Die große Transformation

Kenner der Materie fühlen sich bei der Überschrift an Karl Polanyi und sein 1944 erschienenes Buch „The Great Transformation“ erinnert. Darin beschreibt und begründet er in Teilen die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft von einem Agrarstaat des 17. Jahrhunderts in einen Industriestaat. Polanyi ist dabei aus meiner Sicht einer der wenigen und ersten Wirtschaftsfachleute, die sich mit der Dynamik der wirtschaftlichen Veränderung als solche beschäftigen.

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Wirtschaft ist ein sozialer Prozess und keine Naturwissenschaft. Letztere kann von uns verstanden und genutzt werden. Ökonomie ist dagegen stets im Fluss, weil die Menschen Teil des Prozesses sind und ihn dauernd verändern. Dass die Ökonomie das oft nicht merkt, liegt an ihrer selbstgeschaffenen Blindheit.

Große makroskopische Entwürfe gibt es generell nicht viele. Der Soziologe Amitai Etzioni hat auf seinem Gebiet Ende der 1960iger Jahre einen spannenden Entwurf abgeliefert (The Active Society, 1968), der lange die Diskussionen beschäftigt hat. In jüngerer Zeit hat der Franzose Thomas Piketty mit seinen Ausführungen zum „Kapital des 21. Jahrhunderts“ (2014) und insbesondere auch in „Kapital und Ideologie“ (2020) u.a. die Analyse von Polanyi aufgegriffen, erweitert und verfeinert. Wo Polanyi schon schonungslos die kapitalistische Ideologie aufgedeckt, führt Piketty nüchtern den Diskurs historisch abgesichert fort. Alle diese Werke beschäftigen sich mit der Beschreibung der Herkunft unserer aktuellen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Dem Philosophen Odo Marquard wird die Aussage zugeschrieben: „Zukunft braucht Herkunft“. Dabei greift der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Gutachten über die Entwicklungslinien unserer „gemeinsamen digitalen Zukunft“ (2019) zur Nachhaltigkeit den Begriff einer (großen) Transformation auf. Ohne jedoch die möglichst ideologiefreie Erkenntnis unserer Herkunft droht die Beschreibung möglicher Transformationsschritte in eine nachhaltige Zukunft zu scheitern. Und hier ist hinsichtlich unseres Verständnisses unserer ökonomischen „Herkunft“ noch viel Ideologie abzulegen, bevor wir zum Kern der Entwicklung, zu einer wirtschaftlichen Nachhaltigkeit, vorstoßen können.

Unser heutiges Wirtschaftssystem weist in vielen Aspekten die Eigenschaften einer Religion auf. Die Mehrzahl der Glaubenssätze unseres aktuellen Wirtschaftssystems baut auf mangelnder Differenzierung und nie nachgewiesenen Behauptungen auf. Zudem schafft die soziale Basis unserer Wirtschaft einen self-fulfilling circle, indem, anders als in den Naturwissenschaften, wir in der Lage sind, das Wirtschaftssystem selbst zu schaffen, die Teilnehmer sich wechselseitig beeinflussen und ggfs. auch indoktrinieren, um das System zur gewünschten Wirksamkeit zu bringen. Viele Ökonomen werden jetzt die Backen aufblasen, um dadurch ihren Widerspruch zum Ausdruck zu bringen und möglicherweise auf die sogenannten „Gesetze“ der Ökonomie verweisen (deren empirische Relevanz bisher in keiner Weise nachgewiesen werden konnte).

Ein einfaches Gedankenexperiment könnte es deutlich machen: Denken Sie sich die Welt für ein paar Augenblicke ohne „homo sapiens“, dann wird klar, dem Planeten würde ohne Menschen nichts fehlen, er würde sich fortentwickeln als ob nichts geschehen wäre. Die Natur“wissenschaft“ wäre zwar nicht vorhanden, weil es keinen Menschen gibt, der sich über das Zusammenspiel der Dinge Gedanken machen könnte. Eine Wirtschaft in unserem Sinne gäbe es aber garantiert nicht. Wer sollte denn auch Gewinne maximieren und intensiv Wettbewerb betreiben – die Mücken und die Käfer, oder der Fuchs und der Hase? Wofür und zu welchem Zweck?

Dem Gesichtspunkt des Haushaltens und der Vorsorge folgt die Natur partiell, aber ein Wirtschaften über die Versorgung hinaus ist dem System der Natur fremd. Folglich kommt das System Wirtschaft ausschließlich über den Menschen in unsere Welt. Wie kann dieses System jemals „Gesetze“ entwickeln, die jenen der Natur auch nur annähernd vergleichbar sind? Die Naturgesetze haben sich über Jahrmillionen durch Versuch und Irrtum herauskristallisiert und unsere heutige Form des Wirtschaftens schaut auf schlappe 250 Jahre zurück und wir müssen betroffen feststellen, dass wir so nicht weitermachen können, ohne unsere Lebensgrundlage und unsere Spezies ernsthaft zu gefährden. „Business as usual“ ist keine Option!

