Digitalisierung und Bürokratie

Mit der Digitalisierung versprechen manche Kreise ein neues Zeitalter, das sie in großartigen Farben schildern. Kritischere Geister sehen eher große soziale Probleme auf uns zukommen, weil die Erwerbsarbeit stark rückläufig sein wird und viele Menschen damit ihre Identität verlieren könnten. Digitalisierung wird bisher aber seltsamerweise nicht mit Bürokratisierung in Verbindung gebracht, obwohl Bürokratie eine Organisationsform ist, die man als Vorläufer der Digitalisierung bezeichnen kann.

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Bürokratie gilt als ein Moloch, der insbesondere vom Liberalismus als Feind der Freiheit angesehen wird. Dabei ist Bürokratie auf keine gesellschaftliche Organisationsform beschränkt. Der Liberalismus war immer schon auf diesem Auge blind und hatte stets nur die öffentliche Bürokratie im Fokus und vernachlässigte die Tatsache, dass Bürokratie in Unternehmen den gleichen Grundsätzen folgen.

Bürokratie gilt als effektiv und effizient, wenn einerseits sichergestellt werden kann, dass sie nur repetitive (sich wiederholende) Aktivitäten entwickeln und wenn zweitens sichergestellt werden kann, dass vor die bürokratische Verarbeitung ein Filter gesetzt wird, der nur solche Problemstellung an die Bürokratie weitergibt, für die in den bürokratischen Strukturen Problemlösungsalternativen geschaffen wurden. Was heißt das? Bürokratie befasst sich primär nur mit ‚wohldefinierten‘ Problemstellungen, d.h. zu den an die Organisation herangetragenen Problemen bestehen klare und relativ einfache Lösungsschritte und die bürokratische Lösung kann als gültig und abschließend betrachtet werden. Treffen ‚schlechtdefinierte‘ Problemstellungen, deren Lösung neue Vorgehensweisen verlangen (kurz: kreative Lösungswege) auf die bürokratischen Strukturen, dann ist Bürokratie regelmäßig überfordert und die Effektivität und Effizienz dieser Strukturen werden erheblich beeinträchtigt oder sogar aufgehoben.

Beispiel: „Sie haben ein technisches Problem und suchen Hilfe beim Hersteller. Sie rufen an und sie finden Kontakt zu dem oben angeführten Filter: Er fragt sie nach dem Produkt (dann wählen sie die Eins), oder nach dem Service (dann wählen sie die Zwei) u.s.w…. Dann erst kommen sie mit ihrem auf diese Weise vorstrukturierten Problem zum Callcenter und dürfen ihr Problem schildern (sie hoffen dabei, dass in der Schulung des Callcenters ihr Problem besprochen wurde und die Person sich auch daran erinnert). Wenn sie die ‚richtige‘ Frage gestellt haben, erhalten sie eine Standardantwort (das bürokratische System wurde ‚richtig‘ in Anspruch genommen), im anderen Fall beginnt der „Buchbinder Wanninger“ – sie werden von A nach B, von B nach C usw. verbunden und geben irgendwas entnervt auf. Dann wird ihr Vorurteil, dass Bürokratie Mist ist, wieder einmal bestätigt.“

Übertragen wir ‚Bürokratie‘ in die digitale Sprache: Das, was Bürokratie effektiv und effizient macht, ist ein Algorithmus, der in diesem Fall nicht elektronisch arbeitet, sondern mit Menschen, die arbeitsteilig den Arbeitsplan (den Algorithmus) abarbeiten, um zur gewünschten Lösung zu kommen. Die Algorithmen der Bürokratie sind einfacher gestrickt als jene im digitalen Umfeld, aber die Grundproblematik ist die gleiche. Das zu lösende Problem muss in allen Lösungswegen durchdacht werden, um diese Wege dann auch in einem sinnvollen Algorithmus ausdrücken zu können. Lösungswege, die der Schöpfer des neuen Algorithmus nicht erkennt, werden künftig auch nicht existieren. Algorithmen sind – vergleichbar mit der Bürokratie – effektiv und effizient, wenn Problemstellung und Algorithmus zusammenpassen. Wählt der „Filter“ (die Organisationsspitze) einen Algorithmus, der nicht zum Problem passt, kann man nicht erwarten, dass ein sinnvolles Ergebnis entsteht. Es ist nicht auszuschließen, dass die gegenwärtigen und künftigen Algorithmen komplexere Strukturen zulassen als wir sie von der gegenwärtigen Bürokratie erwarten können. Wir müssen uns aber darüber klar werden, dass der prozessuale Unterschied zwischen Algorithmus und Bürokratie minimal ist.

Wenn also Bürokratie als eine Form der Organisation verstanden wird, bietet sie sowohl im öffentlichen als auch im privaten Rahmen lt. Max Weber unter gewissen Einschränkungen eine lange Reihe von Vorteilen. Von den liberalen Denkern wird diese Organisationsform vehement abgelehnt und als Alternative oder sogar im Gegensatz zur Gewinnorientierung gesehen. Dabei wird nicht das Organisationsprinzip verteufelt, sondern die Tatsache, dass Bürokratie auch ohne Gewinnorientierung funktioniert. Erst die Einführung der Gewinnorientierung macht aus liberaler Sicht aus der Bürokratie eine ‚gute‘ Bürokratie, weil es mit Hilfe des Gewinnstrebens möglich sei, Führung und Verantwortung zu dezentralisieren. Diese Fähigkeit wird der Bürokratie der öffentlichen Hand mangels Gewinnstrebens abgesprochen.

Man bemüht sich deshalb im öffentlichen Bereich um Entbürokratisierung und setzt dabei seltsamer Weise auf die Digitalisierung! Nach meiner These ist Digitalisierung nur ein anderes Wort für Bürokratisierung, weil sowohl die Bürokratie als auch die Digitalisierung auf die gleichen Instrumente zurückgreifen. Es ist in beiden Fällen das Instrument des Algorithmus. Auf dem Wege von der Bürokratie zur Digitalisierung muss durch die massive Eliminierung des Menschen aus dem algorithmischen Prozess die Stringenz der künftigen digitalen Algorithmen deutlich höher liegen als vorher. Der Mensch in bürokratischen Strukturen hatte immer noch auf jeder Hierarchiestufe eine gewisse Bandbreite des Handelns, um eventuelle Defizite des bürokratischen Algorithmus ausgleichen. Dem digitalen Algorithmus wird dieses Korrektiv fehlen. Deshalb müssen in der Digitalisierung die Regelungsvorgänge umso differenzierter gefasst werden, um Fehlentwicklungen zu vermeiden. Digitale Bürokratie wird also um ein Vielfaches enger und „bürokratischer“ und damit machtvoller sein, als das alte Bürokratie-Modell. Im alten Modell konnte man an die Vernunft der diversen Akteure in dem Prozess appellieren. Im digitalen Prozess wird man diese Akteure einfach nicht mehr finden.

Diese Auffassung hat zur Folge, dass mit fortschreitender Digitalisierung ein Effekt der zunehmenden Bürokratisierung aller Prozesse nicht zu vermeiden ist. Ob wir das wollen, hängt von uns hier und heute ab. Späterer Protest wird wenig politische Resonanz finden können.

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