Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist das englische Buch aus 2020 mit dem Titel: „The Art of Fairness. The Power of Decency in a World Turned Mean1“ Der Titel lässt sich etwa wie folgt übersetzen: „Die Kunst der Fairness. Die Kraft des Anstands in einer armseligen (oder gemein gewordenen) Welt“.
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Das ist ein vielversprechender Titel und die Erwartungen sind entsprechend hoch, weil u.a. das Wort „Anstand“ in der deutschen Sprache aus einer Welt zu stammen scheint, von der wir meinen, sie schon lange hinter uns gelassen zu haben.
Wer nun glaubt, eine Analyse der Zusammenhänge vorzufinden, wird enttäuscht. Der Autor präsentiert eine Reihe von Fallstudien über Personen, die nach Auffassung des Autors in schwierigen Situationen Fairness bzw. Anstand oder Haltung zeigten bzw. so etwas wie Anstand verwirklicht haben. Nach jeder oft spannenden Beschreibung einer Fallstudie werden ein paar Sätze verwendet, um kurz, aber m.E. unzureichend zu kommentieren2.
Ich sehe mich nicht im Stande, die erwartete Analyse zu liefern. Aber ein paar Gedanken dazu wären vielleicht zulässig und hilfreich. In dem Titel des Buches stecken mindestens drei Gesichtspunkte, zu denen ich ein paar grundsätzliche Ausführungen erwartet hätte:
- Welches Konzept von Fairness ist hier gemeint? Wenn von ‚Kunst‘ die Rede ist, geht es weniger um eine Theorie, sondern um die Umsetzung eines Konzeptes.
- Was ist Anstand? Warum wirkt der Begriff im deutschen Sprachgebrauch so aus der Zeit gefallen?
- Und letztlich geht es um die Frage nach dem Grund für die Wahrnehmung einer ‚armseligen‘ (oder gar ‚bösen“) Welt, wobei (indirekt) der Eindruck vermittelt wird, sie sei früher besser gewesen?
Es ist nicht auszuschließen, dass der Verlag bei der Titelvergabe ein Wort mitgesprochen hat, um eine schlichte Ausarbeitung marktfähiger (= reißerischer) zu machen. Anhand der von mir formulierten Erwartungen aufgrund des Titels halte ich diese Auffassung für nicht ganz abwegig.
Es beginnt schon damit, dass ‚Fairness‘ und ‚Decency‘ in ihrer Bedeutung eine gemeinsame Schnittmenge haben. Dabei kommt Fairness als Synonym für Anständigkeit, Zuverlässigkeit aus dem Umfeld der Gerechtigkeit und Decency, verstanden als Anstand, Schicklichkeit, Ehrbarkeit aus dem Bereich des sozialen Umgangs. Decency erscheint mir dabei der ältere Begriff zu sein und er korrespondiert mit dem deutschen Wort ‚dezent‘ als Synonym für unaufdringlich, zurückhaltend, schicklich.
Der Sozialphilosoph John Rawls hat seine Sicht auf die Gerechtigkeit gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf einem Begriff der Fairness aufgebaut. Er versucht dabei die Gerechtigkeit, die traditionell auf einer metaphysischen Grundlage aufbaut, durch einen politischen Ansatz zu ergänzen und nutzt hierfür den Begriff der Fairness.
Ein Beitrag im Internet fasst einen uralten Grundsatz als Ausdruck von Fairness wie folgt zusammen:
„Verhalte Dich zu anderen und Dir selbst gegenüber so, wie Du willst, dass Andere mit Dir umgehen, wenn Du auf das Wohlwollen anderer angewiesen bist!“
Die Aussage, insbesondere des letzten Halbsatzes erscheint mir kritisch – Fairness sollte m.E. zweckfrei sein, sonst wirkt die Aussage sehr utilitaristisch – warum muss Fairness mit einem Nutzen verbunden werden?!
Fairness wird auch mit Anständigkeit und Zuverlässigkeit in Verbindung gebracht. In der Wirtschaft wird der Begriff „true and fair“ verwendet, um eine zuverlässige Aussage zu beschreiben. Der ältere Begriff der ‚Decency‘ wird eher mit Anstand und Ehrbarkeit in Verbindung gebracht. Die Diskrepanz wird vielleicht deutlich, wenn man darauf hinweist, dass es noch in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland ein dickes Standardwerk mit dem Titel „Der ehrbare Kaufmann“ gab, das als sogenannter Bestseller weit verbreitet war. Heute verbinden wir Management i.d.R. nicht mehr mit Ehrbarkeit, eher mit „Cleverness“ und mit dem alles dominierenden Rentabilitätsanspruch.