Wir neigen dazu, zu glauben, dass es eine Technologie geben wird, die unser Wirtschaftssystem, das M. Göpel (Unsere Welt neu denken, 2020) sehr bildhaft als ein (lineares) Förderband beschreibt, auf dem die Ressourcen aufgepackt werden, zu Gütern verarbeitet, diese meist kurzfristig genutzt, um dann am Ende des Förderbandes auf den Müll geworfen zu werden. Wenn nun die Ressourcen uns vom Beginn des Prozesses her keine Grenzen auferlegen würden, hätten wir immer noch das Problem, dass wir bei dieser Lebens- und Produktionsweise im Müll „ersaufen“. Wir haben zwar aus dem Müll ein Wahnsinnsgeschäft gemacht, aber der Wahnsinn verwaltet den Müll, kann ihn auch exportieren, aber ist nicht dazu fähig, ihn so zu behandeln, dass er nach einer absehbaren Erholungsphase wieder als verwendungsfähige Ressource am Anfang des besagten Förderbandes zur Verfügung steht. Stattdessen wird der größte Teil des Mülls einfach verbrannt und bläst all das darin gebundene CO2 in die Atmosphäre oder er landet in Flüssen, Meeren oder über ein „ausgeklügeltes“ Exportsystem in weit entfernten Ecken unseres Planeten und schafft das überall gegenwärtige „berühmte“ Mikroplastik.

Vor diesem Hintergrund hält der WBGU (der wissenschaftliche Beirat) das Ziel einer Transformation zur Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftssystems nur in Form einer Kreislaufwirtschaft für möglich. Dabei tun sich Fragen auf, mit denen sich die Volkswirtschaftslehre – soweit ich das überblicke – noch nie beschäftigt hat: Volkswirtschaft ist nicht mehr reduziert auf die Beachtung des Bruttoinlandsprodukts (als Maß des Wachstums), des Konsums, der Geldströme, der Einkommens- und Vermögensverteilung und anderer scheinbar wichtiger Größen, sondern muss sich plötzlich fragen lassen, wie denn auf sinnvolle Weise eine Transformation eines kompletten Wirtschaftssystems (das sich dem linearen neoliberalen Gedankengut verpflichtet fühlt) mittelfristig in eine Kreislaufwirtschaft umgeformt werden kann (und das nicht in hundert oder tausend Jahren , sondern in einem deutlich kürzeren Zeitraum). Das Erfreuliche ist daran, dass eine Reihe von Nicht-Ökonomen an diesem Gutachten mitgearbeitet haben; das merkt man daran, dass plötzlich neue Perspektiven ins politische Spiel kommen, obwohl der Gedanke einer Kreislaufwirtschaft nun wirklich nichts Neues ist.

Neu ist auch die sinnvolle Einbeziehung der Digitalisierung. Einerseits als Unterstützungsfaktor auf manchen Gebieten bei der Transformation als auch als Problemstellung, wieviel Digitalisierung tut uns Menschen und unserer Freiheit gut. Dabei müssen wir als Bürger aufpassen, dass die Digitalisierung nicht unter dem Aspekt der neuen Chancen des „Geldmachens“ und der Machtausübung zu einer Beschneidung unserer Vorstellungen von Freiheit wird.

Die von dem WBGU vorgeschlagene Transformation macht deutlich, dass das Vorhaben das Ende des Neoliberalismus einläuten wird. Der angestrebte Prozess, den alle Beteiligten erstmals bewusst durchlaufen werden, kann nicht von der simplen eindimensionalen Idee des „Höher, Schneller, Weiter“ getragen werden, weil wir eine fatale Fehlentwicklung unserer Gesellschaft korrigieren müssen, die mit einem schlichten „weiter so“ nicht erzielbar ist. Viele werden befürchten, dass die Veränderung der Prozesse mit einem Verzicht verbunden sein wird. Der Corona-Lockdown hat uns zumindest in Teilen der Bevölkerung gelehrt, dass ein bewusstes „Weniger“ nicht notwendigerweise einen Verzicht, sondern durch einen sinnvollen Prioritätenwechsel eine schlichte durchaus positive Veränderung darstellt. Plötzlich eröffnet dieser Prioritätenwechsel eine tiefe Befreiung von komplett Überflüssigem (Niko Paech).

Die angestrebte Transformation hat keine Vorbilder. Der Vorgang ist vergleichbar mit dem Auftreten der Pandemie. Wir wissen eine ganze Menge, aber der Prozess ist neu und ohne Beispiel in der Geschichte. Insbesondere der Umbau der Wirtschaftsstrukturen wird mangels Erfahrung und jahrelanger ökonomischer Blindheit gegenüber dieser Frage ein spannender Prozess. Die Ökonomie glaubte sich mit Markt, Wettbewerb und einem unbedingten Gewinnstreben als Teil ihres quasi-religiösen Glaubensbekenntnisses am Ende der Geschichte in der Erwartung, dass ihre „Götter“ unsterblich sind. Die angestrebte Transformation kommt einer ökonomischen „Götterdämmerung“ recht nahe. Aber sie ist unsere einzige reale Chance!

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