt aber i.d.R. jenes ‚Gen‘, das einen guten Arzt auszeichnet. (Sie haben sich von der Sachorientierung zur Geldorientierung entwickelt oder waren immer schon dort) Der Mediziner wird über diesen Vorwurf leicht hinwegsehen können, weil er seine Leistungen an seinem persönlichen Einkommen misst und weniger an seinen ärztlichen Erfolgen. Er hat sich damit für die „Kaufmannsseele“ entschieden. Glücklicher Patient, der an einen echten Arzt gerät!

Fatal ist nicht die Tatsache, dass sich bei den Menschen mindestens diese beiden Strukturtypen von alters her unterscheiden lassen, sondern die Erkenntnis, dass die Geldorientierung (oder sollen wir sagen, die Orientierung an der finanziellen Gier) im Gegensatz zur Sachorientierung unsere Lebensgrundlagen zerstören. Gier nach Geld kennt keine Grenzen, Gier in der Sache mag möglich sein, ist aber immer begrenzt.

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