Damit wird auch verständlicher, warum im Titel die Fairness als „Eyecatcher“ auftaucht und der Begriff von Anstand und Ehrbarkeit (Decency) in der Folge mit dem Begriff einer ins Negative gedrehten Welt in Verbindung gebracht wird. Der Autor will damit vielleicht zum Ausdruck bringen, dass wir als Gesellschaft etwas Wesentliches verloren haben: unsere Ehrbarkeit!
Und das klingt wie aus der Zeit gefallen – der Thymos, eine Haltung der alten Griechen, kannte diese ihnen wesentliche Eigenschaft als Ehre und Stolz, die nicht nur Vorteile aufzuweisen hat. Wir haben uns vom oft engen Thymos Schritt für Schritt befreit, weil die Zeiten sich verändert haben. Aber, so scheint es mir, wir haben als Gesellschaft keinen angemessenen Ersatz gefunden.
Mit der Aufgabe der Ehrbarkeit als verbindendem Moment haben wir gezielt jeden moralischen Anspruch an das Management aufgegeben. Viele Wirtschaftswissenschaftler haben sich insbesondere in den 1970er Jahren gerühmt, wertfreie Wissenschaft zu betreiben. Wirtschaftswissenschaft sei wie die Naturgesetze frei von moralischer Wertung. Je mehr wir über den Klimawandel erfahren, desto klarer wird es, dass diese Haltung eine verhängnisvolle Täuschung darstellt.
Wir können viele unserer Herausforderungen deshalb nicht angemessen wahrnehmen, weil wir über keinen allgemein akzeptierten moralischen Anspruch verfügen, eher glaubt jeder, dass er eine ‚Insel der Freiheit‘ darstellt und damit scheitern oft gemeinsame Aktionen an den Egoismen und Narzissmen der Beteiligten. Der alte Grundsatz der Mäßigung, den die Griechen uns vor zweieinhalb tausend Jahren ans Herz gelegt haben und den die Theologie über das Mittelalter weiterführte, ist heute nicht mehr darstellbar – Mäßigung wird immer unter der Perspektive eines Verzichtes gesehen und Verzicht wird als Einschränkung verstanden statt in dem Verzicht auch eine große Befreiung3 erkennen zu können.
Die Ideologisierung des Konsums als wesentliches Treibmittel unseres Wirtschaftssystems hat dazu geführt, dass wir jedes menschliche Maß verloren haben. Mäßigung ist eine Frage der persönlichen Charakterbildung. Sie hat etwas zu tun mit unserer Einstellung zum Leben und steht im Gegensatz zum „Schneller, Weiter und Höher“ unseres Wirtschaftssystems. Das Wirtschaftssystem schießt deshalb aus allen Rohren gegen die Breitenwirkung dieser persönlichen Charakterbildung mit der schlichten Begründung, dass diese Haltung in erster Linie den Profit der Unternehmen reduzieren und als Folge das Wirtschaftssystem in Frage stellen könnte.
Die EU plant nun Werbe-Aussagen zukünftig nur dann zuzulassen, wenn deren Aussagen durch angemessene Studien belegt werden können. Mit anderen Worten, die EU will den heute ‚legalen Betrug4‘ durch gefakte Informationen (radikal) eindämmen. Hier käme eine moralische Kategorie der Wahrhaftigkeit zum Tragen, die wir schon vor Jahrzehnten auf dem Altar der Ökonomie geopfert haben. Aber achten Sie auf die Reaktion der Unternehmen! Abgesehen, dass die Werbe- und Marketingindustrie absehbar in Schwierigkeiten kommen könnte, bekämpft die Wirtschaft dieses Vorhaben verdeckt (es soll ja keiner merken) mit allen ihr verfügbaren Mitteln. Das ist in höchstem Maße unfair, es ist also nach allem, was wir bisher entwickelt haben, unanständig! In Grenzen ist das Verhalten vielleicht nachvollziehbar, aber kann es sein, dass große Teile unseres Wirtschaftssystem von der ‚Lüge‘ lebt? Die EU ist nun aufgewacht und hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es so nicht weitergehen kann. Die Reaktion der Wirtschaft zeigt deutlich, dass sie sich bewusst ist, dass offensichtlich wesentliche Teile ihres Umsatzes auf vorsätzlich gefälschten Informationen beruhen, anders kann man sich die Aufregung, die das EU-Vorhaben auslöst, nicht erklären.
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1Bodanis, David, The Art of Fairness, The Power of Decency in a World Turned Mean, Great Britain, 2020
2Erst am Ende des Buches unter „Reading and Reflections“ gibt der Autor Hinweise auf weiterführende Literatur.
3Vgl. Niko Paech, Befreiung vom Überfluss, München 2012 oder Manfred Folkers, Niko Paech, All you need is less, München 2020
4John Kenneth Galbraith, Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs, Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft, München, 2005
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